Für immer Sommerby

Prolog

In der kleinen Stadt ist es Winter geworden.

An den Mauern der niedrigen Häuser entlang der Hauptstraße tragen die Rosenstöcke keine Blüten mehr, und neben dem Eingang zu Hannes’ Laden, vor dem sich im Sommer die Touristen drängen, fehlen die Tröge mit Sandspielsachen und Muscheln. Der Eiskiosk am Hafen hat längst geschlossen, und nur ein paar Touristen schlendern jetzt noch die kopfsteingepflasterte Hauptstraße hinunter zur einsamen Marina, wo kleine Winterwellen gegen die leeren Stege schwappen, an denen kein Schiff mehr festgemacht hat. Nur der Seenotrettungskreuzer Nis Randers wartet wie zu jeder Zeit und bei jedem Wetter, um bereit zu sein, wenn ein Schiff in Not ihn braucht; und auf der Landzunge gegenüber steigt aus dem Schornstein einer hinter Bäumen hingeduckten Reetdachkate freundlicher Rauch. Die wenigen Feriengäste ziehen ihre Schultern hoch und ihre Mützen tiefer über die Ohren, wenn der Wind sie erwischt, und sind dankbar für ihr warmes Zimmer im Gasthof. Niemand fragt wie im Sommer, ob man die Kate wohl kaufen kann.

Wenn einer es täte, würde er aber auch ausgelacht. In ihrem Haus sitzt Oma Inge am Küchentisch und guckt nachdenklich auf einen Kranz mit vier nie angezündeten, roten Kerzen. Aus dem Radio kommt leise Weihnachtsmusik, und sie fragt sich, wie das wohl alles werden wird. Mit ihrer Tochter. Dem Schwiegersohn. Und den Kindern. Weihnachten hier alle zusammen.

Aber Leonie hat es nicht anders gewollt, die Enkel auch nicht, und sie hat keiner gefragt. Sie hätte auch nicht gewusst, was sie hätte sagen sollen.

Oma Inge seufzt und steht auf. Der Kater auf der Fensterbank wirft ihr nur einen müden Blick zu und bleibt, wo er ist; aber neben ihr erhebt sich erwartungsvoll ein alter, brauner Hund vom Boden. »Du kannst gerne liegen bleiben, Mahler«, sagt sie.

Jetzt wird sie erst mal Plätzchen backen, sie kann sich schon vorstellen, was die Kinder sagen würden, wenn es keine Weihnachtsplätzchen gäbe. Aber das Weihnachtsliedergedudel schaltet sie aus.

Der erste Tag

1.

Damit Weihnachten so wunderbar ist, wie es sich gehört, sollte es unbedingt schneien.

»Leise rieselt der Schnee«, singt der Kinderchor über Bluetooth aus den Lautsprechern in Mamas Volvo, und Martha wirft einen Blick auf ihr Handy, das neben ihr auf der Mittelkonsole liegt. »Still und starr ruht der See.«

»Nett«, sagt Mama. Sie sitzt am Steuer und ist froh, dass Martha sich um die Musik für die Fahrt kümmert. Dann muss sie das nicht erledigen.

»Das stimmt ja gar nicht!«, mault Mats auf der Rückbank. »Das ist gelogen! Der rieselt gar nicht!«

»Nee, tut er nicht!«, sagt Mikkel. »Du kannst ja ›Leise regnet der Regen‹ singen, Mats. Dann stimmt das.« Er seufzt und wischt die Scheibe frei, um durch das beschlagene Autofenster nach draußen zu gucken. Der Regen regnet wirklich nur leise, aber das schon den ganzen Tag. Und gestern auch schon. Und morgen bestimmt wieder. »Warum sagen die das trotzdem immer, Mama?«

»Warum sagt wer was?«, fragt Mama und biegt schon von der großen Straße ab. Bald sind sie in Sommerby.

»Dass es Weihnachten schneit!«, sagt Mikkel. »In den Liedern immer! Und auf den Postkarten! Das schneit da doch nie! Ostern schneit das!«

Martha kichert. »Stimmt voll!«, sagt sie. Im vergangenen Jahr hat es an Weihnachten tagelang geregnet, genauso wie jetzt. Und zu Ostern sind sie dann im Schnee ertrunken. »Du kannst ja mal vorschlagen, dass neue Weihnachtskarten gedruckt werden, Mikkel. Mit dem Weihnachtsmann in Gummistiefeln im Matsch. Und Osterkarten, auf denen sich der Osterhase im Schnee die Ohren abfriert.«

»Keine Chance, mein Schatz«, sagt Mama. »Das kauft keiner. Die Karten zeigen, wonach wir uns sehnen, nicht die Wirklichkeit. Das wollen die Leute.«

»Ich sehne mich nicht!«, sagt Mats. »Ich will Schnee!«

Martha hört, dass auf ihrem Handy eine WhatsApp eingegangen ist, das ist gerade unpraktisch. Aber wenn sie erst mal bei Oma Inge sind, kann sie gar keine Nachrichten mehr kriegen. Oma Inge hat doch kein WLAN!

Und dann fällt es ihr ein. Wie dumm sie ist! Natürlich kann sie ihre Nachrichten jetzt auch bei Oma Inge lesen und verschicken! Und in ihren Instagram-Feed gehen kann sie auch! Das wird jetzt alles anders sein in Sommerby. Seit Mama und Papa Oma Inge zum Geburtstag den Router geschenkt haben, kommt man auf der Landzunge doch problemlos ins Netz. Da muss sie nicht mehr erst den ganzen Weg über die Weide gehen, bis fast ins Dorf, um Empfang zu haben. Im Winter ist das vielleicht auch ganz gut. Auf dem Zaun würden ihr sonst vielleicht die Finger abfrieren beim Chatten.

Auf der Rückbank haben die Jungs angefangen, sich zu streiten.

