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Konrad Haemmerling

Die Kunst,
  in Berlin
  zu leben

Ein Führer durch das
Berlin der Nachkriegszeit

 

 

 

 

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Für Ruth,

die mir die Kunst, in Berlin zu leben, erleichterte.

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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ebook im be.bra verlag, 2020

 

© der Originalausgabe:

be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2020

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

post@bebraverlag.de

Lektorat: Katrin Endres, Berlin

Umschlaggestaltung: Manja Hellpap, Berlin

ISBN 978-3-8393-0148-7 (epub)

ISBN 978-3-89809-176-3 (print)

 

www.bebraverlag.de

Lebenskunst im Kleinen

Die Berliner Kinder haben eine Lieblingsbeschäftigung, der sie sich mit leidenschaftlichem Eifer widmen und über die sie die ganze Welt um sich herum, einschließlich des Mittagessens und des Schlafengehens, vergessen: sie machen Eierpampe. Eierpampe ist ein Brei aus Sand und Wasser, mit dem sich allerhand Gebilde herstellen lassen – sofern die Mischung richtig ist. Und in dieser Kunst sind die Berliner Kinder wahre Meister. Die einen machen Eierpampe nur mit den Händen, andere benutzen Eimer und Schaufel, aber beide schaffen ihr Werk, so oder so.

Das Spiel dieser jungen Berliner auf dem Kinderspielplatz ist charakteristisch auch für das Leben und Werkeln der Erwachsenen. Wie sie das Leben anfassen, sie schaffen es, denn das harte seelische Klima ihrer Stadt hat sie die Kunst, in Berlin zu leben, gelehrt. Übrigens spielen Sand und Wasser eine wesentliche Rolle in der Schöpfungsgeschichte der Berliner Landschaft. Sand und Wasser, das trockene und das feuchte Element, haben sie gebildet, und davon ist auch etwas in den Charakter der Berliner übergegangen und trägt dazu bei, dass sie das Leben auf ihre Weise meistern, wie die Berliner Kinder auf ihren Spielplätzen: viel Vergnügen mit wenig Mitteln.

 

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Im Tiergarten, Frühjahr 1946.

Die Stadt ohne Gestern

Glücklich sind die Traditionslosen, denn sie haben keinen Klotz am Bein. Da rühmen sich Menschen und Institutionen ihrer Tradition und schleppen sie voller Stolz als Ballast mit sich herum durch die Zeiten, als wäre es ein Verdienst, Urahnen zu haben und den ganzen von ihnen geschaffenen Krimskrams als schätzenswertes und kostbares Erbgut vorweisen zu können. Jungsein ist alles!

Was haben alte Städte schon von ihrer mehr als tausendjährigen Vergangenheit außer einer Häufung von Verkehrshindernissen?! Viele müssen sich in ihrem Greisenalter damit plagen, die Schwierigkeiten zu überwinden, die ihnen aus einer Unzahl enger winkliger Gassen mit baufälligen Häusern entstehen. Da haben es die Parvenüs unter den Städten leichter. Sie brauchen nicht ständig auf gute Haltung bedacht zu sein, und wenn sie Schnitzer machen, verzeiht man es ihnen. So ein Parvenü ist Berlin, und diese Bezeichnung ist hier eine positive Wertung. Sie kennzeichnet nur Geist und Gesinnung der Stadt ohne Gestern.

Nun werden die Chronisten die Häupter schütteln und auf ihre Folianten zeigen, aus denen sie nachweisen können, dass zwar Berlins Ursprung völlig in Dunkel gehüllt ist, weil die Feuer des großen Brandes am Laurentiustage 1380 alle Urkunden vernichtet haben, dass es aber schon in einem Vertrage aus dem Jahre 1244 erwähnt wird. Als es sich 1937 darauf versteifte, sein siebenhundertjähriges Bestehen zu feiern, musste es dazu die erste urkundliche Erwähnung seiner Schwesterstadt Köln benutzen.

Ein wenig muss man schon in der Geschichte blättern, wenn man sich von Berlin, wie es lebt und leben lässt, ein Bild machen will. Wenn man das Wort Geschichte ausspricht, dann hört man vergilbtes Papier knistern und riecht aufwirbelnden Aktenstaub. Aber so schlimm ist es nicht. Wenn die Geschichte aus Geschichten besteht, dann kann sie sogar amüsant und pikant sein.

