Geister sind unser Geschäft

Haralds Detektiv-Regeln

  1. Gib niemals den Hut ab!

  2. Ein Detektiv darf nicht die Fassung verlieren, und wenn er sie doch verliert, muss er so tun, als hätte er sie noch.

  3. Hinterlasse bei den Ermittlungen keine Fingerabdrücke.

  4. Jeder ist verdächtig.

  5. Alles ist wichtig, bevor es sich als unwichtig herausgestellt hat.

  6. Ein Detektiv sollte stets eine Wäscheklammer mit sich führen, denn er muss seine Nase unter Umständen in übel riechende Angelegenheiten stecken.

  7. Liste die bekannten Fakten stets schriftlich auf.

  8. Streitlust und Rechthaberei sind im Umgang mit Zeugen selten zielführend.

  9. Lege dich niemals mit der Polizei an!

  10. Ein Detektiv kann nicht immer feinfühlig sein. Er muss jede Ermittlungs-Chance wahrnehmen.

  11. Ermittle stets allein. Oder mit vertrauenswürdigen Partnern. Und Partnerinnen.

  12. Pizza fördert die Kombinationsgabe.

  13. Einem echten Detektiv ist nichts peinlich. Er tut, was die Ermitt-lungen erfordern, ohne Rücksicht auf sein persönliches Befinden.

  14. Frühstücke stets ausgiebig, denn die Ermittlungen lassen dir vielleicht keine Zeit für weitere Mahlzeiten.

  15. Ein Detektiv fürchtet nichts und niemanden.

  16. Sei ein Chamäleon. Passe dich deiner Umgebung an, das ist die beste Tarnung.

  17. Ein Detektiv handelt niemals ungesetzlich. Außer, die Umstände erfordern es.

  18. Auch das Offensichtliche darf man nicht aus den Augen verlieren.

  19. Ziehe keine voreiligen Schlüsse.

  20. Ein kluger Detektiv weiß, wann er die Klappe halten muss.

  21. Ein Detektiv kümmert sich nicht um die Vergangenheit, sondern schaut stets nach vorn.

  22. Vergewissere dich vor Aufnahme der Ermittlungen, ob die Opfer des Verbrechens zuerst Hilfe benötigen.

  23. Ein Detektiv kommt niemals zu spät.

  24. Um erfolgreich zu ermitteln, muss ein Detektiv die eigenen Vorlieben zurückstellen können.

  25. Sei dem Täter stets eine Nasenlänge voraus.

  26. Beweismittel sind nicht zum Verzehr bestimmt.

  27. Ein Detektiv gibt sich nicht mit übernatürlichen Erklärungen zufrieden.

  28. Formuliere deine Fragen so, dass sie die Antwort der Zeugen möglichst wenig beeinflussen.

  29. Ein guter Detektiv erkennt, wann er mit seinem Latein am Ende ist.

  30. Ein Detektiv macht selten Fehler. Aber wenn doch, muss er sie eingestehen können.

In dem ich dem Hilferuf einer Dame in Not folge, einen neuen Fall wittere und vergesse, den Müll mit rauszunehmen.

Es war ein Tag wie Aalsuppe: feucht, trüb und voller unangenehmer Überraschungen. Seit Tagen hatte es nicht aufgehört zu regnen. Ich saß in meiner langweiligen Detektei, lauschte dem langweiligen Prasseln der Tropfen und tippte gelangweilt auf meiner Schreibmaschine. Dabei behielt ich die Uhr im Blick. Meine Kollegin Trix Dobbsen hatte sich mit dem 15-Uhr-Zug aus Humbug angekündigt, um mit mir und unserer Partnerin Wiebke Jansen meinen heutigen Geburtstag zu feiern. Ich freute mich schon darauf, bei Kuchen und Kakao in den Erinnerungen an unseren letzten Fall zu schwelgen. Das verstieß zwar gegen meine Detektiv-Regel Nummer 21: Ein Detektiv kümmert sich nicht um die Vergangenheit, sondern schaut stets nach vorn, aber zurzeit war leider kein neuer Fall in Sicht, egal, wie scharf ich auch nach vorne schaute.

