Mittsommerherzen

Pia Engström

Das Schloss am See

                                             

Pia Engström

Hand aufs Glück

                                             

Pia Engström

Traumschiff vor Stockholm

MIRA® TASCHENBUCH

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erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Originalausgabe

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Getty Images, München

ISBN eBook 978-3-95576-333-6

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder

auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Pia Engström

Das Schloss am See

Roman

1. KAPITEL

Tiefblau schimmerte der Siljansee im klaren Sonnenlicht. In seiner Oberfläche spiegelten sich die Wipfel der Bäume und die mit samtigem Grün überzogenen Berge Dalarnas.

Grün, so viele Facetten von Grün. Dunkel und schattig wie das der Kiefern- und Fichtenwälder oder leuchtend wie die Kronen der Birken und Weiden am See. Von gelben Butterblumen und weißem Tausendschön gesprenkelte Wiesen, auf denen Kühe weideten, und Obstbäume, deren Äste sich unter der Last der Früchte bogen. Dazwischen blitzte immer wieder das Falunröd, das leuchtende Rot der Häuser, auf. Mit ihren weißen Giebeln und Fensterrahmen sahen sie aus der Entfernung wie winzige Puppenstuben aus.

Hannes Westenberg stand auf einer Anhöhe am gegenüberliegenden Seeufer. Seine Jacke flatterte im Wind, der von den schneebedeckten Bergen im Norden her blies. Die Luft war mild, aber frisch und sauber, und der Anblick, der sich ihm eröffnete, schien geradewegs einem Bilderbuch entsprungen zu sein.

Trotzdem hätte Hannes jederzeit den Trubel und die Hektik der Großstadt vorgezogen.

Er warf einen Blick auf die Uhr und runzelte die Stirn. So spät schon? In diesen langen schwedischen Sommernächten sank die Sonne, wenn überhaupt, erst sehr spät am Abend. Dadurch hatte er vollkommen die Zeit aus den Augen verloren. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und es gab noch eine Menge zu erledigen. Je schneller er diese leidige Angelegenheit hinter sich brachte, umso eher konnte er dem Heimatland seiner verstorbenen Mutter den Rücken kehren. Doch er glaubte nicht, dass er vor Ablauf einer Woche wieder in Hamburg sein würde.

Er ging zurück zu seinem Wagen, den er am Fuß der Anhöhe abgestellt hatte, stieg ein und setzte seinen Weg fort. Der Straßenrand war gesäumt von Wildblumen, dahinter erstreckten sich ausgedehnte Weiden und Wälder. Doch die landschaftlichen Reize seiner Umgebung waren an Hannes vollkommen verschwendet. Er hatte keinen Sinn für die Schönheiten der Natur. In Hamburg war er geboren und aufgewachsen, hatte danach lange Jahre in Paris, London und Rom gelebt. Er war ein Kind der Großstadt, und ein gelegentlicher Spaziergang an der Binnenalster, mit anschließendem Espresso auf der Terrasse seines Lieblingsitalieners, genügte seinem Anspruch an Freiluftaktivitäten vollkommen.

Für mehr ließ ihm sein aufreibender Job auch gar keine Zeit. Und freiwillig, so viel stand fest, hätte er diese überstürzte Reise nach Schweden nicht angetreten.

Bei dem Gedanken daran, wie viel von seinem Besuch hier im mittelschwedischen Dalarna abhing, runzelte Hannes die Stirn. Er mochte sich lieber gar nicht erst ausmalen, was ihm bevorstand, sollte er keinen Erfolg haben. Richard Westenberg, sein Vater, würde sich in seiner Meinung bestätigt sehen, dass sein jüngster Sohn, der bis zum Tod seines Bruders einfach in den Tag hinein gelebt hatte, nach wie vor ein Taugenichts war. Und der lachende Dritte wäre Albert, der Sohn von Richards zweiter Frau.

Nein! Hannes hieb mit der flachen Hand auf das Lenkrad seines Mietwagens. So weit durfte es niemals kommen. Er hatte nicht all die Jahre so hart geschuftet, damit Albert am Ende den Sieg davontrug! Nicht ausgerechnet dieser Meister der Intrige – das war er Tobias schuldig …

Rasch schob Hannes die Erinnerung an seinen Bruder beiseite. Jetzt war nicht der richtige Augenblick, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er hatte wahrlich anderes zu tun.

In einhundert Metern biegen Sie links ab.

Hannes reduzierte die Geschwindigkeit und bedachte das Display des Navigationssystems mit einem skeptischen Blick. Mit dem Ding stimmte ganz offenbar etwas nicht. Hier gab es weit und breit keine Straße!

Erst beim zweiten Hinsehen entdeckte er einen schmalen Weg, der von der Hauptstraße abzweigte und direkt in den Wald hineinführte. Die Entfernung stimmte, aber … Nun, versuchen konnte er es ja zumindest, ehe er die Landkarte aus seiner Laptoptasche im Kofferraum herauskramte.

Nach ein paar Hundert Metern wurde der Weg noch schlechter. Hannes liebte schnelle und schnittige Wagen und hatte sich beim Autoverleih für einen kleinen Sportflitzer entschieden, was er nun bereute. Er war schon kurz davor zu wenden, als er bemerkte, dass sich der Wald direkt vor ihm lichtete.

Er holperte weiter, und kurz darauf eröffnete sich ihm der Blick auf das Ziel seiner Reise.

Beringholm Slott.

Das Schloss lag auf einer Halbinsel, die über eine schmale Landbrücke mit dem Ufer verbunden war. Der Grundriss der Burg war rechteckig, mit vier runden Türmen an den Ecken, jeder mit einem grünen Kuppeldach gekrönt. Die Backsteinfassade mit den vorspringenden Giebeln in Kleeblattform leuchtete in einem warmen Braunrot, und die Scheiben der zahllosen Sprossenfenster glitzerten im Sonnenlicht.

Aufregung erfasste Hannes. Soweit er es aus der Entfernung beurteilen konnte, handelte es sich bei dem Schloss um ein wahres Juwel. Dieses herrliche Gebäude gewinnbringend an den Mann zu bringen dürfte sich nicht allzu schwierig gestalten, dachte er.

Doch seine anfängliche Euphorie wurde schon bald gedämpft.

Zu Beringholm Slott gehörte umfangreicher Grundbesitz, der sich über die Wiesen am Seeufer bis weit in den Wald hinein erstreckte. Ein idyllisches Fleckchen Erde, hätte nicht jemand anscheinend ohne Sinn und Verstand niedrige Schuppen darauf errichtet. Erst jetzt bemerkte Hannes auch die vielen Zäune und … Er blinzelte irritiert. Waren das etwa Pferde?

Er runzelte die Stirn. Ja, tatsächlich – und als wäre das noch nicht genug, entdeckte er bei genauerem Hinsehen nun auch noch Esel, Schafe und Ziegen.

Je näher er Beringholm Slott kam, umso schlechter wurde der Weg, sodass Hannes sich schließlich gezwungen sah, seinen Wagen stehen zu lassen und zu Fuß weiterzugehen. Er beschloss, sich zuerst einmal in Ruhe umzusehen und sich später um sein Gepäck und den Wagen zu kümmern.