Früher hatte man es leicht, in Berlin eine Lektion in Geschichte zu nehmen. Man promenierte einfach durch die Siegesallee, mit der der denkmalfreudige letzte Hohenzoller in einer Anwandlung von monarchischem Verewigungsdrang den Tiergarten verunzierte. Wenn man diese marmorne Ahnengalerie mit ihren zweiunddreißig »Puppen«, wie die respektlosen Berliner diese standhaften brandenburgisch-preußischen Herrschaften nannten, zwischen der Siegessäule bis zum Kemperplatz hin- und wieder zurückgepilgert war, dann wusste man so ziemlich, wer von Albrecht dem Bären bis zu Wilhelm I. an Markgrafen und Königen der Stadt Berlin seine Huld erwiesen hatte und um ihr Gedeihen besorgt gewesen war.

Auch die Paladine, die ihm dabei beratend zur Seite gestanden hatten, waren in Marmor verewigt, wobei das Wörtchen »verewigt« eine maßlose Übertreibung ist, denn diese marmorne Ewigkeit braver Gefolgsmänner endete unter dem Beschuss sowjetischer Artillerie in den Lenztagen des Jahres 1945, als die Lust, in Berlin zu leben, unter den Minuspunkt sank, und die Kunst, hier zu leben, so schwierig war wie nie zuvor.

Als Paris schon dem guten König Heinrich eine Messe wert war, konnten die brandenburgischen Kurfürsten, die sich auf der Spreeinsel ein bescheidenes Schloss gebaut hatten, mit ihrer Residenz noch nicht viel Staat machen. Seuchen und Feuersbrünste entvölkerten immer wieder die Schwesterstädte Berlin und Köln. Handel und Wandel wurden, kaum dass sie sich ein wenig hochgerappelt hatten, wieder zum Erliegen gebracht. Selbst die Kurfürsten lebten so bescheiden, dass sie nicht jeden Sonntag ein Huhn im Topf hatten.

Die preußischen Könige hatten ebenso wenig wie ihre kurfürstlichen Vorgänger die verschwenderische Ader, die zu einem großzügigen und freigebigen Mäzenatentum gehört. Darum gibt es in Berlin keine stattlichen Bauwerke fürstlicher Repräsentanz, keine pompösen Paläste des Hofadels, keine Lustschlösser mit deliziösen Boudoirs für amouröse Abenteuer, keine prächtigen Palais für kostspielige Favoritinnen, sondern nur bescheidene Zweckbauten, in denen die Herrscher wohnten und brave Ehemänner und vorbildliche Väter waren. Der Ausnahmen gibt es so wenige, dass der Historiker sie kaum für erwähnenswert gehalten hat, und an die Namen der vereinzelten Königsliebchen erinnern sich nur die Freunde der Chronique scandaleuse, die aber auch wenig aufregende Einzelheiten zu berichten wissen.

Wie Berlin wurde, was Berlin ist

Berlin wuchs mit der naturgebotenen Langsamkeit und Beständigkeit eines Baumes, der Ring um Ring ansetzt, seine Wurzel in die Erde senkt und seine Krone in den Himmel streckt. Die Berliner siedelten schon an die fünfhundert Jahre rund um die ehemalige Furt durch den Spreefluss, bevor der Segen der Kultur ihr Dasein aus der Primitivität des Lebenskampfes heraushob. Und es brauchte noch einmal an die zweihundert Jahre, bis Berlin Hauptstadt wurde.

Das sich nach allen Himmelsrichtungen ausbreitende Berlin, das mit seinen Vorstädten zusammenwuchs und seine Straßen ausstrahlen ließ in das märkische Heideland, war den Großstädten im Reich unbehaglich und reizte ihre Rivalität. Böse Zungen draußen in den Provinzen und Ländern bezeichneten es als einen »Wasserkopf«. Sie wollten damit seine überstürzte Ausbreitung als ein ungesundes und bedenkliches Symptom charakterisieren.