Ein energisches Klopfen setzte meinen Überlegungen ein jähes Ende. Ich horchte auf. Stand da etwa ein Fall vor der Tür?

»Ja bitte?«, rief ich mit fester Stimme.

Doch es war nur meine Sekretärin. Auf der linken Hand balancierte sie eine Kuchenplatte mit einem saftigen Zitronenkuchen. Den schneeweißen Zuckerguss zierte ein Detektivhut aus braunem Marzipan.

Ich kombinierte: Sie wollte ihrem hart arbeitenden Chef zum Geburtstag eine Freude bereiten. Gerührt zwinkerte ich ihr zu. »Du verwöhnst mich, Schätzchen!«

 

Ihre wohlgeformte rechte Augenbraue hob sich so weit nach oben, dass sie an der Deckenlampe hängen zu bleiben drohte.

»Ich hab mich wohl verhört! Schätzchen

»Äh, Oma meine ich natürlich.«

Ihre Augenbraue entspannte sich, nur um einen Moment später wieder hochzuschnellen.

»Was tippst du denn da schon wieder für einen Quatsch auf der Schreibmaschine zusammen, Harald? Wisch lieber den Tisch ab, damit ihr hier nachher anständig Geburtstag feiern

Ich sah mich um. »Äh … nein.«

»Eben. Du kannst die alten Küchenstühle nehmen, die in dem kleinen Kellerraum nebenan stehen. Und denk dran, dass du um drei Trix vom Bahnhof abholen musst. Am besten nimmst du dann gleich den Müll mit raus, nä?«

»Alles klar, Oma.«

Sie setzte den Kuchen auf meinem Schreibtisch ab. »Euren Kakao stelle ich in den Kühlschrank. Ich bin dann mal oben, nä?«

»Ist gut, Oma!«

Okay, okay, okay, ich gebe es zu: Ich hatte natürlich keine Sekretärin. Meine Detektei bestand noch immer bloß aus ein paar alten Möbeln in unserem Keller. Aber wenigstens sagte mir meine Großmutter nicht mehr täglich, dass ich den »blöden Hut« abnehmen sollte. Und sie drohte auch nicht mehr ständig damit, meine Detektei zu schließen. Nur, wenn ich mal wieder eine Fünf in Mathe mit nach Hause brachte.

Als sie weg war, holte ich die beiden alten Stühle und stellte sie in meine Detektei. Dann setzte ich mich wieder an meine Schreibmaschine und tippte: langweilig, langweilig, langweilig …

»Iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiieh! Was ist denn das? Harald!«

Ich sprang auf und stürmte in die Küche.

Dort stand meine Großmutter – blass wie ein verschreckter Käsekuchen. »Harald, das … das … das Wasser …«, stammelte sie und zeigte auf den Wasserhahn.

Hätte ich meinen Hut aufgehabt, wäre er mir bei diesem Anblick vor Überraschung hochgegangen: Aus dem Hahn lief grellgrünes Wasser! Es war so penetrant neonfarben, dass es beinahe zu leuchten schien. Vorsichtig näherte ich mich der Spüle.

»Achtung, das Wasser ist sicher giftig!«, rief meine Großmutter.

Ich holte unter der Spüle die gelben Putzhandschuhe hervor und zog sie über. Dann hielt ich meinen Zeigefinger unter den Wasserstrahl, führte die Hand zur Nase und schnupperte. Das grüne Wasser, das aus dem Hahn lief, roch nach – Hähnchen! Schnell drehte ich den Wasserhahn zu.

»Verstehst du das, Harald?« Meine Oma zitterte. »Wieso ist denn das Wasser plötzlich grün?«

Darauf hatte ich leider auch keine Antwort. In meinem Kopf befanden sich nur Fragen: Waren wir der einzige Haushalt, bei dem grünes Wasser mit einem seltsamen Geruch aus der

»Kann ich dich einen Moment alleine lassen?«, fragte ich meine Großmutter. Meine Detektiv-Regel Nummer 22 lautet nämlich: Vergewissere dich vor Aufnahme der Ermittlungen, ob die Opfer des Verbrechens zuerst Hilfe benötigen.