»Gib das her!«, brüllt Mats, aber Martha macht sich nicht mal die Mühe, zu gucken, worum es dabei geht. »Das ist meins!«

»Ist es gar nicht!«, ruft Mikkel. »Du hast mir das nur …«

»Schluss!«, sagt Mama. »Ruhe dahinten! Hört doch mal die schönen Weihnachtslieder an! Wenn ihr euch so streitet, kann ich mich nicht aufs Fahren konzentrieren! Dann halt ich an.« Und tatsächlich wird der Wagen ein winziges bisschen langsamer.

»Ich hab gar nichts gemacht!«, brüllt Mats.

»Ich auch nicht!«, brüllt Mikkel.

»Mats! Mikkel!«, ruft Mama. »Verflixt!« Der Wagen ist wieder schneller geworden.

Eine Sekunde lang überlegt Martha, was Oma Inge in dieser Situation tun würde. Hat Oma Inge überhaupt einen Führerschein? Sie würde wirklich rechts ranfahren, denkt Martha. Das ist schon klar. Wenn die Jungs nicht aufhören würden, sich zu streiten, würde Oma Inge rechts ranfahren. Und weiterfahren würde sie erst, wenn es hinten ruhig wäre, das könnte Mama doch eigentlich auch. Schließlich müssen wir ja keinen Flug erreichen, nur Sommerby. Ein Sommerby mit Netz. Bei dem Gedanken wird Martha ganz vergnügt.

Schon wieder kommt eine WhatsApp. Ist die von Isolde? Das glaubt Martha eigentlich nicht. Isolde feiert mit ihren Eltern Weihnachten in ihrem Landhaus, da hätte sie sich sonst längst gemeldet und geschrieben, wie langweilig ihr ist. Aber seit zwei Wochen herrscht Funkstille zwischen Isolde und ihr. Dabei hat Martha versucht, Isolde zu erklären, dass die Sache wirklich nicht ihre Schuld ist.

Auf der Rückbank stößt Mats gerade einen lauten Wutschrei aus. »Du Kackarsch!«, schreit er. Natürlich meint er Mikkel. »Du Pisspott! Du Pup-Pup!«

»Mats!«, brüllt Mama, während das Auto ruhig weiterrollt. »Ich will solche Wörter nicht hören! Und ich habe euch tausendmal gesagt, dass ihr euch auf der Fahrt nicht streiten sollt! Das ist gefährlich!«

Aber das interessiert auf der Rückbank gerade niemanden. »Mats hat mich gehauen!«, brüllt jetzt auch noch Mikkel. »Mama, Mats hat mich schon wieder gehauen!«

Ein Glück, dass ich gerade nicht zwischen den beiden sitzen muss, denkt Martha zufrieden. Also eigentlich gut, dass Papa heute noch nicht mitgekommen ist.

Sie guckt auf ihr Handy neben sich auf der Konsole. Sie würde schon gerne wissen, wer ihr geschrieben hat. Gleich zweimal. Ob Isolde ihr vielleicht doch verziehen hat.

Oder ob der Absender vielleicht eher der Grund für Isoldes Wut ist.

Albert.

2.

»Da sind wir!«, ruft Mama und lenkt den Wagen an den Straßenrand. Sie sind über schmaler werdende Straßen gefahren, an regengrauen Hügeln und in die Landschaft getupften Reetdachkaten vorbei, in deren Gärten knorrige Obstbäume ihre Äste in einen trostlosen Himmel recken, und zuletzt auch noch ein kleines Stück durchs Dorf. Sommerby. Und jetzt sind sie endlich beim Haus von Krischan Boysen angekommen, dem Schnitzer, aber das steht am Ende einer kleinen Sackgasse, und weiter kann man zu Oma Inge mit dem Auto nicht fahren.

Als die Kinder im Sommer zum ersten Mal bei Oma Inge waren, konnten sie zuerst gar nicht glauben, dass es zu ihrem Haus keine Straße gab. Noch nicht mal einen Weg über die Kuhweide hinter dem Zaun bei Krischan Boysens Haus! Oma Inge war nämlich viele Jahre lang nicht nur mit Mama und Papa zerstritten, sondern auch mit dem ganzen Dorf Sommerby, und zwar aus demselben Grund. Darum war sie in dieser Zeit auch niemals nach Sommerby gegangen, und die Leute aus Sommerby nicht zu ihr, da brauchten sie keinen Weg. Stattdessen war Oma Inge immer nur mit der Schrecken der Meere, ihrem Holzboot mit Außenborder, in die kleine Stadt gegenüber gefahren. Zu ihrem Haus gehört schließlich ein Steg.

Aber jetzt sieht Martha sofort, dass ein Trampelpfad entstanden ist zwischen der Pforte, die Krischan Boysen schon im Sommer in den Zaun gesetzt hat, und Oma Inges Haus hinter den Bäumen. Ein ziemlich matschiger Pfad über die Kuhweide, aber sie haben schließlich Gummistiefel dabei.

Und noch etwas sieht sie. Die Nachrichten, die eben eingegangen sind, waren natürlich nicht von Isolde, wie konnte sie das bloß hoffen.

»Na, seid ihr wieder da?«, fragt Krischan Boysen und kommt aus dem Haus. Er wischt sich die Hände an seiner Schürze voller Sägespäne ab. »Brrr, Schietwetter habt ihr mitgebracht!«

Martha steckt ihr Handy in die Jackentasche. Die Nachrichten will sie lieber in Ruhe lesen, wenn keiner sie anstarrt. Nicht Mama und nicht ihre beiden nervigen Brüder.

»Krischan Boysen!«, ruft Mikkel, und einen Augenblick lang sieht es aus, als ob er Krischan Boysen um den Hals fallen will. »Wir sind wieder da! Freust du dich?«

»Bannig, mein Jung, bannig freu ich mich!«, sagt Krischan Boysen. »Ich hab schon ordentlich weiches Lindenholz zurechtgelegt für dich, du willst doch bestimmt mal wieder zum Schnitzen vorbeikommen!«

»Oh, cool!«, ruft Mikkel. Und: »Ich will das aber auch, Herr Boysen! Ich kann!«, ruft Mats.

