Über das Buch

Der junge Kuballa aus Bonn zieht direkt nach der Wende in den Ostberliner Arbeiterbezirk Oberschöneweide, im Volksmund treffend Schweineöde genannt. Gelangweilt von den Genüssen des elterlichen Nobelrestaurants begreift er die Ex-DDR als Abenteuerspielplatz. Seine Haltung ist eine Provokation für die Leute in Schweineöde, die mit der Verwahrlosung ihres Kiezes zu kämpfen haben. Kuballa bleibt fast ein Jahrzehnt und leistet seinen Beitrag zur Wiedervereinigung, indem er die ehemalige Thälmannpionierin Jana verführt, seinen Nebenbuhler in den Knast bringt und die lokale Mittelstandsvereinigung zur Lynchjustiz treibt. Die deutsch-deutsche Annäherung wird schließlich zum Horrortrip: Kuballa verfällt einem grotesken Wahn. Er hält sich für den größten Stasispitzel aller Zeiten, überwacht seine Nachbarn, kontrolliert deren Post und macht ihnen, gemäß dem historischen Vorbild, das Leben zur Hölle. Ein literarischer Amoklauf gegen Ostkitsch und gefühlsduselige Wenderomane.

»Dem Jungautor ist mit seinem Debüt eine zynische, eigenwillige und ziemlich amüsante Diagnose deutsch-deutscher Befindlichkeiten gelungen.« Sybille Reitenbach, Szene Hamburg

Über den Autor

Carsten Otte, geboren 1972 in Bad Godesberg, studierte Philosophie in Berlin und lebt heute als Schriftsteller und Radiojournalist in Bonn und Baden-Baden. Seinem Debütroman »Schweineöde«, der von deutsch-deutschen Befindlichkeiten in der Zeit nach der Wiedervereinigung handelt, folgten Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften, zahlreiche Stipendien, eine Lesereise von Heidelberg bis Peking und der Roman »Sanfte Illusionen« (2008) sowie der Essayband »Goodbye Auto« (2009).

Carsten Otte wurde vielfach gefördert, etwa durch das Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg sowie zuletzt vom Land Schleswig-Holstein. Im Februar 2014 erschien sein aktueller Roman »Warum wir« bei Klöpfer & Meyer, im Herbst 2014 bringt der Campus Verlag mit »Gastrosex« ein Sachbuch heraus, das der Frage nachgeht, warum es so beliebt ist, Hobbykoch zu sein.

cover

Carsten Otte

Schweineöde

Roman

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten.

Erstausgabe: Eichborn Verlag März 2004

Durchgesehene Neuausgabe: CulturBooks 2014

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 5.5.2014

ISBN 978-3-944818-48-1

Zwanzig

Kuballas Überidentifikation mit den damaligen Häftlingen des Staatssicherheitsgefängnisses in Hohenschönhausen ging so weit, daß er vor dem Zubettgehen regelmäßig Klowasser trank.

Tagsüber zog er trübsinnig durch die Straßen, und über seine Leidensmiene wurde in Schöneweide bald getuschelt. Hatte Kuballa, als er noch glaubte, auf der Täterseite zu stehen, freche Sprüche geklopft und vor Selbstbewußtsein gestrotzt, sah er nun so aus, als hätte er alle Willkür der Staatssicherheit am eigenen Leibe durchlitten. Er wirkte gebrochen und depressiv.

Er besorgte sich Tonbandaufzeichnungen, auf denen Spitzel zu hören waren, die beim Geheimdienstminister Mielke angerufen und ihre Ehepartner angeschwärzt hatten; Männer und Frauen, denen der eheliche Beischlaf offenbar versagt geblieben war und die sich im nächtlichen Gespräch mit dem Geheimdienstminister befriedigten.

Ingo sagte, als Kuballa ihm die Tonbänder vorspielte, die Staatssicherheit sei wohl eine Sexagentur für die ostdeutschen Triebtäter gewesen. Doch Kuballa mochte keine Witzchen hören. Er litt mit den Denunzierten und fühlte sich von Ingos Hohn beleidigt. Denn zuweilen stellte sich Kuballa vor, selbst eine der verratenen Ehefrauen zu sein.