Meine Großmutter wischte sich einige Schweißperlen von der Stirn. »Mit mir ist alles in Ordnung, glaub ich.«

»Super, bis gleich!« Ich rannte hinunter in meine Detektei, platzierte meinen Hut auf dem Kopf, zog den Mantel an, steckte meinen Notizblock und mein Mobiltelefon in die Tasche und sprang die Treppe hoch. Auf dem Weg zurück in die Küche schaute ich im Badezimmer vorbei und kontrollierte das Wasser am Waschbecken und in der Dusche. Es war genau wie in der Küche – Farbe: Grün, Aroma: Hähnchen. Mit meinem Telefon machte ich ein kurzes Video davon, wie das grüne Nass aus Hahn und Brause lief. Zur Beweissicherung.

Zurück in der Küche, drehte ich den Wasserhahn an der Spüle wieder auf. Das Wasser hatte die gleiche grüne Färbung wie vorhin und roch jetzt noch stärker nach Hähnchen. Auch hier machte ich eine kurze Filmaufnahme.

Die Standuhr schlug.

»Nee, nee, nee, nee«, jammerte meine Großmutter, »schon halb drei. In eineinhalb Stunden ist Onkel Freddie da, um mich

»Doch, Oma, kannst du«, versicherte ich ihr mit beruhigend tiefer Stimme. »Verbring mal schön die Osterfeiertage mit Onkel Freddie. Außerdem sind Trix und ich ja nicht allein. Heute Abend kommt schließlich Magnus.« Sie hatte extra meinen großen Bruder aus Humbug herbestellt, damit er auf Trix und mich aufpassen konnte. Das war natürlich vollkommen unnötig.

Meine Großmutter seufzte. »Na gut. Und am Ostermontag bin ich ja schon wieder da.«

»So ist es«, stimmte ich ihr zu. »Es besteht also überhaupt kein Grund zur Sorge.« Schnell drückte ich ihr einen Kuss auf die Wange. »Gute Reise und viel Spaß, Oma.«

»Danke, Harald, aber …«

»Ich muss jetzt dringend los zum Bahnhof. Perfekt, dass Trix gerade heute kommt.«

Meine Oma seufzte noch mal. »Harald, das ist bestimmt kein …«

Mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit ging dieser Satz mit »… Fall für euch« weiter, aber ganz genau weiß ich es nicht.

Denn ich war längst draußen, unterwegs im Ruckelnser Regen, mit einer Mission: das Rätsel des grünen Wassers aufzuklären.

In dem ich eine Zeugenbefragung per Fahrrad mache, keine Katze geschenkt bekomme und zwei unterschiedliche Zwillinge kennenlerne.

Meine Detektiv-Regel Nummer 23 lautet: Ein Detektiv kommt niemals zu spät. Also schwang ich mich auf mein Fahrrad und trat ordentlich in die Pedale. Wie so oft hatte ich Gegenwind. Aber immerhin wurde der Regen schwächer und hörte irgendwann ganz auf.

Unterwegs sah ich mich nach Passanten um, die ich nach der Farbe ihres Leitungswassers befragen konnte. Als Erste entdeckte ich Frau Hinnerksen, die beste Freundin meiner Großmutter. Sie schloss gerade das Tor ihres Vorgartens hinter sich und stieg auf ihr Rad.

»Moin, Frau Hinnerksen«, rief ich ihr zu, »kommt bei Ihnen zufällig grünes Wasser aus dem Hahn?«

»Genau, Harald, giftgrünes!« Frau Hinnerksen winkte mir fröhlich zu. Sie liebte Sensationen jeder Art. »Und es riecht nach Hähnchen! Nebenan in Frau Sörensens Apotheke ist aber alles normal.«

»Ja, Harald, ist das nicht seltsam? Ich fahre jetzt gleich mal ins Rathaus zu Frau Schuhpisser, um mich über das grüne Wasser zu beschweren. Als Bürgermeisterin ist sie dafür ja wohl zuständig, nä? Und anschließend sage ich Frau Jansen wegen ihrer Schafe Bescheid. Das ist ja auch richtig schlimm, nä? Tschüs, Harald!«

»Was ist denn mit Jansens Schafen?«, hakte ich nach, doch Frau Hinnerksen war schon davongefahren und hörte mich nicht mehr.