»Das werden wir alles sehen!«, sagt Mama ungeduldig und wirft einen Blick hoch zum bleigrauen Himmel, aus dem noch immer gleichmäßig der Regen fällt: ein feiner Regen, der kaum mehr als ein Nebel ist. »Kannst du uns vielleicht mal eben helfen, Krischan? Wir haben ordentlich zu schleppen!«

»Natürlich, mein Deern, natürlich!«, sagt Krischan Boysen. Er darf »mein Deern« zu Mama sagen, weil er sie schließlich schon gekannt hat, als sie noch ein kleines Mädchen war, da hat sie mit Oma Inge in dem Haus zwischen den Bäumen gewohnt. Und sogar Oma Inge hat Krischan Boysen schon gekannt, als sie noch ein kleines Mädchen war und er ein kleiner Junge, und später waren sie dann sogar mal ein Liebespaar. »Zeig her, was soll ich nehmen?«

Mama öffnet den Kofferraum, und Krischan Boysen pfeift durch die Zähne. »Ohaua-hauaha!«, sagt er. »Habt ihr euren ganzen Hausstand eingepackt?«

»Das sind doch nur die Weihnachtsgeschenke!«, sagt Martha, und im selben Augenblick würde sie sich am liebsten die Hand vor den Mund halten. Sie hat nicht nachgedacht.

Aber da kneift Mats auch schon die Augen zusammen. »Du bist ja dumm, Martha!«, sagt er. »Weihnachtsgeschenke bringt doch der Weihnachtsmann, der hat doch die Wichtel!« Trotzdem guckt er, als wäre er ein bisschen nachdenklich geworden. »Was ist das denn, Mama? Was ist da drin?« Und er zupft an Mamas Jacke.

Mama sieht aus, als ob sie Martha gerne so richtig durchschütteln würde. »Ach das …«, sagt sie hilflos.

»Das sind wahrscheinlich die Weihnachtsgeschenke für Inge, was?«, sagt Krischan Boysen und stapelt drei Kartons übereinander. »Erwachsenen bringt der Weihnachtsmann ja leider nichts!«

Mama atmet auf, aber Mats guckt immer noch ein bisschen misstrauisch zwischen ihr und Krischan Boysen hin und her. »Ist das alles der Kaffeeautomat, den du gekauft hast, Mama?«, fragt er und beugt sich schon über den Kofferraum. »Ich trag auch was.«

Doch Mama ist schneller. »Du nimmst deine Tasche, Matsi!«, sagt sie. »Und Mikkel nimmt seinen Rucksack. Die Kartons schaffen Krischan und ich alleine. Nun mal los!«

Da guckt Mats ein bisschen maulig, aber Mikkel hat schon die Pforte zur Kuhweide geöffnet und sich auf den Weg zum Haus gemacht, und dass Mikkel vor ihm bei Oma Inge ankommt und bei Tiger und Mahler und den Hühnern und Gänsen und überhaupt allem, will Mats nun ganz bestimmt nicht.

»Warte mal, Mikkel!«, ruft Mats. »Warte mal, gefälligst! Du bist gemein!«

»Und du überlegst in den nächsten Tagen lieber ein bisschen, bevor du etwas sagst, Martha!«, sagt Mama und hebt Marthas Rollkoffer aus dem Auto. »Du musst den Jungs ja nicht ihre ganze Weihnachtsfreude kaputt machen mit deiner Gedankenlosigkeit!«

Martha antwortet nicht. Sie guckt auf die Weide und dann auf ihren Koffer. Ein richtiger, gepflasterter Weg wäre vielleicht doch nicht schlecht. Mit einem Rollkoffer durch diesen Matsch, das wird kein Vergnügen.

3.

Ein Trolleykoffer ist natürlich ein Trolleykoffer, damit man ihn rollen kann und nicht tragen muss, aber an Wege wie diesen über die Kuhweide haben die Kofferbauer wahrscheinlich nicht gedacht. Sonst hätten sie doch die Räder größer gemacht, dann würde es vielleicht gehen. So geht es jedenfalls nicht.

Martha packt den Koffer am Griff. Warum hat sie bloß so viele Klamotten eingepackt? Bei Oma Inge muss sie sich nun wirklich für niemanden aufbrezeln. Außer vielleicht für Enes. Vielleicht.

Oder doch nicht mehr. Oder doch.

Sie denkt an die beiden WhatsApps und wechselt den Koffer von rechts nach links. Ja Mist! Wieso denk ich denn schon gleich wieder an Enes? Kaum, dass ich hier bin? Zu Hause war doch noch alles ganz klar!

Vor sich hört sie Mikkels Freudenschrei. »Mahler!«, brüllt Mikkel. »Mahler, ich bin wieder da!« Und dann sieht sie, wie ein großer, brauner Hund aus dem Haus auf Mikkel zugestürmt kommt, und sein Schwanz geht so schnell und so heftig hin und her, dass man ihn kaum mehr erkennen kann. »Hast du mich vermisst, Mahler? Hast du gedacht, ich komm nie mehr wieder?«

Und das hat Mahler vielleicht wirklich gedacht, sonst würde er nicht so unglaublich begeistert sein, dass Mikkel jetzt wieder da ist, und ihn fast umwerfen und ihm mit seiner Zunge über das Gesicht schlecken, nur Mikkel, und nicht Mats und Martha. Und das ist ja vielleicht auch ganz in Ordnung so, weil es doch Mikkel war, der sich immer am dollsten von ihnen allen einen Hund gewünscht hat und darum im Herbst sogar aus Versehen einen entführt hatte. Und als Krischan Boysen dann Oma Inge den alten Mahler aus dem Tierheim geschenkt hat, war es wieder Mikkel, der sich jeden Tag von morgens bis abends um ihn gekümmert hat, damit er sich schnell eingewöhnt.