Das freie Gelände zwischen dem alten Berlin und seinen Nachbargemeinden, die zum Teil noch ganz ländlich anmuteten oder als friedliche Kleinstädte erschienen, wurde langsam bebaut. Nach der Revolution von 1918 fügte eine große Eingemeindungsaktion die Stadt Berlin und die in ihrem Bannkreis liegenden Siedlungen zu einer Einheit zusammen, die sich den Namen »Groß-Berlin« zulegte. Diese Vereinigung einer Millionenstadt mit den vierzehn bisher selbständigen Gemeinden ihrer näheren Umgebung führte zu grundlegenden Veränderungen ihrer gesamten Struktur. Mehr als zuvor wurde Berlin nach der Revolution und durch die Umwandlung der Monarchie in eine Republik zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Spannungsfeld der Nation. Obwohl die alten Tafeln zerbrochen waren und eine neue Ordnung geschaffen wurde, blieb Berlin die Hauptstadt der Deutschen.

Die Stadt des Preußentums mit seiner höfischen und geheimrätlichen Gesellschaft war längst zu einer Stadt des Handels, der Industrie, des Kapitals und des schöpferischen Geistes geworden, die ihre kosmopolitischen Neigungen nicht verbarg. Was sie der Welt zu geben hatte, gab diese ihr zurück, und diesem fließenden Austausch verdankte sie ihr Blühen.

Krisenzeiten und Inflationskatastrophen konnten sie erschüttern, aber ihre Fundamente nicht zerstören. Aus jedem Zusammenbruch erhob sie sich neu und meist aus eigener Kraft. Selbst wenn sie fremder Hilfe bedürftig wurde, war es doch nur der eigene, unbeirrbare Lebenswille, der diese Hilfe fruchtbar machte.

So war es Anfang der zwanziger Jahre, als eine rapide Geldentwertung die Mehrzahl der Berliner verarmen und verelenden ließ. So war es Anfang der dreißiger Jahre, als sich die große Weltwirtschaftskrise im volkreichen Berlin empfindlicher auswirkte als in anderen deutschen Großstädten, und so war es wieder nach der Katastrophe von 1945.

Nie kam den Berlinern ihre gute Eigenschaft, die Tatsachen nüchtern zu betrachten, einen klaren Kopf zu behalten und leidenschaftslos zu handeln, mit einem gewissen Phlegma an die Dinge heranzugehen und nichts zu übereilen, so sehr zugute wie in den Tagen der Eroberung Berlins und während der ersten Besatzungszeit.

Berlin ertrug das Regime der Viersektoren-Herrscher, die das über die Stadt verhängte Viermächte-Statut verkörperten. Es ertrug ihre Streitereien und ihre Meinungsverschiedenheiten, die zum Teil auf seinem Rücken ausgefochten wurden. Schließlich ertrug Westberlin als schwerste Prüfung auch die Blockade. In dieser Zeit bewahrheitete sich das Wort, das vom bitteren Humor derer geprägt worden war, die in den langen Bombennächten in ihren Luftschutzkellern hockten und einander Mut zu machen versuchten. »Genießt den Krieg, der Friede wird schrecklich!« hieß es da, denn man machte sich keine Illusionen über den Ausgang des Krieges und das, was danach kam.

Das Leben ist doch lebenswert

Nie war die Kunst, in Berlin zu leben, so schwer wie in den Lenzmonaten des Jahres 1945. Damals bezeichneten die Berliner, die in den bröckelnden Mauern ihrer Stadt geblieben waren, sich selbst mit einem Schuss Galgenhumor als »Kellerasseln«, denn sie mussten einen großen Teil des Tages in den unterirdischen Luftschutzräumen verbringen. Das wäre noch weit niederdrückender gewesen, wenn nicht Gleichgültigkeit das Bewusstsein abgeschirmt hätte gegen die Vorstellung, wie dies alles einmal enden sollte. Man wehrte sich gegen jede Logik, schaltete das Denken aus und handelte mechanisch so, wie der Augenblick es erforderte.