Während ich weiterradelte, dachte ich über die neuesten Entwicklungen nach. Wenn auch bei Frau Hinnerksen grünes Hähnchenwasser aus der Leitung kam, waren vermutlich noch mehr Haushalte betroffen. Aber warum war nebenan bei Frau Sörensen das Wasser nicht grün? Zu den beiden Gebäuden führte sicherlich eine gemeinsame Wasserleitung. Wenn Frau Hinnerksen grünes Wasser hatte, Frau Sörensen aber nicht, musste der Grund direkt in der Zuleitung zu Frau Hinnerksens Haus liegen.

Und zu unserem eigenen auch.

Um ein Bild von der Verbreitung des grünen Wassers zu bekommen, rief ich beim Fahren allen Passanten zu: »Moin, ist bei Ihnen das Wasser grün?«

Circa die Hälfte der Leute antwortete mit »Ja«, die andere

Als ich schließlich den Bahnhof erreichte, war ich heiser und vollkommen außer Atem. Ich hatte mich so beeilt, dass ich fünf Minuten zu früh war. Also nutzte ich die Zeit, um meine Umfrage auszuwerten. Ich holte mein Mobiltelefon aus der Manteltasche. »Trix«, sprach ich hinein, »markiere folgende Adressen.«

»In-Ordnung-Harald«, antwortete aus meinem Telefon eine Stimme, die sehr nach Trix klang.

Ich lachte zufrieden. Trix hatte bei unserem letzten Fall ihren Sprachassistenten in »Harald« umgetauft und mit meiner Stimme versehen. Dafür musste ich mich natürlich revanchieren. Wiebke hatte mir dabei geholfen. Sie kannte sich zwar auch nicht so gut mit Technik aus wie Trix, aber zusammen hatten wir es einigermaßen hinbekommen.

»Also, Trix, hör zu.« In mein Telefon sprach ich die Anschriften der Leute, die mir auf der Straße mitgeteilt hatten, dass ihr Wasser grün war.

»Die-Adressen-sind-markiert-Harald.«

»Danke, Trix.«

Die Karte auf meinem Handy zeigte, dass die betroffenen Haushalte kreuz und quer über Ruckelnsen verteilt waren. Als Gegenprobe gab ich auch die Adressen derjenigen Leute ein,

Ich steckte mein Mobiltelefon ein. Was hatte das alles zu bedeuten? Und was war mit Jansens Schafen los? Hatten sie vielleicht von dem grünen Wasser getrunken und es nicht vertragen? Ich nahm mir vor, gleich mit Trix am Deichabschnitt 23 vorbeizugehen. Dort, etwas abseits gelegen, weideten Jansens Schafe zurzeit.

»Es fährt ein: Regionalbahn aus Humbug«, verkündete der Lautsprecher, »dieser Zug endet hier.«

Der rote Zug zuckelte heran und kam mit einem angeberischen Quietschen zum Stehen. Leise piepend öffneten sich die Türen. Ein paar ältere Damen, ein Ehepaar mit Fahrrädern und eine Familie mit ihrem ungefähr fünfjährigen Sohn stiegen aus. Ich kombinierte: Es handelte sich um Touristen, die ihren Urlaub im Juwel am Schlick verbringen wollten. Diese Bezeichnung hat sich unsere Bürgermeisterin Frau Schuhpisser ausgedacht, um Touristen in den Ort zu locken. Frau Schuhpisser übertreibt gerne. Ruckelnsen ist alles andere als ein Juwel. Das mit dem Schlick stimmt allerdings. Wenn das Meer sich bei Ebbe zurückzieht, liegt vor Ruckelnsens Küste eine riesige Fläche aus diesem braunen, matschigen, stinkenden Zeug.