»An mir sollst du auch hochspringen, Mahler!«, ruft Mats empört und bleibt stehen. Seine SpongeBob-Tasche lässt er achtlos auf den matschigen Boden plumpsen. In der anderen Hand hält er schließlich Schröderson, seinen Kuschelhund, und mindestens eine Hand braucht er ja gleich, um Mahler zu begrüßen. »Ich bin doch auch dein Freund!«

Und tatsächlich guckt Mahler jetzt Mikkel entschuldigend an, und dann läuft er zu Mats. Aber vielleicht fällt diese Begrüßung nicht ganz so überschwänglich aus.

»Nun ist Mahlers Welt wieder in Ordnung!«, sagt Oma Inge und lächelt. Martha hat gar nicht gesehen, wie sie aus dem Haus gekommen ist. Da steht sie nun in ihrer Sonntagshose und einer Bluse, die sie bestimmt auch nur zu besonderen Anlässen anzieht, vor der geöffneten Küchentür, durch die ein warmes, gelbes Licht nach draußen auf die allmählich dämmerige Weide fällt, und sieht aus, als ob sie sich kein bisschen weniger freut als Mahler. »Nun ist seine ganze Familie wieder vereint!«

Und ich freu mich auch, denkt Martha, oh Gott sei Dank, ich freu mich auch! Und zum Glück ist da jetzt wirklich wieder dieses Gefühl, auf das sie bis eben vergeblich gewartet hat, zuerst auf der verregneten Fahrt und dann hier in Matsch und Grau. Das wunderbare Sommerby-Gefühl, das sie im Sommer zum ersten Mal erlebt hat, das Sommerby-Glücksgefühl. Ich bin wieder hier!, denkt Martha. Ich bin tatsächlich wieder hier!

In der heraufziehenden Dämmerung schwappen kleine Wellen gegen den Steg, an dem die Schrecken der Meere auch jetzt im Winter immer noch liegt, und in der Marina gegenüber spiegelt sich Licht aus den Fenstern der Häuser der kleinen Stadt auf dem Wasser. Dort sitzen die Menschen jetzt bei Kerzen und Weihnachtsgebäck, und wenn nicht das Heulen des Windes wäre und nicht Mahlers Freudengebell, dann könnte sie vielleicht sogar einen Hauch der Weihnachtslieder hören, die der Chor gerade in der erleuchteten Kirche probt, wie sie im Sommer manchmal abends von drüben den Wind in den Wanten der Segelboote und das Lachen der Menschen an Deck gehört hat.

Martha lächelt. Fast wäre ihr gar nicht aufgefallen, dass sich neben Oma Inge noch jemand durch die Küchentür nach draußen drängelt.

Aber Mats hat es natürlich bemerkt. »Dilara!«, brüllt Mats. »Guck mal, Martha, da ist Dilara! Dilara, ich hab eine Überraschung für dich!«

Und Dilara guckt schon wieder so streng, wie es sonst kein Kind tut, das Martha kennt. »Du hast deine Tasche vergessen!«, sagt sie und zeigt hinter Mats auf die Weide, wo seine SpongeBob-Tasche noch immer im winterlichen Gras liegt. »Die ist jetzt ganz dreckig, wetten?«

»Gar nicht!«, sagt Mats böse und hebt die Tasche auf. Ein bisschen hat Dilara aber vielleicht leider recht.

»Was ist die Überraschung?«, fragt Dilara. Dann muss sie ihm auch noch was erzählen. »Da war ein Regenbogen, vorhin! Bei Krischan Boysen!«

Aber das findet Mats nun wirklich nicht so interessant. Regenbogen hat er schon öfter gesehen, und inzwischen sind auch Mama und Krischan Boysen beim Haus angekommen, und Oma Inge hält für sie die Tür auf. »Dann mal alle rein in die gute Stube!«, ruft sie. Dabei gehen sie natürlich nur in die Küche.

Martha wirft Oma Inge einen Blick zu. Lässt sie Krischan Boysen heute also einfach so mit rein? Sagt sie ihm nicht gleich wieder, dass er jetzt nach Hause gehen kann, wie sie das im Herbst immer getan hat? Da hat Krischan Martha natürlich erklärt, warum Oma Inge immer so unfreundlich zu ihm war.

Aber als Martha die Stühle am Tisch zählt, steht da nicht nur einer für Dilara, sondern auch für einer Krischan Boysen. Dabei konnte Oma Inge doch eigentlich gar nicht vorher wissen, dass er Mama beim Schleppen helfen würde.

»Stellt die Sachen mal erst in den Flur!«, sagt Oma Inge. »Oder muss irgendwas in den Kühlschrank? Zuerst wollen wir zusammen ordentlich Kaffee trinken, was?«

Aus dem Radio kommt Weihnachtsmusik, und auf dem Tisch steht ein Adventskranz, an dem brennen drei Kerzen. Und daneben steht noch eine Figur aus Ton, die soll vielleicht ein Engel sein und ist ein bisschen unordentlich bemalt.

»Hat eure Mama mir geschenkt, als sie noch klein war!«, sagt Oma Inge. »Hat sie für mich gebastelt! Ist der nicht schön, der Engel?«

»Dass du den aufgehoben hast!«, sagt Mama.

Mats guckt skeptisch. »Der ist voll Schrott!«, sagt er dann mit Überzeugung. »In meiner Kita haben wir auch gebastelt.«

Dilara kneift die Augen zusammen. »Was denn?«, fragt sie. »Ist deine Überraschung was Gebasteltes? Das kannst du behalten. Gebastelt ist für Erwachsene. Ich will lieber gekauft.«

Mats nickt. »Die freuen sich immer!«, sagt er zustimmend, und vielleicht fragt er sich jetzt gerade, warum Mama und Papa über seine Klorollen-Hunde und Filtertüten-Hasen immer so jubeln. Die sollen bloß nicht anfangen, für ihn auch zu basteln. Mats wünscht sich jedenfalls andere Geschenke.

»Schade, dass Nils noch nicht hier ist«, sagt Oma Inge.