Ich, träumte Kuballa in diesen Phasen radikaler Selbstvergewisserung, werde von meinem Gatten verleumdet, also verlasse ich ihn. Aber ich komme nicht weit. Die Staatssicherheit fängt mich und steckt mich in ein Bordell. Wenn ich schon, sagt die Sicherheit, wild herumficke, soll ich das auch am richtigen Ort machen. Und wenn ich nicht gehorche, werde ich ins Gefängnis gesteckt. Dort werde ich, sagt die Sicherheit, bestimmt auch vergewaltigt. Im Bordell kann ich mir die Freier aussuchen. Ich gehe in den Puff. Liliput heißt der Laden. Manchmal kommen auch Wessis vorbei. Die sind nett. Die sagen, daß die Ostfrauen einfühlsamer seien. Angst macht einfühlsam. Ich weiß, daß die Staatssicherheit in dem Raum, in dem ich ficke, Mikrophone installiert hat. Aber ich rede mit den Wessis sowieso nicht viel. Sex ohne Worte, das mögen die Wessis. Die Staatssicherheit kann mir gestohlen bleiben. Soll die mich doch in den Knast werfen.

Als Staatssicherheitsopfer war Kuballa, so könnte man sagen, mehr Frau als Mann.

In einem Opferverband lernte Kuballa einen Mann namens Lars Veltinger kennen, der gegen seine ehemaligen Peiniger mit seltsamen Mitteln zu Felde zog. Veltinger hatte viele Jahre im Staatssicherheitsknast in Hohenschönhausen verbracht, und nun sammelte er die Namen und Anschriften seiner Wärter und Vernehmer, er spürte ehemalige Staatssicherheitsmitarbeiter auf, offizielle und inoffizielle, und er stellte die Leute an den Pranger, indem er die gesammelten Namen und Adressen auf Plakate schrieb und diese Listen in Ostberlin an belebten Plätzen aufhängte. Veltinger hatte außerdem ein Buch geschrieben. Er hatte seine Lebensgeschichte, das heißt seine Knastgeschichte, im Selbstverlag herausgebracht.

Für Kuballa war das Werk ein Kultbuch, das der Buchhandel unverständlicherweise ignoriert hatte. Gegen diesen Mißstand wollte er etwas unternehmen, und so ging er abends in die Kneipen am Hackeschen Markt, weil er hoffte, dort interessierte Leser und großzügige Käufer zu finden. Da der Absatz aber zu wünschen übrig ließ, griff er bald zu drastischen Marketingmethoden. Er stellte sich auf Kneipentische, die nicht besetzt waren, und trug aus dem Veltingerbuch, das er mittlerweile genauso schwungvoll aufsagen konnte wie vor einigen Wochen noch die Staatssicherheitssprüche, die wichtigsten Passagen vor.

Das Unglück geschah vor unserer Wohnungstür. Meine Frau wollte sich von mir scheiden lassen. Ich habe das nicht ertragen. Wir haben gestritten, und ich habe sie die Treppe runtergestoßen. Wir wohnten im dritten Stock, in einem Hochhaus auf der Fischerinsel. Ich habe sie die Treppe runtergestoßen, und da hat sie sich ihren Hals gebrochen. Ich habe mich sofort gestellt. Meine Frau arbeitete im Kulturbereich. Bei den Intelligenzlern. Sicherungsbereich Literatur, so oder so ähnlich hieß ihre Abteilung. Da ging es um die Spitzel unter den Schriftstellern. Genaues weiß ich aber nicht. Meine Frau hat selten über ihren Job geredet. Ich habe Hemden und Hosen in einem Exquisitladen an der Stalinallee verkauft. Die Straße hieß später anders, wurde umbenannt, aber ich nenne sie immer noch Stalinallee. Eines Tages sagte meine Frau, daß sie sich in einen Schriftsteller aus Zwickau verliebt hat. Mit den Schriftstellern kann ich nicht mithalten, hat meine Frau gesagt. Dabei war meine Frau, glaube ich jedenfalls, sowas wie eine Sekretärin. Ich habe darauf bestanden, daß wir uns nicht trennen. Wegen der Kinder, die waren ja noch so klein. Wenn sie sich, habe ich gesagt, scheiden läßt, werde ich ihr das Leben zur Hölle machen. Wie ich das anstellen will, hat sie gefragt. Ich war völlig fertig mit den Nerven, und da habe ich ihr gesagt, daß ich ihrem Vorgesetzten stecken werde, was für ein Flittchen sie ist. Da hat sie mir eine geknallt, ist losgerannt. Ich hinterher. Meine Nerven sind durchgebrannt, und ich habe sie die Treppe runtergestoßen. Genickbruch.