Das Schloss war gewaltig, doch es befand sich längst nicht in so gutem Zustand, wie Hannes gehofft hatte. Das Dach war an einigen Stellen mit einer schwarzen Plane abgedeckt – vermutlich, um zu verhindern, dass es hineinregnete. Die Glasscheiben einiger Fenster waren zersplittert, als hätte jemand Steine darauf geworfen. Der Burggraben, den man über eine echte Zugbrücke überqueren konnte, wirkte brackig und verschlammt.

Die Fassade hatte offensichtlich ebenfalls bessere Tage erlebt. Backsteine waren beschädigt oder ganz herausgebrochen, Zinnen zerfallen, und einer der kunstvoll geformten Giebel war eingestürzt. Seine Überreste lagen von Moos und Unkraut überwuchert im Burggraben.

Das vermeintliche Juwel hatte Kratzer. Aber die Lage von Beringholm Slott ist und bleibt einzigartig, tröstete Hannes sich.

„Lisbet! Lisbet, komm! Komm schnell!“

Lisbet Carlsson wollte gerade das Futter für die Schweine auf die Schubkarre laden. Auf der Stelle ließ sie die Schaufel fallen und eilte in die Richtung, aus der die helle Mädchenstimme erklang.

Als sie aus dem Schuppen trat, kam ihr die blonde Fünfzehnjährige bereits entgegen. Aleksandra – Aleks – war der älteste ihrer Schützlinge. Sie kam beinahe jeden Tag nach der Schule und in den Ferien oft auch schon am Vormittag zu ihr nach Beringholm Slott. Das schnelle Laufen ließ das Hinken des Mädchens viel deutlicher zutage treten. Bei seiner Geburt waren Komplikationen aufgetreten, die eine teilweise Lähmung der rechten Körperhälfte zur Folge gehabt hatten.

Kaum ein Mensch wusste so gut wie Lisbet, was solch eine Behinderung bedeutete. Sie selbst hatte das Laufen wieder völlig neu erlernen müssen – damals, als ihr altes, scheinbar so perfektes Leben mit einem Paukenschlag geendet hatte …

Hej, Aleks, was ist denn los?“ Lisbet nahm das völlig aufgelöste Mädchen bei den Händen. „Nun hol erst einmal tief Luft, du bist ja ganz außer Atem!“

Aleksandra atmete zwei-, dreimal tief ein und aus.

Lisbet nickte. „So, und jetzt erzählst du mir, was passiert ist, ja? Stimmt etwas nicht mit Charlotte?“

Charlotte hieß die alte Stute, um die Aleksandra sich kümmerte. Das Tier hatte lange Jahre auf einem Gehöft ganz in der Nähe geschuftet. Doch als es seine Aufgaben nicht mehr bewältigen konnte, wollte der Besitzer es zum Abdecker schaffen lassen. Lisbet hatte davon erfahren und den Mann überredet, Charlotte ihr zu überlassen. Jetzt erhielt die Stute ihr Gnadenbrot auf Beringholm Slott – so wie viele ihrer Schicksalsgenossen.

„Nicht Charlotte!“ Energisch schüttelte Aleksandra den Kopf. „Ein Fremder! Da schleicht ein Fremder um das Schloss herum!“

Lisbet kniff die Augen zusammen. „Was sagst du da? Bist du sicher?“

„Ja! Ich habe ihn gesehen, als ich zur Weide hinauswollte.“ Das Mädchen stockte. „Was, wenn er einer von ihnen ist?“

Einer von ihnen … Lisbet wusste gleich, wer damit gemeint war, und ihre Miene verfinsterte sich.

Na wartet – nicht mit mir!

„Geh hinein“, wies sie Aleksandra an. „Auf dem Ofen in der Küche steht frisch gebackener Äppelpaj. Nimm dir ein Stück.“

Besorgt blickte das Mädchen zu ihr auf. „Was hast du denn vor? Sollten wir das nicht besser der Polizei überlassen?“

Als ob die auch nur einen Finger rührt, um mir zu helfen! dachte Lisbet bitter, doch sie sprach es nicht aus. Diese verdammten Rowdys! Sie tauchten meistens gleich zu fünft oder sechst auf ihren lärmenden Motorrädern auf. Das letzte Mal hatten sie ein halbes Dutzend Fensterscheiben im Südflügel eingeworfen – und waren verschwunden gewesen, ehe Wachtmeister Lundberg auf der Polizeiwache in Tålby sich überhaupt aus seinem Schreibtischsessel erhoben hatte.

Aber dieses Mal würden diese Unruhestifter nicht so einfach davonkommen. Dieses Mal nicht!

„Versuch mal, ob du Lars erreichen kannst.“ Lisbet schob Aleksandra in Richtung Tür. „Und mach dir um Himmels willen keine Sorgen um mich – ich weiß schon, was ich tue.“

Sie wartete, bis das Mädchen in der Küche verschwunden war, dann kehrte sie zum Schuppen zurück und öffnete den alten Schrank. Er war stets mit einem Vorhängeschloss gesichert, weil sie darin Verdünner, Lacke und Lasuren aufbewahrte. Dinge also, die nicht in Kinderhände geraten sollten.

Das Gewehr lag, in ein Tuch eingeschlagen, auf dem obersten Regal.

Ehe sie es herausnahm, atmete sie tief durch. So, jetzt könnt ihr was erleben!

Sie wusste, dass sie nicht einfach auf Lars, den achtundzwanzigjährigen Enkel einer alten Freundin, warten konnte. Seine Gärtnerei lag am Stadtrand von Tålby, und selbst wenn Aleksandra ihn sofort erreichte, würde er eine ganze Weile brauchen, um nach Beringholm Slott zu fahren. Bis dahin muss ich irgendwie allein zurechtkommen, dachte Lisbet.

Normalerweise war sie ein wirklich friedliebender Mensch, der keiner Seele etwas zuleide tun konnte. Doch diese Motorradrowdys mit ihren lärmenden Geländemaschinen und ihrer Zerstörungswut hatten den Bogen überspannt, Sie verspürte keine Skrupel, diese gemeinen Kerle mit dem Gewehr zu bedrohen – wobei sie natürlich keineswegs vorhatte, es tatsächlich zu benutzen.

Seit sie vor etwas mehr als sechs Monaten zum ersten Mal aufgetaucht waren, hatten diese Rocker einen Schaden von mehr als hunderttausend Kronen angerichtet, indem sie Fensterscheiben einwarfen, Schuppen abbrannten und Zäune umfuhren. Doch das war längst nicht das Schlimmste: Lisbet gab ihnen indirekt auch die Schuld an Hildas Tod. Ihnen – und Kristof Steen, einem Hotelier aus Mora, der partout nicht akzeptieren wollte, dass Beringholm Slott unverkäuflich war. Mit seiner an Penetranz grenzenden Hartnäckigkeit hatte er der rüstigen Mittsiebzigerin das Leben noch schwerer gemacht.