Mama kommt aus dem Flur zurück, wo sie ihren Koffer und eine Plastiktüte abgestellt hat. »Dubai!«, sagt sie und seufzt. »Geschäftlich. Das kam ganz kurzfristig. Du kannst mir glauben, begeistert war er auch nicht.«

»Hoffentlich schafft er es bis zum Heiligabend«, sagt Oma Inge. »Kann ja vielleicht auch mal was anderes wichtiger sein als Geschäfte.«

Martha sieht, wie Mama schon den Mund öffnet, dann aber doch nichts sagt. Es gibt viele Themen, bei denen sich Mama und Oma Inge nicht einig sind.

»Du hast einen schönen Adventskranz, Inge!«, sagt Dilara. »Das sind ganz neue Kerzen!«

Martha guckt auf den Kranz. Dilara hat recht. Gerade eben erst angezündet. Als sie gekommen sind. Haben die Kerzen denn bisher noch gar nicht gebrannt?

»Du sagst zu meiner Oma immer einfach Inge!«, sagt Mats empört. »Sag mal Frau Inge. Weißt du nicht, wie höflich sein geht?«

»Piep, piep, piep!«, sagt Dilara und schüttelt den Kopf.

Und wo ist denn überhaupt wohl Enes? Sonst sind Enes und Dilara doch meistens zusammen gekommen. Aber fragen will Martha lieber nicht. Ist ihr doch sowieso egal.

Oma Inge guckt ihren Kranz an und zögert einen Augenblick, bevor sie Dilara endlich antwortet. »Ich hatte die erste Runde Kerzen einfach so oft an, da waren die total runtergebrannt!«, sagt sie. »Also hab ich heute neue gebraucht. Kekse?« Und sie zeigt auf einen Pappteller mit einem Muster aus Wichteln und Schlitten und Tannenzweigen, der sieht ein bisschen abgegrabbelt aus, und darauf liegen mindestens fünf verschiedene Sorten Weihnachtskekse.

»Hatte Mama den als Kind auch schon?«, fragt Martha und guckt skeptisch auf den Teller.

Oma Inge nickt. »Jedes Jahr wieder!«, sagt sie. »Man muss es sich doch adventlich machen!«

Aber Martha sieht an Mamas Gesicht, dass sie in dieser Frage wieder nicht einer Meinung mit Oma Inge ist, und Martha weiß auch, warum. Jahrelang derselbe Pappteller! Den man nicht mal abwaschen kann! Und dann Lebensmittel darauf anbieten!

Martha schnappt sich schnell einen Keks, der hat eine Form wie ein unordentliches S, das man an beiden Enden in Schokolade getaucht hat.

»Hast du die selber gebacken, Oma?«, fragt sie. »Lecker!«

Oma Inge nickt. »Wat mutt, dat mutt!«, sagt sie. »Die Rezepte sind noch von meiner Mutter.«

»Ich hab auch Kekse gemacht!«, sagt Mats mit vollem Mund. »Mit Tülay! In der Kita! Aber schöner, du! So Geweihtiere und Sterne! Willst du die sehen?«

Erst da fällt Martha auf, dass ein Stuhl noch immer leer ist. Mikkel hat nur kurz seinen Rucksack im Flur abgestellt, bevor er sich aufgemacht hat, um zu gucken, ob bei Oma Inge noch alles in Ordnung ist.

4.

Einen Augenblick hat Mikkel überlegt, ob er sich zu den anderen an den Kaffeetisch setzen muss. Aber dann hat er gedacht, dass es in Omas Küche mit all den vielen Menschen sowieso schon drängelig genug ist, da fehlt er doch bestimmt niemandem. Und als Erstes muss er jetzt unbedingt nach Oma Inges Tieren gucken.

»Komm mal mit, Mahler!«, sagt er und legt dem Hund eine Hand auf den Rücken. Dass Mahler bei ihm geblieben ist, anstatt mit den anderen ins Haus zu gehen! Natürlich ist Mahler eigentlich Oma Inges Hund, in Mikkels Wohnung in Hamburg wäre es ja auch überhaupt nicht so schön für ihn; aber vielleicht glaubt er trotzdem, dass er ein bisschen auch Mikkels Hund ist? Immer, wenn Mikkel zu Besuch kommt?

So können wir es doch machen, denkt Mikkel zufrieden. Sonst gehört Mahler Oma Inge, aber wenn ich hier bin, gehört er mir. Das ist doch gerecht. Oma Inge sagt schließlich auch immer, dass man teilen muss.

Tiger liegt nicht auf dem Stein, auf dem er sich im Sommer immer gesonnt hat, aber das ist ja auch klar. Sonne gibt es schließlich gerade nicht, und kein Kater der Welt legt sich doch wohl freiwillig in den Nieselregen. Bestimmt ist Tiger stattdessen jetzt wieder auf seinem Platz auf der Fensterbank in der Küche. Um Tiger macht Mikkel sich keine Sorgen.

Und mit den Hühnern ist auch alles in Ordnung, das sieht er gleich. Denen macht das bisschen Regen ja vielleicht nicht so viel aus? Oder es gibt bei Regen für sie sogar die fettesten Regenwürmer? Außerdem könnten sie schließlich in ihr Hühnerhaus verschwinden, wenn sie nicht nass werden wollen, nachts sind sie da doch sowieso immer. Die Tür steht offen, also dürfen die Hühner selber entscheiden.

»Putt, putt, putt, putt!«, sagt er zu ihnen, damit sie wissen, dass er jetzt wieder da ist. »Putt, putt, putt!«, sagt Oma Inge auch immer zu ihren Hühnern. Aber was es genau bedeutet, konnte sie ihm nicht erklären. »Ich komm gleich noch mal und sammel die Eier ein, okay?«

Nach denen kann er jetzt nämlich leider nicht auch gleich noch gucken. Zuerst muss er sehen, was aus Oma Inges Gänsen geworden ist.