Die meisten Kneipenbesucher schauten weg, wenn Kuballa auf einem Tisch stehend das Veltingerbuch rezitierte. Was wohl auch daran lag, daß die Läden am Hackeschen Markt in jener Zeit, in der Kuballa als Staatssicherheitsopfer auftrat, vor allem von Internetgeschäftsleuten besucht wurden, die mit der Vergangenheit wenig und mit mittelalterlichen Werbemaßnahmen noch weniger zu tun hatten. Nur wenige Touristen hielten Kuballa für ein Berliner Original, für einen super spannenden Typen, mit dem man ins Gespräch kommen mußte. Und so kam es vor, daß Kuballa, wenn ihn nicht ein strenger Hausherr vom Tisch geholt und aus dem Wirtshaus vertrieben hatte, nach seinem Auftritt mit pubertierenden Berlinreisenden aus Paderborn oder Rentnern aus Wilhelmshaven über die schreckliche Staatssicherheit und über die Leiden des Veltinger sprach. Kuballa erzählte den Leuten aus der Provinz die allertollsten Geschichten, und auch das Leben seines Helden Veltinger veränderte er nach Belieben. Einmal hatte Veltinger im Untergrund gelebt, ein anderes Mal hatte ein stalinistischer Richter den armen Mann zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt und verfügt, daß die beiden Kinder des Verurteilten zur Adoption freigegeben wurden.

»Sie werden es nicht glauben«, sagte Kuballa, »aber der Veltinger sucht bis heute seine Kinder. Deshalb hat er ja auch das Buch geschrieben. Er will seine Kinder wiedersehen. Und mit dem Kauf des Buches unterstützen Sie seine Suche.«

Wenn er seine Kindernummer abzog, bekam Kuballa ganz wäßrige Augen, und eine ältere Dame aus dem Schwarzwalddorf Wieden, die zum ersten Mal Berlin besuchte, war dermaßen gerührt, daß sie gleich zwei Veltingerbücher kaufte.

Diese Erfolge waren allerdings die Ausnahme. Einmal wäre es beinahe zu einer Schlägerei gekommen. Ein Germanistikstudent, der, wie Kuballa meinte, die Weisheit mit Löffeln gefressen habe, konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen, daß der Veltinger gar nicht schreiben könne.

Kuballa wußte durchaus, daß Veltinger kein begnadeter Autor war und daß der Exhäftling seine Probleme mit dem Konjunktiv hatte, aber von einem naseweisen Studenten wollte er sich nicht belehren lassen. Also schrie er den Kritiker an.

»Wenn Veltinger nicht schreiben kann, dann bist du ein Legastheniker.«

Der Germanistikstudent, der offenbar sehr viel auf seine sprachlichen Fähigkeiten gab, wollte gerade zum Faustschlag ausholen, als der Kneipenbesitzer auftauchte und Kuballa vor die Tür setzte.

Ignoranten, dachte Kuballa. Ein Opfer kritisiert man nicht.

Und so redete er sich ein, daß allein der stalinistische Staatssicherheitsrichter, der Veltinger einsperren ließ, verhindert habe, daß dieser Mann ein großer Dichter geworden sei.

Kein noch so peinlicher Rückschlag, keine noch so rüde Beschimpfung konnten Kuballa davon abhalten, seine Verkaufstouren aufzugeben, und manchmal traf er sogar Leute, die sich schon freuten, daß der Mann mit dem Veltingerbuch wieder vorbeikam. Einige Wirte hatten sogar einen kleinen Tisch für Kuballa bereitgestellt, auf dem er seine Veltingersätze verkünden durfte. Bei all den wechselnden Moden und Trends, die in den Kneipen am Hackeschen Markt diskutiert und ausgelebt wurden, war Kuballa tatsächlich ein beruhigender Faktor: Solange es Staatssicherheitstypen wie Kuballa gab, so hörte man die Gäste tuscheln, sei die Welt noch nicht vollends aus den Fugen geraten.

Eines Abends kam Kuballa in eine Kneipe, in der auch Jana saß. Er wollte gerade auf einen Tisch steigen und loslegen, als er sie bemerkte.