Ohne den ständigen Stress wäre Hilda am Ende nicht so mutlos und erschöpft gewesen. Und ich müsste mir jetzt keine Gedanken um die Zukunft machen, dachte Lisbet bitter. Weder um meine eigene noch um die meiner Schützlinge.

Doch es war egoistisch, so zu denken. Hilda war immer gut zu ihr gewesen. Die alte Dame und sie hatten einander verstanden, ohne dass viele Worte nötig gewesen wären. Und nun war sie tot – und Lisbet hatte den einzigen Menschen auf der Welt verloren, dem sie wirklich noch vertraut hatte.

Seufzend strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus dem strengen Zopf gelöst hatte. Dann holte sie noch einmal tief Luft und verließ, das Gewehr im Anschlag, den Schuppen.

Sie überquerte den Hof und betrat das schattige Zwielicht des Brückentors, wobei sie sich eng an die Mauer drängte. Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Doch sie hörte eine leise Stimme auf Deutsch, das sie in der Schule gelernt hatte, sagen: „Ich hoffe sehr, dass ich die Angelegenheit hier bald abgewickelt habe. Und danach können wir dann richtig loslegen.“

Lisbet spitzte die Ohren. Würde sie nun endlich erfahren, was die Motorradrowdys im Schilde führten? Doch der Mann hatte das Gespräch bereits beendet.

Dann eben nicht!

Sie hob das Gewehr und drehte sich so, dass der Lauf auf den Fremden gerichtet war.

Der Mann, der gerade sein Telefon in der Innentasche seines Jacketts verschwinden ließ, starrte sie überrascht an. Ganz am Rande registrierte Lisbet, dass er statt Rockermontur einen teuren, offensichtlich maßgeschneiderten Anzug trug, doch davon ließ sie sich natürlich nicht beeindrucken.

„Stehen bleiben!“, rief sie aufgebracht. „Ich warne Sie: Eine falsche Bewegung, und Sie werden nie wieder irgendetwas abwickeln!“

Was zum Teufel …?

Für einen Moment war Hannes sprachlos angesichts dieser atemberaubenden jungen Frau, die mit ihrem Gewehr auf ihn zielte. Es war lange her, dass ihm so ein hinreißendes Geschöpf zum letzten Mal begegnet war – und er machte wirklich keinen Bogen um schöne Frauen.

Seidiges rabenschwarzes Haar umrahmte ein herzförmiges Gesicht, aus dem ihn ein Paar lebhafte blaugrüne Augen anfunkelten. Volle Lippen, hohe Wangenknochen und ein energisch nach vorn gerecktes Kinn entsprachen genau seinem Geschmack.

Nur ihr Gesichtsausdruck, der von wilder Entschlossenheit zeugte, machte ihm den Ernst der Lage bewusst.

Beschwichtigend hob er die Hände. „Immer mit der Ruhe, Prinzessin“, sagte er auf Schwedisch, das er von seiner Mutter gelernt hatte. „Was halten Sie davon, wenn Sie erst einmal das Gewehr herunternehmen? So ein Teil ist nämlich nicht gerade ungefährlich, wissen Sie?“

„Das könnte Ihnen wohl so passen!“ Sie unterstrich ihre Worte, indem sie mit dem Lauf ihrer Waffe in seine Richtung stieß. „Ich weiß nicht, wer Sie sind oder warum Sie Hilda und mir diese Rowdys auf den Hals gehetzt haben. Aber eines verspreche ich Ihnen: Ich werde dafür sorgen, dass Sie und diese Leute sich vor dem Gesetz verantworten müssen!“

Irritiert hob Hannes eine Braue. „Hören Sie, das muss eine Verwechslung sein.“

„Natürlich, eine Verwechslung!“ Die Ironie in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Vermutlich haben Sie sich auf dem Weg nach Tålby verfahren und sind rein zufällig vor meiner Tür gelandet.“

Sie war nicht nur umwerfend schön und offenbar recht schießwütig – nein, sie besaß auch noch eine ganz schön scharfe Zunge.

Hannes atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Er fuhr sonst nicht allzu leicht aus der Haut, aber diese Frau reizte ihn bis aufs Blut – und zwar in mehr als einer Hinsicht.

Doch angesichts der Waffe, die sie noch immer auf ihn gerichtet hielt, erschien es ihm empfehlenswert, sich zusammenzureißen.

„Nun nehmen Sie schon endlich das Gewehr herunter“, forderte er sie auf. „Können Sie mit so einem Ding überhaupt umgehen?“

Zur Antwort lud sie die Waffe durch und richtete sie dann wieder auf den ungebetenen Besucher.

Hannes stieß einen leisen Fluch aus.

„Reicht das?“, fragte sie mit einem herablassenden Lächeln. „Und nun raus mit der Sprache: Gehören Sie zu dieser Motorradrockerbande, oder hat Kristof Steen Sie geschickt?“

Fragend schaute Hannes sie an. „Kristof Steen? Wer soll das sein?“ Als sie ihn, anstatt zu antworten, mit einem finsteren Blick bedachte, zuckte er mit den Schultern. „Nun, wer immer das auch ist, er ist nicht zu beneiden. Wo er sich doch offensichtlich den Zorn der schönen Prinzessin zugezogen hat …“

„Hören Sie auf, mich so zu nennen!“, fauchte sie.

„Da Sie mir Ihren Namen noch immer nicht verraten haben, muss ich mich ja irgendwie behelfen.“ Trotz der bedrohlichen Situation fand er zu seinem eigenen Erstaunen mehr und mehr Vergnügen daran, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Längst glaubte er nicht mehr, dass die schöne Fremde ihm wirklich etwas tun wollte. Vielmehr schien ihr irgendjemand solche Angst einzujagen, dass sie sich anders nicht zu helfen wusste.

Und um die ganze Geschichte noch verwirrender zu machen, war anscheinend eine Bande von Motorradrowdys ebenso involviert wie eine mysteriöse Person namens Kristof Steen.

Steen … Noch wusste Hannes nicht, wer sich dahinter verbarg, doch er würde es herausfinden. Später. Jetzt musste er sich erst einmal um die schöne Prinzessin kümmern.

Er versuchte es mit einem etwas versöhnlicheren Tonfall. „Hören Sie, ich weiß wirklich nicht, was hier gespielt wird. Aber ich versichere Ihnen, dass ich nicht gekommen bin, um Ihnen Schwierigkeiten zu machen.“

„Ach, was Sie nicht sagen! Und warum sind Sie dann hier?“

„Ich …“

„Geben Sie sich erst gar keine Mühe!“, fiel sie ihm ins Wort. Aus ihrem Blick sprach noch immer das pure Misstrauen. „Ganz egal, was Sie sagen, ich glaube Ihnen ohnehin nicht. Wenn Steen Sie geschickt hat, können Sie ihm von mir ausrichten, dass er Beringholm Slott auf keinen Fall bekommen wird.“

Hannes war überrascht. Es gab bereits einen Interessenten für das Schloss? Das wunderte ihn zwar, passte ihm aber eigentlich ganz gut. Allerdings fragte er sich von Sekunde zu Sekunde mehr, warum die schöne Fremde sich aufführte, als gehöre ihr das Anwesen. Wer war sie? Und was hatte sie hier zu suchen?