Mikkel geht vorsichtig ums Haus herum. Schon als sie im Herbst gekommen sind, hatte er ziemliche Angst, dass keine Gänse mehr da sein würden. Weil Oma Inge ihm nämlich im Sommer erklärt hat, dass sie Gänse nicht deshalb hält, weil sie Tiere so gerne mag oder weil sie supertolle Wachtiere sind und jeden Einbrecher verjagen, sondern um sie zu verkaufen. Wenn sie erst mal fett genug sind. Damit Leute sie schlachten können. Dann sind sie eine Martinsgans, oder es gibt sie zu Weihnachten als Braten.

»Komm mit, Mahler!«, sagt Mikkel noch mal, obwohl das überhaupt nicht nötig ist. Mahler kommt sowieso. Aber Mikkel traut sich nicht so richtig um die Ecke. Gleich wird er wissen, ob er Oma Inge immer noch so lieb haben kann wie bisher.

Und dann geht das Geschnatter los, kaum ist Mikkel hinter dem Haus. Dabei kennen Oma Inges Gänse ihn doch! Er hat sie doch schon so oft gefüttert!

»Ich bin das nur!«, ruft Mikkel erleichtert und geht ganz nah an den Gehegezaun. »Kennt ihr mich nicht mehr?«

Dann sieht er, dass er zu früh aufgeatmet hat. Nur noch sechs Gänse! Nur noch sechs Gänse in Oma Inges Gehege, und vorher waren es so viele! Wo sind all die anderen geblieben?

»Sie hat es doch gemacht, Mahler!«, flüstert Mikkel und guckt erschrocken zu seinem Hund. »Sie hat gar nicht auf mich gehört!«

Und in seinem Kopf oder in seinem Herzen mischen sich Erschrecken und Kummer und Zorn auf die gemeine Oma Inge mit dem Rest des Glücksgefühls, das er bis eben gespürt hat, weil er endlich wieder in Sommerby ist; und bisher hat er gar nicht gewusst, dass so ein Gefühls-Kuddelmuddel geht. »Oma Inge ist voll brutal!«

Mahler guckt ihn nachdenklich an und wedelt einmal ganz langsam mit dem Schwanz, da weiß Mikkel nicht, ob das bedeutet, dass er ihm zustimmt oder nicht. Eine winzige Sekunde überlegt er, ob Oma Inge wirklich brutal ist, weil sie ihre Gänse zum Schlachten gibt.

Aber das ist wirklich ein dummer Gedanke. Natürlich ist es brutal, wenn man Tiere totmachen lässt! Nur weil Oma Inge sonst lieb ist, darf sie doch so was trotzdem nicht tun!

»Ihr seid wenigstens noch da!«, sagt Mikkel und guckt zu den sechs Gänsen hin, die jetzt wieder friedlich im Regen picken, als fänden sie ihn sogar schön. »Wollt ihr gar nicht in euer Haus? Ihr seid ja nicht aus Zucker, was?«

Das sagt Oma Inge immer, wenn es regnet, und das stimmt ja auch. Mikkel ist auch nicht aus Zucker, und darum kann er ruhig noch ein bisschen draußen bleiben und gucken, was sonst so los ist in Oma Inges Garten. Vielleicht vergisst er dann die traurige Geschichte mit den Gänsen.

Er geht zum Schuppen. Noch immer ist da der verwaschene Schriftzug zu lesen, den der gemeine Makler im Sommer auf die Holzwände gesprüht hat, als er Oma Inge aus Sommerby vertreiben wollte. Aber jetzt haben sie den ja besiegt, haha.

Die Stauden, die bei Mikkels erstem Besuch bei Oma Inge im Schuppenbeet geblüht haben wie verrückt, Herbstanemonen und Stockrosen und Mädchenauge, sind struppig geworden. Vielleicht sollte Oma Inge sie lieber mal schneiden? Das würde schöner aussehen. Die kommen doch im nächsten Frühjahr trotzdem wieder, das hat Krischan Boysen ihm erklärt.

Aber dann hat Mikkel keine Zeit mehr, über verblühte Stauden nachzudenken. Was ist denn das? Was ist denn das da vor dem Schuppenbeet?

»Guck mal, Mahler!«, ruft Mikkel. »Guck mal, was Oma Inge da hingestellt hat!« Im matschigen Gras steht eine Art Kasten aus Draht, der ist an beiden Seiten offen, und innen drin liegt ein Ei. »Was ist das, Mahler?«

Dabei ahnt Mikkel es doch! Was soll der Metallkasten denn sonst wohl sein? Und warum hat Oma Inge ein Ei reingelegt? Mikkel geht in die Hocke, damit er besser gucken kann. Natürlich, eine Frau, die Gänse schlachten lässt, sogar eine nette, bringt auch andere Tiere mit einer Falle um! Im Herbst haben Mikkel und Mats darum heimlich eine Mausefalle ins Wasser geschmissen, die sie in Oma Inges Badezimmer gefunden hatten. Die kleine Maus hat das aber leider nicht gerettet.

Und nun hat Oma Inge schon wieder eine Falle aufgestellt, diesmal sogar für ein größeres Tier! Für ein größeres Tier, das Eier frisst, da weiß Mikkel gar nicht so genau, was das für eins sein könnte. Natürlich ist Oma Inge oft ziemlich wütend auf die Rehe, weil die ihr all ihre Blumen wegfuttern, aber Rehe mögen ja ganz bestimmt keine Eier. Und so groß ist die Falle außerdem auch nicht, dass ein Reh da reinpassen würde.

»Wir tun die in den Schuppen, Mahler!«, flüstert Mikkel und guckt, ob die Tür jetzt am Tag abgeschlossen ist. Zum Glück ist sie das nicht. »Das dürfen wir! Das ist nicht wie ins Wasser schmeißen! Da kann Oma Inge sie immer wieder rausholen!«

Und Mahler sieht auch nicht aus, als ob er das schlimm findet, sondern wedelt zustimmend mit dem Schwanz, als Mikkel vorsichtig an den Seiten ins Drahtgeflecht greift und die Falle anhebt. Er muss ja vorsichtig sein, damit sie nicht zuschnappt und ihm womöglich noch den Arm bricht. Aber er ist schließlich kein Baby mehr. Nur das Ei kullert leider auf den Boden und zerbricht, aber so was kann schließlich mal passieren.