»Harald! Hallo!« Trix stieg aus der hintersten Tür des letzten

Kaum dass ich bei ihr angekommen war, überreichte sie ihn mir auch schon. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Harald!«

Der Korb war verdammt schwer. »Danke, Trix, aber die Geschenke müssen warten. Wir haben nämlich einen neuen F…«

»Miau!«, tönte es aus dem Korb.

Miau?

»Äh, Trix? Meine Oma und ich haben bereits eine Katze, dieser Fakt ist dir doch bekannt, oder?«

Trix rückte ihre Fliege zurecht. »Natürlich, ich habe Miss Moneypenny ja extra mitgebracht, damit Fräulein Karnelia Gesellschaft hat. Die beiden kennen sich schließlich seit unserem letzten Fall und wollen sich bestimmt gerne mal wiedersehen.«

»Öhm … ah ja, verstehe. Gute Idee.« Ehrlich gesagt war Fräulein Karnelia alles andere als gesellig. Ihr einziger Kontakt zu anderen Katzen bestand darin, den dicken Kater von nebenan zu vermöbeln. »Tjaaaaa… da wird Fräulein Karnelia

»Das bezweifele ich, alle Katzen sind Einzelgänger«, sprach eine näselnde weibliche Stimme dazwischen.

»Oh nein, nicht schon wieder die beiden!«, flüsterte Trix.

Ich wandte mich um. Hinter uns standen zwei zierliche Frauen, die offenbar gerade aus der mittleren Tür des letzten Wagens gestiegen waren. Die beiden hatten eine karierte Reisetasche dabei, aus der eine Leselampe mit grünem Schirm herausragte – ein Teil, wie man es normalerweise zu Hause auf dem Schreibtisch stehen hat. Nicht gerade praktisch für eine Reise. Noch auffälliger als ihr Gepäck waren die Frauen selbst. Sie trugen identische grüne Kleider und glichen sich auch sonst wie ein Ei dem anderen. Nein, korrigierte ich mich, sie sahen sich sogar um einiges ähnlicher, als Eier das für gewöhnlich tun. Beide hatten weit auseinanderstehende wasserblaue Augen, ein blasses Gesicht, hohe Wangenknochen und eine elegante schmale Nase, auf der je eine schwarze, eckige Brille saß. Ihre kinnlangen dunklen Haare waren so exakt

»Die Katzen werden sich garantiert gegenseitig die Augen auskratzen«, verkündete sie.

Trix presste die Lippen aufeinander.

»Es gibt sicher auch Katzen, die Gesellschaft zu schätzen wissen, Klara«, sagte die andere Frau. »Hör doch endlich auf, Trix damit aufzuziehen.« Ihre Stimme klang dunkel und sanft. Sie beugte sich zu Miss Moneypennys Katzenkorb herunter. »Du freust dich auf deine kleine Katzenfreundin, was? Pspspspspsps!«

Die Katze fauchte sie an.

Erschrocken zog die Frau den Kopf zurück. Sie ließ die Mundwinkel sinken, während die ihrer Schwester nach oben schnellten. Die beiden erinnerten mich an die Pole einer Batterie, die niemals beide positiv oder beide negativ geladen sein können.

Klara sah Trix herausfordernd an. »Bis die liebe Trix sich von uns weggesetzt hat. Angeblich, weil ihrer Katze die Zugluft in unserem Abteil nicht bekam. In Wirklichkeit sind wir ihr wohl einfach zu sehr auf die Nerven gefallen.«

»Stimmt«, stellte Trix trocken fest. »Und das ist Harald Donnerschlag.«

Aurora lächelt mir zu. »Hallo, Harald.«

Klara musterte mich, als wäre ich eine Nacktschnecke im Teigmantel.

»Herzlich willkommen in Ruckelnsen, dem Juwel am Schlick!«, sagte ich höflich. »Leider ist bei uns zurzeit das Leitungswasser grün, aber das werden wir in Kürze aufgeklärt haben.«

»Interessant«, bemerkte Klara unbeeindruckt.