Er kniff die Augen zusammen. „Nun, die Entscheidung, ob dieser Mann Beringholm Slott bekommt oder nicht, überlassen Sie doch wohl besser mir!“ Hannes war nun endgültig der Geduldsfaden gerissen – Prinzessin hin oder her.

„Ihnen?“ Sie lachte, doch es bestand kein Zweifel, dass seine Worte sie zutiefst irritierten. „Und wieso …?“

„Weil ich der neue Besitzer von Beringholm Slott bin. Und jetzt nehmen Sie gefälligst Ihr Schießeisen herunter, damit ich Ihnen das Testament meiner Großtante Hilda zeigen kann!“

Für einen Moment verschlug es ihr die Sprache, und sie riss die Augen auf. „Sagten Sie gerade Großtante Hilda?“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber …“

„Kein Aber!“, unterbrach er sie brüsk. „Mein Name ist Hannes Westenberg, und da Sie sich auf meinem Grund und Boden befinden, würde ich jetzt wirklich gern erfahren, mit wem ich es eigentlich zu tun habe!“

2. KAPITEL

Ihr Grund und Boden? För Guds skull – Sie wissen ja nicht, was Sie reden!“

Lisbet konnte nicht glauben, was dieser unverschämte Kerl da behauptete. Hilda sollte ihm Beringholm Slott vermacht haben?

Dunkel erinnerte sie sich, dass Hilda ab und an von einem Hannes gesprochen hatte. „Er ist ein guter Junge, ganz anders als sein Vater“, waren ihre Worte gewesen. Und Lisbet war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass es sich bei dem „guten Jungen“ um ein Kind, allenfalls einen Teenager handelte.

Doch der Hannes Westenberg, der nun vor ihr stand, war definitiv kein Kind.

Dennoch! Selbst wenn er Hildas einziger noch lebender Verwandter war – warum sollte sie ihn in ihrem Testament bedacht haben? Solange Lisbet zurückdenken konnte, hatte er sich nie bei seiner Großtante blicken lassen.

„Ist das so?“ Er lachte leise auf. „Nun, dann habe ich das Testament, das ich hier bei mir trage, wohl selbst angefertigt. Oder wie erklären Sie es sich sonst?“

„Ich …“ Sie verstummte. „Woher soll ich das wissen?“

Ihre Selbstsicherheit geriet ins Wanken. Wenn es dieses Testament nun wirklich gab … Aber nein, das konnte – durfte – nicht sein!

„Wenn ich einmal nicht mehr bin, mein Kind“, hatte Hilda stets gesagt, „dann sollst du Beringholm Slott bekommen und es in meinem Sinne weiterführen.“

Lisbet wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass ihre Freundin es sich noch einmal anders überlegen würde. Andererseits: Auf ihre alten Tage war sie sehr vergesslich geworden. Vielleicht hatte sie schlicht und einfach nicht daran gedacht, ihr Testament, das sie beim Notar hinterlegt hatte, entsprechend zu ändern. „Es muss sich um ein Versehen handeln“, flüsterte sie. „Ich … Hilda hat mir doch versprochen …“

„Zum Teufel, jetzt legen Sie endlich dieses verdammte Gewehr weg, ehe es am Ende noch losgeht!“, knurrte er. „Und dann würde ich wirklich gern erfahren, was dieser ganze Zirkus hier eigentlich soll!“

Lisbet bekam nur am Rande mit, was er sagte. In ihrem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. War es wirklich möglich, dass Hilda das Schloss einem Wildfremden vermacht hatte?

Nein, keinem Wildfremden, korrigierte sie sich in Gedanken. Dieser Mann war immerhin Hildas Großneffe. Aber wenn er ihr so nahestand, dass sie ihm Beringholm Slott vererbte, wieso habe ich ihn dann noch nie zu Gesicht bekommen? fragte sich Lisbet.

„Ich will es sehen“, stieß sie atemlos hervor. „Ich will das Testament sehen!“

„Gern.“ Er holte eine Dokumentenmappe aus seiner Tasche und hielt sie Lisbet hin. Doch als sie danach greifen wollte, zog er sie weg. „Erst die Waffe!“

„Die war eh nicht geladen.“ Sie schleuderte ihm das Gewehr vor die Füße und entriss ihm die Mappe.

Dann ließ sie ihn einfach stehen.

Auf halbem Weg zur Schlossküche kam ihr Aleksandra entgegen. „Ich habe Lars erreicht“, rief sie schon von Weitem. „Er hat versprochen, dass er sich gleich auf den Weg macht und …“ Sie verstummte, als Lisbet einfach ohne Reaktion an ihr vorbeiging. „Lisbet? Ist alles in Ordnung? Was ist denn nun mit dem Mann, der draußen herumgeschlichen ist?“

Lisbet antwortete nicht. Sie betrat die Küche, ließ sich schwer auf einen der wuchtigen Stühle am Esstisch fallen und atmete tief durch.

„Was ist denn los?“ Aleksandra klang jetzt richtig ängstlich. „Ist etwas Schlimmes passiert?“

Du hast ja keine Ahnung, dachte Lisbet verzweifelt. Laut sagte sie: „Bitte, sei so lieb und geh jetzt nach Hause, Aleks. Ich werde dir alles erklären, wenn du morgen kommst, um Charlotte zu füttern, aber jetzt …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte gern allein sein.“

Wie ein Schatten huschte Aleksandra aus der Küche.

Lisbet klopfte das Herz bis zum Hals. Wie hypnotisiert starrte sie auf die Dokumentenmappe, die vor ihr auf dem Tisch lag. Auch wenn sie es niemals zugegeben hätte: Sie fürchtete sich davor, sie aufzuschlagen. Was, wenn es wirklich stimmte? Wenn er der neue Besitzer von Beringholm Slott war?

Käre Gud! Gib, dass das nicht wahr ist!

Mit zitternden Fingern öffnete sie die Dokumentenmappe. Das Schriftstück, das sich darin befand, war überschrieben mit: Mein Testament. Und das, was danach kam, musste Lisbet dreimal lesen, um es wirklich glauben zu können.

… im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte vermache ich, Hilda Helström, Beringholm Slott meinem Großneffen Hannes Westenberg, auf dass er es in meinem Sinne weiterführen möge …

Lisbet hatte das Gefühl, völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren. Oh nein, Hilda! Warum? Warum nur?

Ihre mütterliche Freundin war vor etwas mehr als drei Wochen friedlich in ihrem Bett entschlafen. Da Hilda in Schweden keine Verwandten mehr besaß, hatte Lisbet sich um alles gekümmert. Die Vorbereitungen für die Beerdigung und die ganzen Formalitäten, die sie alle neben ihren übrigen Aufgaben erledigen musste, hatten sie so beschäftigt gehalten, dass sie gar nicht dazu gekommen war, sich Gedanken über Hildas Testament zu machen.