Im Schuppen stellt Mikkel die Falle oben auf Oma Inges Werkbank und nickt Mahler zu, der ihn noch immer aufmerksam beobachtet. »Das haben wir beide gut gemacht, Mahler!«, sagt er. »Jetzt haben wir ein Tier gerettet.« Und er ist froh, dass er nur ein ganz winziges bisschen ein schlechtes Gewissen hat, weil er Oma Inge schon wieder eine Falle weggenommen hat. Das musste er ja, um Leben zu retten. Weil Leben retten nämlich wichtiger ist. Überhaupt das Allerwichtigste auf der Welt.

Und weil Mikkel nun weiß, dass bis auf die Gänse alles in Ordnung ist, und weil er schon gleich in der ersten halben Stunde in Sommerby so was Wichtiges erledigt hat, kann er jetzt auch ins Haus gehen und mit den anderen Kaffee trinken.

5.

Martha ist auf den Dachboden gestiegen. Warum hat sie Alberts WhatsApps nicht einfach in der Küche gelesen, wo Mama und Oma Inge sich noch immer unterhalten?

Hier oben sieht es genauso aus wie bei ihrem letzten Besuch im Herbst. Auf dem Boden die drei Matratzen für Mikkel, Mats und sie, in der Ecke die alte Stehlampe und der Sessel; und daneben die eingeschweißten Stapel aus leeren Marmeladengläsern, in die Oma Inge im Sommer wieder ihre Marmeladen füllen wird, damit Hannes in seinem Laden in der kleinen Stadt sie an die Touristen verkaufen kann und Enes und Dilaras Mutter Aylin in ihrer Schnasselbude auf der Steuermannsinsel auch. Martha spürt ein warmes Gefühl, als wäre sie nach Hause gekommen.

Sie geht ans Fenster. Längst ist es so dunkel geworden, dass draußen nur noch Schatten zu sehen sind, Baumschatten, Sträucherschatten, die Schrecken der Meere. Aber gerade schiebt sich am Himmel der Mond zwischen den Wolken hervor und spiegelt sich im Wasser.

Martha geht zum Sessel. Albert wartet doch längst auf eine Antwort! Warum drückt sie sich davor, seine Nachrichten zu lesen?

Sie guckt auf das Display, wo Alberts winziges Gesicht eine Grimasse schneidet, das Foto ist neu.

Angekommen?, schreibt er. Alles gut?

Zum Glück tippen Jungs ja nicht immer gleich hundert Herzen in ihre Nachrichten, da ist es doch eigentlich okay. Als sie im Herbst nichts von Enes gehört hat, hat Martha sich damit getröstet, dass Jungs eben nicht dauernd WhatsApps verschicken. Die chatten nicht so gerne wie Mädchen, hat Isolde gesagt, Isolde, die jetzt selbst auch nicht mehr mit Martha chattet. Wieso muss denn immer alles so kompliziert sein?

Alles super!, schreibt Martha zurück. Wenigstens einen Grinse-Smiley tut sie noch dazu, der bedeutet gar nichts. And how R U?

Obwohl, das war blöd, jetzt muss er ihr ja wieder antworten. Und eigentlich will Martha im Augenblick lieber gar nichts von Albert hören, das merkt sie gerade so richtig. Nicht hier in Sommerby! Seine Nachrichten gehören hier irgendwie nicht hin.

Martha rückt den Sessel ans Fenster, wo der Mond jetzt wieder verschwunden ist. Kein Mond, keine Sterne, nun gibt es nur noch die Lichtpunkte in der kleinen Stadt gegenüber.

Warum muss alles so kompliziert sein, wenn sie doch selbst überhaupt nichts dafür kann? Mit Enes. Mit Isolde. Mit Albert. Sie kann nichts dafür, aber sie muss es jetzt ausbaden.

Martha zieht die Beine auf die Sitzfläche und schlingt die Arme um ihre Knie. Dabei ist sie Albert eigentlich nur für Isolde hinterhergeschlichen. Weil Isolde gesagt hat, es darf auf keinen Fall so aussehen, als ob sie in Albert verliebt ist. Darum musste Martha immer mitkommen, wenn sie in den Pausen auf dem Schulhof ganz zufällig an ihm und seiner Gruppe vorbeigeschlendert sind. Dann hat Isolde so ein glockenhelles Lachen ausgestoßen und ihre Haare zurückgeworfen, und Martha hat gedacht, es ist ja schon vollkommen klar, dass Isolde in jedem Urlaub immer so tolle Jungs kennenlernt und dass die sich in sie verlieben. Nur bei Albert hat es länger gedauert.

Was hat Isolde denn ausgerechnet an Albert gefunden? Martha hat doch auf dem Handy die Fotos ihrer Urlaubsfreunde gesehen, die sahen alle unglaublich gut aus. Und Albert ist eher so mittel und außerdem viel zu klein und auch keiner von den Beliebtesten in der Klasse, und dass er gut in Mathe ist, kann ja wohl kaum der Grund sein.

»Wo die Liebe hinfällt!«, hat Isolde geantwortet und mit den Achseln gezuckt, als Martha sie gefragt hat. »Ich finde ihn einfach gut.«

Sogar nach der Schule haben sie ihm aufgelauert, ganz trickreich, damit es nicht auffällt.

»Oh, hallo Albert!«, hat Isolde gesagt. Sie waren extra zu der Bushaltestelle gegangen, an der Albert immer auf seinen Bus wartet, da würden sie ihn wenigstens mal ohne seine Kumpel erwischen, hat Isolde erklärt. Natürlich hat sie ganz überrascht getan, als er dann tatsächlich dastand. »Wie cool, dass du hier bist! Kannst du mir bitte, bitte, bitte mal helfen? Bitte, bitte, bitte! Bei meinem Handy ist irgendwas verstellt, ich komm überhaupt nicht mehr ins Netz, du kennst dich doch so gut mit Computersachen aus!« Wenigstens hat sie nicht auch noch mit den Augen geplinkert.