Aurora hingegen riss erschrocken die Augen auf. »Grünes Wasser? Bist du sicher? Bist du vollkommen sicher? Es ist wirklich … grün?« Sie fasste sich an die Stirn, als hätte sie plötzlich furchtbare Kopfschmerzen.

Klara hakte sich bei ihr unter. »Alles in Ordnung, Auroralein?«

Aurora atmete schwer. Sie nickte langsam. »Ja, ja. Alles in Ordnung.«

Trix zupfte an ihrer Fliege. »Das Leitungswasser ist echt grün, Harald?«

»Ja. Neongrün«, bestätigte ich, »und es hat ein eher unappetitliches Hähnchenaroma. Doch das Problem wird bald behoben sein.«

»Hähnchenaroma?« Aurora schüttelte den Kopf. »Das passt allerdings nicht dazu.«

»Was passt nicht wozu?«, hakte ich nach.

»Ach, nichts.« Aurora wich meinem Blick aus.

»Ist das hier ein Verhör?«, fragte Klara giftig.

»Nee, Harald ist bloß von Natur aus sehr neugierig«, sagte Trix in einem Tonfall, als würde sie über einen kleinen, nervigen Hund sprechen.

Klara nickte. »Das merkt man.«

Fragen zischten durch meinen Kopf wie Silvesterraketen: Was wollten diese Schwestern in Ruckelnsen? Warum hatte Aurora auf die Nachricht über das grüne Leitungswasser so erschrocken reagiert? Und was meinte sie mit Das passt allerdings nicht dazu? Das Hähnchenaroma? Wozu passte es nicht? Zu der grünen Färbung des Wassers?

»Faszinierend. Ist er in eine Art Trance gefallen?«, hörte ich Klaras nasale Stimme. »Oder schläft er mit offenen Augen?«

Klara lachte. »Ach so, deshalb auch seine seltsame Kleidung. Spielt er Detektiv, oder was?«

Bevor ich ihr erklären konnte, dass ich nicht Detektiv spielte, sondern tatsächlich ein Detektiv war, quäkte der Lautsprecher dazwischen: »Auf Gleis zwei steht für Sie bereit: Regionalbahn nach Humbug. Abfahrt 15:15 Uhr.«

Aurora sah den Zug sehnsuchtsvoll an. »Ach, am liebsten würde ich gleich wieder zurückfahren.«

Klara schüttelte den Kopf. »Unsinn, Auroralein, wir ziehen das jetzt durch!«

»Was wollen Sie denn durchz…«, fing ich an, doch Trix zupfte mich am Mantel.

»Sicher wartet deine Oma schon mit dem Geburtstagskuchen, Harald.« Sie hängte den Stoffbeutel über die Schulter und griff sich ihren Koffer. »Wir müssen leider dringend weg. Tschü-hüs! Vergiss Miss Moneypenny nicht, Harald.«

Zähneknirschend schleppte ich den Katzenkorb hinter ihr her. »Ich kann ja verstehen, dass dir die beiden auf die Nerven gehen, Trix. Aber: Um erfolgreich zu ermitteln, muss ein Detektiv die eigenen Vorlieben zurückstellen können. Das ist meine Detektiv-Regel Nummer 24

»Oh, sorry«, sagte Trix. »Die Regel kannte ich nicht. Werde ich mir gleich notieren.«

 

Vor dem Bahnhof setzte ich den Katzenkorb auf meinen Gepäckträger und hängte Trix’ Koffer an den Lenker. Dann holte ich mein Mobiltelefon aus der Manteltasche. »Trix, wie kommen wir auf dem schnellsten Weg zum Deichabschnitt 23

»Das fragst du mich? Du wohnst doch h…«

»Die-Strecke-ist-berechnet-Harald«, wurde Trix von ihrer eigenen Stimme aus meinem Telefon unterbrochen. »Gehe-tausend-Meter-geradeaus-dann-links-abbiegen-und-siebenhundert-Meter-laufen-kann-ich-sonst-noch-etwas-für-dich-tun.«

Die echte Trix sah mich für einen Moment verständnislos an. Dann lachte sie und klopfte mir anerkennend auf die Schulter – so fest, dass ich beinahe gestolpert wäre. »Das ist wirklich gut, Harald. Die perfekte Revanche.«

Irgendwie war ich enttäuscht. Ein klein wenig hätte Trix sich über meine Retourkutsche ruhig ärgern können.