Überdies war sie ja fest davon ausgegangen, dass sie Beringholm Slott bekommen würde. Und das wäre nur recht und billig, nach allem, was sie in den vergangenen Jahren getan hatte.

Ein verhängnisvoller Fehler, wie sich nun herausstellte. Denn so traf sie die Neuigkeit, dass Hilda das Anwesen jemand anderem vermacht hatte, wie ein Schock. Irgendwie hatte sie die ganze Zeit geglaubt, dass alles so weitergehen würde wie bisher. Auf den Gedanken, Hildas Notar zu kontaktieren, war sie gar nicht gekommen. Sie hatte angenommen, dass er früher oder später auf sie zukommen würde, und nie daran gezweifelt, dass Hilda alles wie vereinbart geregelt hatte. Immerhin hatten ihr die Tiere und die Kinder doch so am Herzen gelegen!

Und nun das … Lisbet konnte es noch immer nicht fassen. Warum hatte Hilda das getan? Darauf würde sie so einfach keine Antwort finden. Und es brachte auch nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Die wichtigste Frage lautete jetzt: Wie sollte es weitergehen? Was sollte aus diesem Schloss werden? Aus all den Tieren … und den Kindern?

Lisbet wollte nicht weinen. Alles in ihr sträubte sich dagegen, doch wie so oft waren die Tränen stärker.

Aufschluchzend barg sie das Gesicht in den Händen. All ihre Hoffnungen und Träume waren von einer Sekunde auf die andere wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt. Sie hasste es, dass sie bei jeder noch so kleinen Gelegenheit in Tränen ausbrach, doch heute hatte sie wenigstens allen Grund dazu.

Als sie hörte, wie jemand die Küche betrat, wischte sie sich hastig mit dem Handrücken über die Augen. „Aleks, bitte“, stieß sie heiser hervor. „Geh …“

Doch es war ganz eindeutig nicht die Hand des Mädchens, die sich von hinten auf ihre Schulter legte.

„Können wir jetzt vielleicht vernünftig miteinander sprechen?“

Der Klang seiner Stimme ließ Lisbet einen wohligen Schauer den Rücken hinunterrieseln. Sie war sich durchaus im Klaren darüber, wie unpassend diese Reaktion war, doch sie konnte nichts dagegen tun.

Ungefragt setzte Hannes sich auf den Stuhl ihr gegenüber und faltete die Hände auf der Tischplatte. „Hören Sie, es lag nicht in meiner Absicht, Sie so zu überfallen.“ Seufzend strich er sich durchs Haar. „Ich ahnte nicht, dass ich überhaupt jemanden auf Beringholm Slott antreffen würde, und als Sie plötzlich mit dem Gewehr vor mir standen …“

Lisbet fand, dass er mit seinen blauen Augen, die strahlten wie der Sommerhimmel über dem Siljansee, und dem blonden Haar wie ein typischer Schwede aussah – doch sein leichter Akzent wies ihn als Ausländer aus. Zudem hatte er vorhin am Telefon Deutsch gesprochen.

Sie atmete tief durch, klappte die Dokumentenmappe zu und schob sie zu ihm hinüber. „Hilda hat Ihnen also Beringholm Slott hinterlassen.“ Ihre Stimme klang selbst für ihre eigenen Ohren seltsam fremd. „Und was haben Sie nun damit vor?“

„Vielleicht verraten Sie mir zuerst einmal Ihren Namen.“ Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln. „Meinen kennen Sie ja bereits.“

„Ich heiße Lisbet“, erwiderte sie zögernd. „Lisbet Carlsson.“ Sie runzelte die Stirn. „Hilda hat ein paarmal von Ihnen gesprochen, aber …“

Er zuckte mit den Schultern. „Offen gestanden: Ich war selbst überrascht zu erfahren, dass sie mich in ihrem Testament berücksichtigt hat. Meine Großmutter und Hilda waren Schwestern, doch sie verstanden sich nicht besonders gut. Nachdem Großmutter mit meiner Mutter nach Hamburg gegangen war, zu meinem Vater, hielten sie wohl nur noch sehr lockeren Kontakt. Ich erinnere mich, dass wir – mein Bruder und ich – einmal einen herrlichen Sommer in Schweden verbracht haben, aber danach brach der Kontakt wegen eines dummen Streits schließlich ganz ab.“

Lisbet schloss die Augen. Was mochte bloß in Hilda gefahren sein, ausgerechnet ihm Beringholm Slott zu vererben? Einem Menschen, den sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte!

„Verzeihen Sie, ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber …“ Er runzelte die Stirn. „Wie kommt es, dass Sie so überrascht sind? Ich meine, Ihnen muss doch klar gewesen sein, dass es einen Erben geben würde.“

Ja, dachte Lisbet mit ungewöhnlicher Bitterkeit. Mich …

Sie spürte, wie ihr schon wieder die Tränen kamen, doch sie blinzelte sie energisch fort. Nicht jetzt, und nicht ausgerechnet vor ihm!

„Natürlich“, sagte sie mit einem traurigen Lächeln. „Hilda war ja schon länger krank, daher konnte ich mir ausrechnen, dass sie … dass sie nicht mehr lange unter uns weilen würde.“ Sie schluckte. Die Vorstellung, ihre mütterliche Freundin niemals wiederzusehen, kam ihr immer noch ganz unwirklich vor. Manchmal glaubte sie immer noch, ihr ansteckendes Lachen zu hören. Doch Hilda würde nie wieder lachen. Sie ruhte für alle Zeiten auf dem Friedhof von Tålby, direkt an der Friedhofsmauer im Schatten einer prachtvollen Kastanie.

Jetzt konnte Lisbet doch nicht verhindern, dass ihre Augen feucht wurden.

„Schsch …“ Hannes griff tröstend nach ihrer Hand. „Nicht wieder weinen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber … Ihre Großtante war ein ganz besonderer Mensch. Ich habe sie sehr gerngehabt. Umso weniger verstehe ich, warum sie sich nicht an unsere Vereinbarung gehalten hat.“

„Vereinbarung?“ Er hob eine Braue. Ein Anflug von Misstrauen überschattete sein Gesicht. „Was für eine Vereinbarung?“

Sie räusperte sich. „Nun, Sie haben sicher die vielen Tiere auf dem Grundstück von Beringholm Slott bemerkt.“ Als er nickte, fuhr sie fort: „Ihre Großtante und ich haben die meisten dieser bedauernswerten Kreaturen vor dem Gang zum Schlachthof bewahrt. Und wir haben außerdem …“

Mit einer knappen Handbewegung brachte er Lisbet zum Verstummen. „Machen wir es doch kurz. Ihrer Meinung nach hätte meine Großtante also Ihnen das Schloss überlassen sollen und nicht mir, richtig?“

Lisbet konnte seiner unergründlichen Miene nicht entnehmen, was er dachte. „So war es zwischen uns abgesprochen, ja.“ Sie nickte. „Und ich bin sicher, Hilda hätte gewollt, dass ich Beringholm Slott in ihrem Sinne weiterführe.“

Einen kurzen Moment lang herrschte Stille, dann brach er zu Lisbets Überraschung in schallendes Gelächter aus. „Das haben Sie sich so gedacht, was? Aber damit kommen Sie bei mir nicht weit, Schätzchen. Ich bin der rechtmäßige Erbe von Beringholm Slott, und Sie werden zusehen müssen, dass Sie mit Ihren Viechern irgendwo anders unterkriechen.“ Er kniff die Augen zusammen. „Bei der alten Dame konnten Sie mit Ihrer Masche vielleicht etwas erreichen, aber ich sage Ihnen eines: Ich bin weder die Wohlfahrt noch vom Tierschutzbund. Und eine Schmarotzerin erkenne ich noch immer, wenn ich einer begegne!“

Völlig perplex starrte Lisbet ihn an. Ihr war, als hätte man einen Eimer Eiswasser über ihrem Kopf ausgeleert. Einen Moment lang war sie vor Entsetzen wie gelähmt. Dann spürte sie, wie alle Dämme brachen und eine Woge tiefster Verzweiflung und Trostlosigkeit über sie hinwegrollte.

