Für meine Enkel

Inhaltsverzeichnis

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Es waren Ferien. Liam langweilte sich. Die Tennisstunde war ausgefallen. Auch die Klavierstunde, die er so liebte. Fast alle Freunde waren mit den Eltern irgendwo hingefahren. An den Ostseestrand, nach Österreich in die Berge, ans Mittelmeer in die Türkei, auf einen Bauernhof in der Heide oder zu Verwandten, wo immer diese auch wohnten. Liam träumte, wie schön es wäre, wenn auch er irgendwo hinfahren könnte. „Irgendwohin“, seufzte er, „ganz egal wohin.“ Aber das ging nicht, weil seine Eltern arbeiten mussten und keine Ferien machen konnten. Mami arbeitete als Ärztin in Berlin und Daddy als Manager in London. Ohne Mami oder Daddy wollte Liam aber nirgendwohin fahren.

Wer Liam ist, fragst du? Das können wirklich nur Leute fragen, die den weißen Raben nicht kennen.

„Der weiße Rabe“, fragst du weiter, „wer ist denn das? Und was hat der mit Liam zu tun? Außerdem – Raben sind doch schwarz und nicht weiß.“

Ich merke schon, du kennst das erste Buch über den weißen Raben nicht. Schade, da hast du eine Menge versäumt. Aber das macht nichts. Das Buch läuft dir nicht weg. Du kannst es immer noch lesen. Einiges muss ich dir jedoch bereits jetzt erzählen, denn sonst wirst du diese Geschichte nicht verstehen.

Der weiße Rabe ist unsterblich. Er lebt schon seit mindestens 3000 Jahren. Kannst du dir das vorstellen? 3000 Jahre, das sind mehr Jahre als die Lebenszeiten deiner Großeltern, Urgroßeltern, Ururgroßeltern und Urururgroßeltern zusammengerechnet! Weißt du eigentlich, wie viele Urururgroßeltern du hättest, wenn alle noch lebten?

16 Urururgroßopas und 16 Urururgroßomas, zusammen also 32 Urururgroßeltern! Falls du mir nicht glaubst, rechne nach!

Der weiße Rabe ist nicht nur steinalt, sondern auch sehr klug und sehr weise. Er hat nichts vergessen, was er in seinem langen Leben jemals erlebt, gehört oder gesehen hatte. Man liegt deshalb durchaus richtig, wenn man sagt, dass der weiße Rabe mehr weiß als Google und all die anderen Internetsuchmaschinen zusammen.

Der weiße Rabe kann auch zaubern. So hat er zum Beispiel die Mountainbikes von Liam und Pascal in Flugräder verwandelt. Wer Pascal ist, fragst du? Als Liam noch in London wohnte, war Pascal sein bester Freund.

Mit den Flugrädern kann man ganz normal auf der Erde radeln, aber – wenn man will – auch fliegen. Die Räder haben nämlich neben den üblichen Gängen einen F-Gang. „F“ steht für Flug. Der F-Gang ist der Fluggang. Wenn man auf F-Gang schaltet und kräftig in die Pedalen tritt, geht es hoch in die Lüfte. Mit den Flugrädern kann man jeden Ort der Welt anfliegen. Wie mit einem Flugzeug. Nein, viel besser und – viel schneller. Für das Flugrad braucht man weder Flugplatz noch Kerosin noch Flugticket.

Von dem weißen Raben hat Liam gelernt, die Sprache der Tiere zu verstehen. Alle Lebewesen könnten sich verstehen, wenn sie einander richtig zuhörten, hatte der weiße Rabe gesagt. Und das tut Liam. Denn es interessiert ihn, was Tiere denken und worüber sie sich unterhalten. Liam hat so auch mitgekriegt, dass Tiere sich freuen, ärgern, Schmerz empfinden und Angst haben können. Wie wir Menschen.

Wann und wo Liam den weißen Raben erstmals getroffen hat, fragst du? Das war vor ungefähr zwei Jahren. Liam hatte sich auf geheimnisvolle Weise verlaufen und wusste nicht mehr ein noch aus. Da erschien der weiße Rabe, beruhigte ihn und half ihm, nach Hause zu kommen.

Seit damals sind Liam und der weiße Rabe Freunde. Sie treffen sich, wann immer ihnen danach ist. Der weiße Rabe taucht meistens nachts auf, setzt sich auf das Fußende von Liams Bett und krächzt, bis Liam aufwacht. Obwohl Liam in aller Regel sauer ist, wenn er mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wird – über die nächtlichen Besuche des weißen Raben freut er sich immer. Liam kann mit dem weißen Raben über alles reden, selbst über Dinge, über die er mit seinen Eltern nicht sprechen würde. Außerdem steckte der weiße Rabe voller Geschichten. Von denen kann Liam nie genug hören.

Als er den weißen Raben kennenlernte, war Liam sechs Jahre alt und lebte mit seinem Daddy und seiner Mami in London.

Heute ist er acht Jahre und wohnt mit seiner Mami und seinem kleinen Bruder Calum in Berlin.

Liams Daddy wohnt nur am Wochenende in Berlin. Jeden Montag, ganz früh, fliegt er von Berlin nach London und jeden Freitag, ganz spät, von London nach Berlin. „Das muss so sein“, sagt Liams Vater. „Mein Arbeitsplatz ist nun einmal in London. Die Fliegerei in den meist übervollen Flugzeugen macht zwar keinen Spaß. Es ist jedoch spannend, sozusagen mit einem Bein in Berlin und dem anderen in London zu stehen. Ich bin praktisch eine Brücke zwischen London und Berlin. Außerdem liegen zwischen London und Berlin kaum mehr als zwei Flugstunden. Und was sind schon zwei Stunden?“

Mit seinem Daddy spricht Liam Englisch, denn der ist aus Australien, und in Australien sprechen die Leute Englisch. Mit seiner Mama spricht Liam Deutsch, denn sie ist aus Deutschland. Manchmal spricht Liam Englisch und Deutsch durcheinander. Das klingt ein bisschen ulkig, aber man gewöhnt sich daran. Fast alle seine Schulfreunde sprechen Englisch und Deutsch. Liam geht nämlich auf eine Internationale Schule mit Schülern aus aller Herren Länder.