Einen Kampf bis »5 Minuten nach 12« in Berlin zu organisieren, hatten die Nazis vergebens versucht. Berliner haben nie den falschen Ehrgeiz gehabt, als »Helden« in die Geschichte einzugehen. Ihr nüchterner Sinn bewahrt sie davor, und da, wo sie einmal für solche Tendenzen anfällig wurden, paralysierten sie sie schnell durch einen Witz, der jede Art von Gloriole schmelzen ließ.

Die große, von den Sowjets konsequent durchgeführte Aktion zur Befreiung der Berliner von Uhren und anderen wertvollen Gebrauchsartikeln und Schmuckstücken wurde mit Humor hingenommen. Manche sowjetische Gewalttat wurde durch das Gelächter abgebogen, das ein zur rechten Zeit hingeschnodderter Witz bei den passiv Beteiligten auslöste. Er durchbrach die Panikstimmung und verscheuchte die Angst, die vielfach den Soldaten erst den Mut zu ihren Übergriffen gab. Ein Lachen machte sie stutzig, und manchmal zündete es sogar und brachte auch sie selbst zum Lachen, ohne dass sie den Witz verstanden.

Es gab allerdings auch Fälle, da Misstrauen und Minderwertigkeitsgefühl das Lachen als eine Beleidigung empfinden ließen und ein Schuss den Witzbold niederstreckte. Die Kugeln saßen damals sehr locker in den Magazinen der Maschinenpistolen, mit denen sie verschwenderisch ausgerüstet waren.

In den Tagen, da im Innern der Stadt noch gekämpft wurde, hatten sich die Verhältnisse in den Randbezirken schon einigermaßen auf die neue Situation umgestellt.

 

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Zerstörungen an der Friedrichstraße Ecke Dorotheenstraße, Frühjahr 1945.

 

Jeder sorgte, so gut er konnte, für sein leibliches Wohl. Waren die kargen Vorräte in der eigenen Wohnung oder im Ausweichquartier erschöpft, durchstreifte man die Nachbarschaft. Verlassene Wohnungen und Keller wurden nach Vorräten durchstöbert. Unter dem Freudengeheul der glücklichen Finder förderte man sie ans Tageslicht und brachte sie schleunigst in »Sicherheit«. Plündern war zwar verboten, aber das Verbot kam von den Sowjets, und bei ihnen war dieser Begriff nicht präzisiert.

Niemals haben die Berlinerinnen so wenig Wert auf ihr Make-up gelegt wie damals. Sie wetteiferten miteinander, so reizlos wie möglich auszusehen. Sie schlüpften in zerknitterte Männerhosen; sie ließen die Haare zottig um den Kopf herumhängen und hüllten sich in alte Schals; sie klebten sich schmutzige Pflaster ins Gesicht und schätzten sich glücklich, wenn es ihnen gelang, hässlich zu erscheinen.

Tagsüber strichen die Berliner auf der Suche nach Brennmaterialien und Lebensmitteln durch die Straßen. Auf Befehl der sowjetischen Kommandantur hatten die Bäcker wieder angefangen, Brot zu backen – sofern sie noch Mehlvorräte besaßen. Das Brot wurde in kleinen Rationen auf Abschnitte der letzten Lebensmittelkarten mit Reichsadler und Hakenkreuz abgegeben. Für Hunde und Katzen, die schon in den letzten Monaten des Krieges nicht ungefährdet ihrem Freiheitstrieb hatten nachgeben können, war jetzt jede stille Straße und jeder verschwiegene Winkel eine Gefahrenzone.

Kein Licht aus dem Osten

Nach den ersten Wochen, die Berlin unter dem Sowjetstern verlebte, beruhigten sich die Verhältnisse äußerlich ein wenig. Die Kampftruppen rückten ab, und Besatzungstruppen nahmen ihre Plätze ein.

Rücksichtslos beschlagnahmten die Sowjets in ihrem Sektor an Wohnungen, was sie für ihre Offiziere und Funktionäre brauchten, wobei es ihnen übrigens völlig gleichgültig war, ob die Besitzer Arbeiter oder »Kapitalisten« waren. Oft wurden die Wohnungen samt der Einrichtung bei den Zechgelagen der neuen Bewohner in wenigen Tagen so verschmutzt und demoliert, dass sie für einen ferneren Aufenthalt nicht mehr geeignet erschienen. Dann zogen sie einfach ein paar Straßen weiter, suchten sich ein neues, noch untadeliges Haus und hielten dort ihren Einzug. Sie respektierten kein Eigentumsrecht und nahmen einfach das, was ihnen gefiel, auch wenn sie nichts damit anzufangen wussten.