Wie peinlich!, hat Martha gedacht. Muss man sich wirklich so bescheuert aufführen, wenn man einen Jungen in sich verliebt machen will? So tun, als ob man vollkommen blöde wäre? Dann war es vielleicht kein Wunder, dass es mit Enes und ihr noch nicht richtig geklappt hat, mit dem hat sie bestimmt immer viel zu normal geredet.

Albert hat das Handy genommen und es Isolde schon zehn Sekunden später zurückgegeben. »War auf Flugmodus«, hat er gesagt. Er hat nicht verliebt ausgesehen dabei und nicht mal verlegen, verlegen hätte schließlich auch verliebt bedeuten können. Aber Albert hat eher so ausgesehen, als ob er ein Mädchen, das nicht mal merkt, wenn es den Flugmodus eingestellt hat, ziemlich albern findet.

»Oh, wirklich?«, hat Isolde gerufen. »Wie peinlich! Dann hab ich heute Morgen wohl vergessen, den auszuschalten!« Und sie hat Albert so angeguckt, dass Martha gedacht hat, wenn er jetzt nicht begreift, was da gerade läuft, dann muss er schon ziemlich beschränkt sein.

»Kann passieren«, hat Albert gesagt, und dann ist auch schon sein Bus gekommen, und Martha und Isolde sind natürlich nicht mit eingestiegen, weil sie in eine ganz andere Richtung mussten und außerdem sowieso nicht mit dem Bus.

»Martha?«, ruft Mama von unten. »Ist alles okay?« Immer muss Mama sie kontrollieren.

»Was soll denn sein?«, ruft Martha zurück.

Es ist alles nicht ihre Schuld.

6.

Als Mikkel in die Küche zurückkommt, sind die anderen schon dabei, das Geschirr abzuwaschen.

»Was sind das denn für Küchenhandtücher?«, fragt Mama und verzieht das Gesicht. Sie schwenkt das schöne Handtuch durch die Luft, auf dem ganz verwaschen nur noch ein Hauch von Bergen und Schnee und Sonne zu erkennen ist. Auch »Gruß aus Tirol« kann man kaum mehr lesen, aber das hat Mikkel beim Abtrocknen bisher nie gestört. »Die hatten wir ja schon, als ich noch ein Kind war! Die sind doch schon ganz oll!«

»Das bin ich auch!«, sagt Oma Inge und kratzt die Kekskrümel von allen Tellern sorgfältig zusammen. Dann geht sie zur Küchentür und schüttet sie draußen auf einen Stein. »Weihnachtskekse für die Vögel! Und du, wo hast du denn gesteckt, Mikkel?«

Und genau darum fällt es Mikkel wieder ein. Weil das mit den Kekskrümeln so nett von Oma Inge ist. Dabei ist sie sonst doch überhaupt nicht nett zu den Vögeln! Nicht zu allen jedenfalls. »Du hast es doch gemacht!«, ruft Mikkel. Nun hatte er eben so schön nur noch daran gedacht, dass er gleich an seinem ersten Tag in Sommerby einem Tier das Leben gerettet hat, aber jetzt fallen ihm die Gänse wieder ein. »Du hast sie doch verkauft! Und Leute haben sie gegessen!«

Oma Inge guckt ihn an, als hätte sie sich gewünscht, dass er das Fehlen der Gänse niemals bemerkt. Aber Mikkel kann ja wohl zählen.

»Sechs sind noch da!«, sagt sie. Klingt sie wirklich, als ob sie um Verzeihung bittet? »Meine Brutpaare!« Aber sie sieht aus, als ob sie selbst weiß, dass das für Mikkel als Entschuldigung nicht reicht.

»Aber die anderen sind weg!«, ruft Mikkel. »Die sind jetzt bestimmt alle tot! Und du hast Schuld!«

Oma Inge holt tief Luft. Im Herbst hat sie ihm noch erzählt, dass die beiden Gänse, die an einem Abend plötzlich gefehlt haben, ausgebüxt waren, weil sie vergessen hatte, das Gehege zu schließen. Und vielleicht hat er das damals auch geglaubt, ein bisschen wenigstens. Das kann Mikkel: Schöne Dinge glauben, wenn er sie glauben will. Aber mittlerweile glaubt er ihr gar nichts mehr.

»Oder sind die dir wieder alle weggelaufen, was?«, ruft er. Wenn Oma Inge jetzt wirklich so was sagt, wird Mikkel aber mal richtig böse. Das weiß Oma Inge ja noch gar nicht, dass Mikkel richtig böse werden kann! Bei Mats weiß man das schnell. Aber Mikkel ist eben meistens friedlich.

Bevor Oma Inge etwas sagen kann, mischt sich Krischan Boysen ein. Sein Krischan Boysen, mit dem Mikkel immer schnitzt! Aber Krischan ist auch Oma Inges Krischan Boysen.

»Nun wunder ich mich aber schon ein bisschen über dich, Bengel!«, sagt er. »Wo du doch sonst so viel Verstand hast! Wovon soll deine Oma denn wohl leben, was? Nur vom Marmeladeverkaufen? Das reicht nicht, Mikkel, das reicht doch hinten und vorne nicht! Und hier hatten die Gänse doch wenigstens ein glückliches Leben!«

Mikkel guckt böse auf den Boden. Oma Inge soll leben, aber die Gänse sollen auch leben. Warum geht das denn nicht beides zusammen?

»Und außerdem waren die Chicken Nuggets, die du so gerne isst, früher mal Hühner!«, sagt Martha. Sie ist gerade erst in die Küche gekommen. »Ich sag dir schon ewig, ich versteh nicht, warum jemand, der Tiere so mag wie du, nicht längst Vegetarier ist!«

»Die Hühner hab ich ja nicht gekannt!«, sagt Mikkel. Aber er weiß selbst, dass das ein bisschen albern ist.

»Die Leute, die Omas Gänse gegessen haben, haben die auch nicht gekannt«, sagt Martha. »Lahme Entschuldigung.«