Sie sprang so abrupt auf, dass ihr Stuhl nach hinten wegkippte und laut scheppernd zu Boden fiel. Doch sie achtete nicht darauf.

Es gab nur noch eines, woran sie denken konnte: Raus hier, bevor sie vor den Augen dieses gefühllosen Mannes schon wieder in Tränen ausbrach!

Weinend flüchtete Lisbet aus dem Gebäude und durch den Torgang hinaus auf die Weide. Sie lief und lief, so lange, bis ihre Lungen brannten und sich glühende Dolche in ihre Seiten zu bohren schienen. Erst dann gelang es ihr, sich ein wenig zu beruhigen und langsam zum Schloss zurückzugehen.

„Was mache ich denn jetzt bloß mit euch?“ Fragend schaute sie die junge Eselstute an, die ein paar Meter von ihr entfernt auf der Koppel stand und zufrieden auf einem Büschel Klee kaute. Lisbet ließ sich ins warme Gras sinken. Die wärmenden Strahlen der Sonne kitzelten auf ihrer Haut, sie hörte das Zwitschern der Vögel und das leise Rauschen des Windes in den Baumkronen. Doch ihr war, als würde das alles nur wie aus weiter Ferne zu ihr vordringen.

Ihre ganze Welt war von einer Minute auf die andere in sich zusammengestürzt. Alles, worauf sie sich verlassen, woran sie fest geglaubt hatte, schien nun plötzlich nichts mehr wert zu sein.

Warum, Hilda? Warum hast du das nur getan? Du wusstest doch, was mir Beringholm Slott bedeutet. Wie hart es für mich war, den Mut für einen Neuanfang aufzubringen, nachdem mein altes Leben von einem Tag auf den anderen in Trümmern lag. Nach meinem Unfall und Rubens Verrat an unserer Liebe …

Indem sie das Schloss ihrem Großneffen vererbt hatte, hatte die alte Dame all das aufs Spiel gesetzt, wofür sie in den letzten Monaten und Jahren gelebt hatte. Wofür sie beide gelebt hatten.

Das Schloss war mehr als nur ein Gnadenhof für Tiere, die niemand mehr haben wollte, viel mehr. Im Grunde waren die Tiere sogar ihr kleinstes Problem. Irgendwie würde es ihr schon gelingen, sie alle irgendwo unterzubringen. Aber was sollte aus den Kindern werden?

Unwillkürlich ließ Lisbet ihre Gedanken in die Vergangenheit wandern. Am Anfang war es nur die kleine Aleksandra Bjorklund gewesen. Fast fünf Jahre war es nun her, seit sie das schüchterne kleine Mädchen mit der Gehbehinderung zum ersten Mal in der Nähe der Pferdekoppel entdeckt hatte. Nach und nach verlor es seine Scheu – zuerst die vor den Tieren und schließlich auch die vor fremden Menschen.

Aleksandra übernahm die Pflege von Charlotte. Sie kümmerte sich praktisch ganz allein um die gutmütige Schimmelstute und brachte sich dabei sogar selbst das Reiten bei. Anfangs brachten ihre Eltern sie noch vorbei und holten sie am späten Nachmittag wieder ab, später kam das Mädchen allein direkt nach der Schule mit dem Fahrrad, manchmal auch zu Fuß.

Und Aleksandras Entwicklung war einfach erstaunlich: Aus dem ängstlichen und gehemmten Kind wurde ein selbstbewusstes Mädchen, das in der Schule kaum noch gehänselt und ausgegrenzt wurde. Sogar ihr Hinken war ein wenig zurückgegangen. Das Reiten stärkte Muskelgruppen, die bei Aleksandras Krankengymnastik nicht angesprochen wurden.

Ihr Beispiel sprach sich schnell herum, und so fragten schon bald Eltern anderer behinderter Kinder an, ob ihre Söhne und Töchter nicht auch nach Beringholm Slott kommen könnten.

Zu Anfang zweifelten Lisbet und Hilda noch, ob sie die Verantwortung für ein halbes Dutzend behinderter Kinder wirklich auf sich nehmen konnten. Doch das glückliche Strahlen in Aleksandras Gesicht ließ sie schließlich alle Bedenken über Bord werfen.

Seitdem hallte fast immer Kinderlachen durch die altehrwürdigen Mauern von Beringholm Slott. Es war für die Schwächsten und Unschuldigsten der Gesellschaft – sowohl Mensch als auch Tier – eine Zuflucht geworden. Und ganz gleich, was Hannes Westenberg von ihr dachte, Lisbet war stolz auf das, was Hilda und sie hier gemeinsam aufgebaut hatten.

Dabei waren die Umstände von Anfang an alles andere als günstig gewesen: Da weder sie selbst noch Hilda über eine Ausbildung verfügten, die sie für die Betreuung behinderter Kinder qualifizierte, waren schon bald die ersten Paragrafenreiter auf den Plan getreten. Denn dafür, dass ihre Schützlinge regelrecht aufblühten, wenn sie bei ihnen waren, und dass die Arbeit mit den Tieren und die Verantwortung, die man ihnen übertrug, ihr Selbstbewusstsein stärkte, interessierte sich in den Amtsstuben natürlich niemand. Das Glück der Kinder passte eben nicht zwischen zwei Aktendeckel und ließ sich auch nicht in starren Einheiten bemessen.

Es war ein langer, harter Kampf gewesen, schließlich doch die amtliche Erlaubnis zu erhalten, ihre Arbeit fortzusetzen. Ja, er hatte im Grunde genommen niemals wirklich aufgehört. Sie mussten sich regelmäßigen strengen Kontrollen unterziehen und nachweisen, dass sie wirklich etwas zum Wohl der Kinder unternahmen. Und das alles, obwohl sie nicht einmal offizielle Zuschüsse vonseiten der Ämter bekamen, sondern sich allein durch die Beiträge der Eltern sowie durch Spenden finanzierten.