Höhere Offiziere betrieben die »Konfiskationen« in großem Stil. Da die beschlagnahmten Güter vielfach gar nicht oder mangelhaft verpackt waren, dürften sie, wenn überhaupt, ihren Bestimmungsort nur in stark lädiertem Zustand erreicht haben. Mit der gleichen mangelnden Sorgfalt wie auf die Lastwagen wurden sie auch in die Güterwagen verladen, die in langen Zügen gen Osten rollten.

Nicht einmal die Kunstkommissionen, denen die »Sicherstellung« der in den Berliner Museen zurückgebliebenen Kunstschätze anvertraut war, gingen bei der Bergung dieser unersetzlichen Werte behutsam zu Werk. Die mit roher Gewalt aus der Fassung gebrochenen Teile des Marmorfrieses vom Pergamonaltar mit den monumentalen Reliefs wurden einfach auf einer primitiven Rutsche in die am Kupfergraben ankernden Kähne verladen. Bei diesem Verfahren dürfte mancher Gottheit und einigen Giganten die noch erhalten gebliebene Nase abgestoßen worden sein, bevor diese mythischen Herrschaften den Weg in eine unbekannte Zukunft antraten, aus der bisher keine Kunde von ihnen kam.

Als die Sowjets in Berlin ein wenig heimisch geworden waren, wurden viele in ihren kommunistischen Grundsätzen wankend und zeigten sich für »kapitalistische« Neigungen anfällig. Die sowjetischen Frauen wünschten sich schöne Kleider, elegante Pelze und Schmuck. Die Offiziere bekamen einen Sold, der ihnen solche Dinge erlaubte. Die Zeit, da man ohne Bezahlung einkaufen konnte, war schließlich vorbei. Die Berliner ließen sich nicht mehr so leicht einschüchtern. Sie entdeckten, dass man sich durchsetzen konnte, wenn man dem Bedränger gegenüber rabiat wurde und ihn anschrie. Noch wirksamer aber war die Drohung, man werde sich beim Kommandanten beschweren. Es gab Kommandanten so zahlreich wie Sand am Meer und fast in jedem Viertel eine »Kommandatura«, die immer von Beschwerde führenden Berlinern belagert war.

Kaufkräftige Sieger auf der einen Seite, bedürftige Berliner auf der anderen – da konnte es nicht ausbleiben, dass man versuchte, miteinander ins Geschäft zu kommen. Wer Geld brauchte, der holte seine versteckten Werte hervor, um sie zu veräußern, gegen Geld oder – noch besser – gegen Naturalien. In Karlshorst, ihrem Hauptquartier, etablierten die Sowjets eine Zentrale für den Ankauf von Diamanten und Gold. Für das Karat Diamanten zahlten sie Preise von 35 000 bis 40 000 Reichsmark. Das war für viele Berliner eine willkommene Möglichkeit, ihren leeren Geldbeutel aufzufüllen. Schmuck war ja ohnedies in der gegenwärtigen Situation völlig überflüssig.

 

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Tauentzienstraße und Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, 1945.

 

Lebensmittel waren wichtiger als alles andere. Was auf die ausgegebenen Lebensmittelkarten zugeteilt wurde, reichte nicht aus, um bei Kräften zu bleiben. »Schwarz« gekaufte Lebensmittel aber waren so teuer, dass Menschen mit normaler Börse sie sich nicht leisten konnten. Die Lebensmittelkarte 5 für nicht berufstätige Berliner wurde recht zutreffend als »Hungerpass« bezeichnet. Erst auf die Lebensmittelkarte 3 gab es halbwegs ausreichende Rationen. Mit der Lebensmittelkarte 1 ließ sich schon einigermaßen auskommen. Doch sie wurde außer Schwerstarbeitern nur »verdienten Gelehrten, Ingenieuren, Ärzten, Kultur- und Kunstschaffenden sowie leitenden Persönlichkeiten der Stadt- und Bezirksverwaltungen« zugebilligt. Nie hat es in Berlin so viel »verdiente Kunst- und Kulturschaffende« gegeben wie in dieser Zeit, denn um die Karte 1 zu bekommen, ließ man nichts unversucht, und die deutschen Stellen, die über die Prominenz zu entscheiden hatten, drückten, wo sie konnten, ein Auge zu.