Stattdessen sagte sie gut gelaunt: »Gehen wir?«

Also gingen wir los.

»Was wollen wir denn überhaupt am Deichabschnitt 23?«, fragte Trix.

»Jansens Schafe …«, fing ich an.

»Miau-hau-hau-hau!«, warf Miss Moneypenny dazwischen.

Ich nutzte die Ruhe, um Trix detailliert meine bisherigen Ermittlungen im Fall des grünen Leitungswassers darzustellen. Trix hörte konzentriert zu.

»Und laut Frau Hinnerksen stimmt irgendwas nicht mit Jansens Schafen«, beendete ich meinen Bericht. »Vielleicht haben sie von dem Wasser getrunken und es nicht vertragen. Deshalb machen wir jetzt einen kleinen Umweg am Deichabschnitt 23 vorbei. Der ist ganz in der Nähe des Bahnhofs, wir sind gleich da.«

»Miau-hau!«, maunzte es schon wieder dazwischen. Ich drehte mich zum Gepäckträger um – und entdeckte Fräulein Karnelia! Sie lief neben meinem Fahrrad her und miaute laut. Ich konnte es kaum glauben. Bei schlechtem Wetter ging Fräulein Karnelia sonst nie raus.

Aus dem Korb kam ein fröhliches »Miau« zurück. Es klang wie eine Begrüßung.

»Schau mal, Trix, Fräulein Karnelia scheint sich wirklich über den Besuch zu freuen«, sagte ich und zeigte auf die Katze, die sehnsuchtsvoll zu meinem Gepäckträger hochblickte.

»Das kann doch unmöglich von dem grünen Wasser kommen!«, rief Trix.

Und brauchte keine Erklärungen mehr.

Vor uns lag der Deich. Dort standen die Schafe und kauten lässig wie immer vor sich hin.

Nur dass heute grüne Totenköpfe auf ihrem Fell prangten.

In dem Wiebkes Mutter sich höchst verdächtig verhält, wir einen Tatort untersuchen und unser erstes Beweisstück finden.

Ich stellte das Fahrrad ab und wollte Trix zum Deich hinterherrennen. Doch ein zweistimmiges »Miau-hau!« hielt mich davon ab. Schnell hob ich den Katzenkorb vom Gepäckträger, öffnete das Gitter und ließ Miss Moneypenny heraus. Dann folgte ich Trix.

Die Schafe grasten vor sich hin und wirkten gänzlich unbeeindruckt. Wahrscheinlich hatten sie heute noch nicht in den Spiegel geschaut.

»Da ist ja Schnucki MäcGaffin«, sagte Trix. »Oh nein, es hat auch was abbekommen.«

Was abbekommen war leicht untertrieben. Das Fell des Schafs zierten zahlreiche grüne Totenköpfe. Sogar die Wolle auf seinem Kopf war grün gezeichnet. Ehrlich gesagt stand ihm das Totenkopf-Muster richtig gut. Schnucki sah aus wie ein lässiges Punker-Schaf. Fast erwartete ich, dass es mich gleich um einen Euro anschnorren würde.

Hinter ihr stapfte ihre Mutter den Deich herunter. Frau Jansen wirkte ziemlich wütend.

Als die beiden bei uns ankamen, umarmte Wiebke erst mich und dann Trix. »Herzlichen Glückwunsch, Harald.

Frau Jansen strich ihr sanft über den Rücken.

»Totenköpfe«, murmelte Wiebke. »Meint ihr, jemand hat was gegen uns? Vielleicht ist es eine Drohung oder so.«

»Das können wir zu diesem Zeitpunkt leider nicht ausschließen«, stimmte ich zu. »Aber möglicherweise richtet sich die Drohung nicht an euch persönlich. Die grüne Farbe der Totenköpfe legt vielmehr einen Zusammenhang mit dem grünen Leitungswasser nahe.«