Doch irgendwie hatten sie es geschafft, sich von Woche zu Woche, von Monat zu Monat und von Jahr zu Jahr durchzuschlagen. Und nun sollte all diese Mühe umsonst gewesen sein? Wegen eines Mannes, der sich einbildete, nur hierherkommen zu müssen, um Beringholm Slott in Besitz zu nehmen?

Nej, korrigierte Lisbet sich in Gedanken. Er bildet es sich nicht nur ein – er kann es tatsächlich. Und die Verantwortung dafür trägt ausgerechnet Hilda!

Ganz gleich, wie Lisbet es auch drehte und wendete, sie verstand nicht, was ihre mütterliche Freundin zu dieser Entscheidung veranlasst haben mochte.

Als sie aus der Ferne ein Motorengeräusch vernahm, glaubte sie zunächst, dass Lars gekommen war. Doch dann erkannte sie das charakteristische Dröhnen von Motorrädern und blickte erschrocken auf.

Was sie sah, ließ sie erbleichen.

Sie waren es: Die Motorradrowdys, die Hilda und ihr schon seit einer geraumen Weile das Leben schwer machten. Die Bande war in der ganzen Umgebung gefürchtet – doch seit einiger Zeit hatte sich Beringholm Slott zu ihrem bevorzugten Ziel entwickelt.

Seit Hildas Beerdigung waren diese Typen nicht mehr aufgetaucht, und Lisbet hatte schon gehofft, dass sie es endlich aufgegeben hatten, sie zu schikanieren.

Einer der Männer – sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil er einen Helm mit schwarz getöntem Visier trug – entdeckte sie nun ebenfalls und bedeutete seinen Kumpanen mit einem Winken, ihm zu folgen.

Dann riss er seine Maschine herum und raste geradewegs auf Lisbet zu.

3. KAPITEL

Hannes sah sich gerade in der Küche um, als er von draußen infernalischen Lärm und Hilfeschreie vernahm. Was zum Teufel ging da vor? Sofort ließ er alles stehen und liegen und stürmte ins Freie.

Suchend blickte er sich um. Der Schlosshof lag verlassen da, also musste der Lärm von außerhalb der Burgmauern stammen. Er folgte den Geräuschen durch das Brückentor – und blieb wie angewurzelt stehen. „Was zum Teufel …?“

Im ersten Moment traute er seinen Augen nicht und blinzelte irritiert. Doch an dem Bild änderte sich nichts: Da war Lisbet, umzingelt von sechs Bikern mit wendigen Maschinen. Gehetzt blickte sie hin und her, offensichtlich auf der Suche nach einer Möglichkeit zu fliehen. Doch es gab keine. Sie steckte fest wie ein Tier in der Falle, und die Rowdys ließen ihre Motoren aufheulen, um ihr noch zusätzlich Angst einzujagen.

Er musste etwas unternehmen – und zwar schnell!

Auf keinen Fall konnte er zulassen, dass diese sechs Verrückten Lisbet noch weiter in die Enge trieben. Er wollte nicht, dass ihr etwas passierte!

Hannes war bereits drauf und dran, ohne einen Plan oder auch nur den Hauch einer Idee loszustürmen, da fiel sein Blick auf das Gewehr, das noch immer vor dem Brückentor auf dem Boden lag.

Er unterzog die Flinte einer raschen Prüfung. Lisbet hatte die Wahrheit gesagt – es befand sich tatsächlich keine Kugel im Lauf. Er musste sich also darauf verlassen, dass das Gewehr in seiner Hand abschreckend genug wirken würde, um die Kerle zu vertreiben.

Hannes stürmte hinaus aufs freie Feld. Die Motorradgang bedrängte Lisbet noch immer. Dabei johlten, hupten und lärmten sie geradezu ohrenbetäubend.

„Sofort aufhören!“, brüllte Hannes und richtete die Waffe drohend auf die Biker.

Es dauerte einen Moment, ehe die Männer ihn bemerkten – doch dann ließen sie von Lisbet ab und wandten sich stattdessen ihm zu.

„Haut ab!“ Er legte auf den Motorradfahrer an, der ihm am nächsten war. „Ich meine es ernst: Wenn ihr nicht auf der Stelle die Frau in Ruhe lasst und verschwindet, werdet ihr es bereuen!“, rief er auf Schwedisch.

Einen Moment lang schienen die Männer unschlüssig, was sie tun sollten, es gab aufgeregtes Gemurmel – dann wurde ihnen die Sache wohl doch zu heiß, denn sie traten den Rückzug an.

Mit aufheulenden Motoren wendeten sie die Maschinen und jagten davon.

Erleichtert ließ Hannes das Gewehr sinken. Er war bis zuletzt nicht sicher gewesen, ob die Rowdys sich wirklich zurückziehen würden. Doch sein Bluff war geglückt. Nicht auszudenken, hätten die Männer seine Entschlossenheit auf die Probe gestellt!

Er lief zu Lisbet, die im Gras kauerte und weinte. „Alles in Ordnung?“, fragte er sanft. „Diese Verrückten haben Ihnen doch hoffentlich nicht wehgetan?“

Als sie aus tränenverschleierten Augen zu ihm aufblickte, war ihm, als würde ihn ein Pfeil mitten ins Herz treffen. Sie so verängstigt und niedergeschlagen zu sehen, weckte eine derart unbändige Wut auf die Rowdys, dass er ihnen am liebsten nachgelaufen wäre, um es ihnen heimzuzahlen.

„Ich …“ Lisbets Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres Jeanshemds über die Augen. „Es geht mir gut, vielen Dank.“ Wie um ihre Worte zu bekräftigen, stand sie ungelenk auf. Aber Hannes sah, dass sie noch immer sehr wacklig auf den Beinen war. Er streckte die Hand nach ihr aus, doch sie wehrte ab. „Ich brauche Ihre Hilfe nicht!“

„Das sah mir aber vorhin ganz anders aus“, entgegnete er stirnrunzelnd. „Was waren das für Leute, und was haben Sie mit ihnen zu schaffen?“

„Was ich mit diesen Leuten zu schaffen habe?“ Sie lachte bitter auf. „Nun, die Frage beantworte ich Ihnen gerne: überhaupt nichts! Aber das wüssten Sie, wenn Sie sich in letzter Zeit auch nur ein einziges Mal bei Ihrer Großtante gemeldet hätten!“

Ihr vorwurfsvoller Blick ärgerte ihn. Mit welchem Recht maßte sie sich an, ihm Vorhaltungen zu machen? Was wusste sie denn schon über ihn? „Ich glaube nicht, dass Sie sich diesbezüglich ein Urteil erlauben können“, entgegnete er kühl. „Weder kennen Sie mich noch wissen Sie etwas über mein Verhältnis zu meiner Großtante. Sparen Sie sich also Ihre unqualifizierten Kommentare. Erklären Sie mir lieber, was es mit diesen Rowdys auf sich hat. Es gibt also schon länger Schwierigkeiten mit ihnen?“

Lisbet atmete tief durch und nickte dann. „Vor etwa einem halben Jahr sind sie zum ersten Mal aufgetaucht. Damals haben sie mit Luftgewehren einige Fensterscheiben im Südturm eingeschossen und sind wieder verschwunden. Hilda und ich haben an eine einmalige Sache geglaubt. Ein paar Halbstarke, die sich voreinander beweisen wollten. Doch wir mussten bald feststellen, dass wir uns geirrt hatten.“