Auch die Sowjets sahen ein, dass eine Stadt wie Berlin ohne Ordnung nicht auskommen könne. Sie setzten Haus- und Straßenobleute ein, die ehrenamtlich ihre kleinen Bezirke zu betreuen hatten, und ernannten einen Polizeipräsidenten, der den Befehl erhielt, eine Stadtpolizei aufzustellen. Nach nichts verlangten die Berliner sehnlicher als nach Ruhe und Ordnung. Wilde Gerüchte ließen sie aber nicht zur Ruhe kommen. Jeder stellte sich die bange Frage, welchen Teil die Sowjets bei der Aufteilung der Stadt unter ihre Verwaltung nehmen würden. Diese Frage blieb lange offen. Erst Anfang Juli 1945 wurde sie durch den Einmarsch der Amerikaner und Briten in die westlichen Bezirke entschieden. Einen Monat später übernahmen die Franzosen ihren Sektor.

Die Sowjets wollten ihre Verbündeten mit einer schönen Geste empfangen. Der sowjetische Stadtkommandant befahl, sämtliche Wohnungen mit den Fahnen der vier Siegermächte zu schmücken. Vorgeschriebene Reihenfolge: an erster Stelle die Rote Fahne mit Hammer und Sichel, dann das Sternenbanner der USA, der Union Jack der Briten und zuletzt die Trikolore der Franzosen. Die Sowjets hatten Gefühl für Rangordnung, weniger aber dafür, woher die Berliner den vorgeschriebenen »guten Stoff« in den entsprechenden Farben nehmen sollten. Rote Fahnen, wenn auch minderer Qualität, waren reichlich vorhanden. Man holte sie aus ihren Verstecken hervor, wusch sie, trennte das weiße Feld mit dem Hakenkreuz ab und setzte dafür in die obere Ecke links aus gelbem Stoff das bekannte Emblem der UdSSR. Auch die Trikolore war noch unschwer aus drei Stofffetzen zusammenzustückeln. Mit dem Union Jack und den Stars and Stripes gab es aber allerhand Schwierigkeiten. Straßen- und Hausobleute mussten die geplagten Hausfrauen bei der Herstellung dieser Flaggen beraten. Überall ratterten die Nähmaschinen. Niemand wagte säumig zu sein, denn ihm waren schwere Strafen angedroht.

Als dann die Flaggen glücklich draußen hingen, mussten sie wieder hereingenommen werden. Weshalb, erfuhr man nie. Die westlichen Alliierten mussten ohne Flaggenschmuck an den Häusern in Berlin einrücken.

Der Mensch muss sich zu helfen wissen

Mit ihrem Einzug begann eine neue und umfangreiche Beschlagnahmeaktion. Mancher, der bis dahin noch friedlich in seiner Behausung gesessen hatte, musste sein Bündel schnüren und auf Wohnungssuche gehen. Wohnungen aber gab es nicht, zumindest keine freien. Da hieß es denn für viele Westberliner, noch ein wenig enger zusammenzurücken, um nur ein Dach über dem Kopf zu haben, und man war glücklich, wenn man eines fand, selbst wenn es an feuchten Tagen ein wenig durch die Decke tröpfelte und man Wannen und Kessel unter die durchlässige Stelle schieben musste.

Die Requisitionskommissionen der Besatzungsmächte waren höchst wählerisch. Sie ließen für die höheren Offiziere und Beamten die schönsten und komfortabelsten Villen und Wohnungen räumen. Nur eine Stunde blieb den Wohnungsinhabern zum Auszug. Diese Frist genügte, um das Wenige, was sie mitnehmen durften, zusammenzupacken, wenn auch nicht, um eine neue Unterkunft zu finden. Glücklich schätzten sich Villenbesitzer, wenn sie in ihrem beschlagnahmten Hause ein paar Räume im Souterrain weiter benutzen und die Rolle von Hauswart und Gärtner übernehmen konnten. Man behielt dann wenigstens sein Dach überm Kopf, konnte stets nach dem Rechten sehen und nahm außerdem teil an dem Überfluss, der im Haushalt der Gäste herrschte.

Das Leben aber war dennoch leichter geworden. Wenn man die Wasserhähne aufdrehte, rieselte wieder ein dünner Wasserfaden aus dem Rohr. Die mühevollen Gänge mit Eimern und Kannen zu den wenigen, oft weit entfernten Pumpen, an denen lange Menschenschlangen warteten, hörten auf. Bald konnte man auch die kümmerlichen, doch vorsorglich gehüteten und kostbaren Kerzenstümpfchen wegräumen, weil wieder Strom in den Leitungen war.

Für Westberlin gehören diese Erlebnisse längst der Vergangenheit an. In Ostberlin haben sie ihre Aktualität noch immer nicht ganz verloren, denn dort wird auch heute noch sehr mit Licht gespart. Das bemerken vor allem die Fluggäste, die nach Einbruch der Dunkelheit über der Stadt kreisen. Da liegt Westberlin im Schimmer von tausend und abertausend Lichtern unter ihnen, im Osten dagegen sind die Lichtpünktchen nur sehr dünn gesät, und rundum ist viel Nacht.

Auch die durch Hausbeschlagnahmen entstandenen Schwierigkeiten sind inzwischen überwunden worden. Die Vereinigten Staaten haben in Zehlendorf moderne Bauten für ihre Offiziere und Beamten mit einem eigenen Kino, Schulen, Kaufläden, Klubs und Restaurants geschaffen, und am Rande des Grunewalds ist eine ansehnliche amerikanische Kolonie entstanden. In Reinickendorf haben die Franzosen ein größeres Areal mit einer Mauer umgeben. Sie umschließt Kasernen, Büros und Depots und bildet ein Klein-Paris mitten in Berlin. Die Straßen des »Quartier Napoléon« tragen französische Namen, und gleich vor der Tür liegt der Flugplatz Tegel, auf dem Militärmaschinen starten und landen können. Die höheren Militärs und Zivilbeamten ziehen allerdings das Leben in dem schmucken Villenvorort Frohnau vor.

Die Sowjets hatten schon in den ersten Tagen ihres Berliner Aufenthalts ihr Hauptquartier in Karlshorst aufgeschlagen. Auch sie suchten sich eine Gartenstadt aus, aber sie mussten sich mit einer weniger vornehmen als die Franzosen begnügen, denn in ihrem Sektor gab es nichts Besseres. Für ihre Begriffe war aber auch das recht bürgerliche Karlshorst durchaus annehmbar, und es hatte schließlich auch Deutschlands schönste und weltberühmte Anlage für Hindernisrennen. Von Karlshorst aus laufen die Fäden der sowjetischen Besatzungspolitik. »Berliner Kreml« heißt der streng bewachte und gesicherte Sperrbezirk, in dem zuerst die SMA – die Sowjetische Militär-Administration –, dann die SKK – die Sowjetische Kontroll-Kommission – residierte, und in dem heute der sowjetische Militärkommandant seinen Sitz hat.

Auf etwas, was die Westberliner schon längst nicht mehr kennen, würden auch die Ostberliner gern verzichten. Das sind die Lebensmittelkarten. Zwölf Jahre nach dem Krieg hat man sie davon noch immer nicht befreien können, so oft man es ihnen auch versprach. Es gibt sie drüben in drei Stufen. Die »Große Karte« A ist für Intellektuelle und Schwerstarbeiter bestimmt, die Karte B für Arbeiter und Studenten. Alle übrigen Personen erhalten die Grundkarte, auf die Fleisch, Fett, Zucker, Kartoffeln verabfolgt werden. Milch gibt es nur für Kinder oder aber für 1,20 Mark pro Liter frei in der HO. Und eine warme Stube gibt es auch nur, wenn die Bezugsscheine für Hausbrand ausreichend beliefert werden.