„Sie kamen also wieder?“

„Das nächste Mal haben sie den Vorratsschuppen unten bei den Ställen angezündet. Er war vollständig niedergebrannt, ehe die Feuerwehr aus Tålby angekommen war.“

Hannes runzelte die Stirn. „Und die Polizei?“

„Ach, die!“ Lisbet schnaubte verächtlich. „Sie haben ermittelt, ja. Aber angeblich konnte die Identität der Männer nicht festgestellt werden. Die Motorräder haben keine Nummernschilder, und Sie haben ja selbst gesehen, dass die Fahrer Lederkluft und Helm tragen. Vielleicht könnte man trotzdem rausfinden, wer sie sind, aber der Polizeichef von Tålby ist – wie soll ich sagen? – in dieser Angelegenheit nicht sonderlich engagiert.“

„Sie glauben also, dass er die Männer deckt?“, fragte Hannes erstaunt. „Aber warum?“

„Wegen der einen Sache, die schon immer die Welt regiert hat“, entgegnete Lisbet. „Geld. Aber beweisen kann ich das natürlich nicht!“

Hannes brannte darauf, mehr zu erfahren, doch in diesem Moment kam ein Wagen laut hupend die Zufahrt zum Schloss hinaufgefahren. Im Gegensatz zu seinem Sportflitzer schien das Allradfahrzeug keine Schwierigkeiten mit den Straßenverhältnissen zu haben. Als er Hannes und Lisbet erreicht hatte, sprang der Fahrer, ein großer hellblonder Mann in kariertem Hemd, Cordhosen und Gummistiefeln, heraus und eilte auf sie zu.

Hannes schätzte den Mann auf Mitte bis Ende zwanzig, und seine Miene war so düster wie der Himmel vor einem Gewitter.

Die Hände zu Fäusten geballt, stapfte er näher. „Lass Lisbet in Ruhe, du verdammter Schuft!“, schrie er und wollte Hannes beim Kragen packen. Doch der wich ihm geschickt aus und drehte ihm nun seinerseits den Arm auf den Rücken, bis der Angreifer vor Schmerz aufschrie.

„Was soll das, zum Teufel?“

„Lars!“ Lisbet bedachte Hannes mit einem vorwurfsvollen Blick. „Nun lassen Sie ihn schon los, um Himmels willen! Merken Sie denn nicht, dass Sie ihm wehtun?“

Völlig perplex entließ Hannes den Mann aus seinem Klammergriff, stieß ihn aber sicherheitshalber ein paar Meter von sich, damit er nicht gleich wieder angriff.

„Ihr Freund wollte auf mich losgehen“, verteidigte Hannes sich – und ärgerte sich im nächsten Moment darüber. Warum rechtfertigte er sich, wo er doch eindeutig im Recht war? Zornig funkelte er Lisbet und den Fremden an. „Ich verlange auf der Stelle eine Erklärung!“

Aber auch Lars hatte noch einige ungeklärte Fragen. „Lisbet, wer ist der Typ? Aleksandra hat mich vorhin ganz aufgeregt angerufen und gesagt, dass einer dieser verdammten Motorradrocker sich hier rumdrückt. Ich habe sofort alles stehen und liegen lassen und bin hergefahren. Ist das der Kerl?“

Lisbet schüttelte den Kopf. „Nej, Lars, das ist …“ Sie atmete tief durch. „Das ist Hannes Westenberg, und er ist der neue Besitzer von Beringholm Slott.“ Sie wandte sich an Hannes. „Lars Sjögren. Selma, seine Großmutter, war eine gute Freundin Ihrer Großtante.“

„Neuer Besitzer?“ Sjögren schüttelte verständnislos den Kopf. „Aber was soll denn das heißen? Ich dachte, Hilda hätte …“

„Hat sie aber nicht“, fiel Lisbet ihm ins Wort.

„Und das lässt du dir so einfach gefallen?“

„Ihr wird wohl kaum etwas anderes übrig bleiben“, mischte Hannes sich ein. „Beringholm Slott gehört mir, und ich kann damit tun und lassen, was ich will, ob Ihnen beiden das nun gefällt oder nicht! Aber Sie können mir ja gern ein Kaufangebot machen, wenn Ihnen das alte Gemäuer so viel bedeutet.“

Lisbet erbleichte. „Sie wollen verkaufen?“

„Natürlich. Was soll ich mit einem Schloss mitten in Schweden anfangen? Noch dazu in einer so gottverlassenen Gegend?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich habe ein Hotel in Hamburg zu führen. Je schneller ich einen Käufer für Beringholm Slott finde, desto besser.“

„Ihnen ist aber klar, dass es etwas schwierig werden könnte, das Schloss unter den gegebenen Umständen zu verkaufen“, wandte Lisbet ein.

„Gegebene Umstände?“ Was führte sie jetzt wieder im Schilde? Diese Frau war anscheinend immer wieder für eine Überraschung gut – und Hannes ahnte, dass ihm diese nicht besonders gefallen würde. „Dürfte ich erfahren, wovon Sie sprechen?“

Lisbet atmete tief durch, dann sagte sie: „Nun, der potenzielle Käufer müsste damit einverstanden sein, dass ich mit meinen Tieren hierbleibe. Ich mag vielleicht nicht geerbt haben, aber Ihre Großtante hat mir die kostenlose Nutzung von Beringholm Slott auf Lebenszeit zugesagt. Ich hielt es damals für überflüssig, solch eine Vereinbarung zu treffen, doch Hilda bestand darauf. Und jetzt bin ich natürlich sehr froh darüber.“

„Tante Hilda hat – was?“ Ungläubig starrte Hannes sie an. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Doch es bestätigte im Grunde nur das, was er bereits geahnt hatte: Lisbet Carlsson hatte sich wie ein Parasit bei seiner Großtante eingenistet und geschickt dafür gesorgt, dass man sie auch nach deren Tod nicht ohne Weiteres vertreiben konnte.

Warum wunderte ihn das eigentlich? Sie hatte sich genauso verhalten, wie er es von einer Frau erwartete: selbstsüchtig, eigennützig und gierig. Er brauchte sich ja nur seine Stiefmutter Nadine anzusehen. Die setzte wirklich alles daran, ihn bei seinem Vater schlechtzumachen, um ihren eigenen Sohn Albert auf den Thron des Familienunternehmens zu hieven.

Unwillkürlich musste er wieder an Tobias denken. Und daran, unter welchen Umständen er ums Leben gekommen war: Bei hellem Sonnenschein und trockenem Wetter war er mit seinem Wagen ohne erkennbaren Grund von der Straße abgekommen.

Ein Unfall? Die Polizei vermutete, dass ein entgegenkommendes Fahrzeug Tobias geschnitten und zum Ausweichen gezwungen hatte. Ein Beweis, der diese Annahme bestätigte, wurde jedoch nie gefunden.