»Hallo.«

»Hallo.«

»Was machste denn hier mit den ganzen Büchern unterm Arm?«

»Die verkaufe ich.«

»Biste Buchhändler geworden?«

»Nö. Ich setze mich für die Rechte von Staatssicherheitsopfern ein.«

»Mit den Büchern?«

»Genau.«

»Hört sich ja nach wichtiger Aufgabe an.«

»Und du?«

»Ich bin hier mit Freunden. Ralf, Bettina. Willste dich nicht setzen?«

»Vielen Dank, ich habe zu tun.«

»Zeig mal, was sind das denn für Bücher, die du verkaufst? Das sind ja immer die gleichen.«

Jana schaute auf den Titel des Buches.

»Die Schweine von der Staatssicherheit. Scheint ja momentan schwer angesagt zu sein, diese Stasi.«

»Habe ich bislang noch nicht bemerkt.«

»Ja, wirklich. Ich lese gerade auch so ein Buch. Das spielt in der Zukunft, irgendwann in tausend Jahren. Da ist ein Typ, der das Leben auf dem Mars tyrannisiert. Der hat eine Truppe gegründet, die er ebenfalls Staatsicherheit nennt. Als dann aber die Freiheitsarmee der Erde einschreitet und den Marstyrannen ausschalten will, hat der sich mitsamt seiner Stasitruppe kurz vor der Invasion der Freiheitsarmee in Luft aufgelöst. Und auf dem Mars kann sich keiner daran erinnern, daß es auf dem Planeten jemals einen Tyrannen gegeben hat. Ist total gaga, das Buch. Aber irgendwie auch komisch. Habe bei dem Marstyrannen manchmal auch an dich gedacht.«

»Gut, daß wir nicht in der Zukunft leben.«

»Und nicht in der Vergangenheit.«

»Jana, ich muß weiter.«

»Klar, viel Erfolg mit den Büchern.«

»Tschüs.«

»Tschüssi.«

In den nächsten Tagen überlegte Kuballa, ob er sich das Buch von dem Marstyrannen kaufen sollte, aber da seine Aktivitäten im Opferverband zunahmen, hatte er nicht nur das Marstyrannenbuch, sondern auch Jana bald wieder vergessen.

Der Kampf um Gerechtigkeit erforderte alle verfügbaren Kräfte. Veltinger war nämlich von dem Wahn besessen, daß Berlin, Deutschland und Europa auch nach der Auflösung des Warschauer Paktes von Bolschewisten und Tschekisten beherrscht werden. Daß Veltinger von gefährlichen Geheimbünden und dunklen Weltverschwörern redete, hielt Kuballa keineswegs davon ab, den Exhäftling auf seinem Feldzug gegen die Staatssicherheit tatkräftig zu unterstützen.

Kuballa übernahm Veltingers Ansichten, und er übernahm dessen Rachegefühle. Veltinger hatte gesagt, daß man die Staatssicherheitstäter bestrafen müsse, weil die Justiz zu lasch mit ihnen umgehe. Und was tat Kuballa? Er gab seine Buchkampagne auf und zog in den Nächten durch Berlins Ostbezirke, um die Wohnungstüren seiner neuen Gegner mit roter Götterspeise zu bewerfen. Diese glorreiche Idee kam natürlich von Veltinger, der behauptete, daß rote Götterspeise besonders klebrig sei und besonders intensiv färbe. Veltinger sagte, rote Götterspeise sei die gerechte Strafe für die Staatssicherheitsschweine.

Wochenlang zerschellten in Berlin jede Nacht einige Dutzend Plastikbecher mit roter Götterspeise an den Türen der Leute, die auf der Liste des Exhäftlings standen. Kuballa war einer der eifrigsten Götterspeisewerfer. Nach dem Täterleben hatte ihn nun auch das Opferleben angriffslustig gemacht.

Kuballa fand auch heraus, wo der Makler Wesemüller wohnte, und wenige Tage später wurde dessen Köpenicker Einfamilienhaus mit Götterspeise beworfen.

Mit deiner betrügerischen Makelei, dachte er, hast du dir also einiges zusammenverdient und dieses Häuschen gekauft. Die Götterspeise hast du dir verdient. Fahr zum Teufel.

Tagsüber arbeitete Kuballa ehrenamtlich für einen gemeinnützigen Verein, der sich der Gedenkstättenpflege verschrieben hatte. Bolschewisten nach Bautzen lautete die inoffizielle Losung des Vereins, dessen Vorsitzender wiederum der Exhäftling Veltinger war. Kuballa war mittlerweile so von seinem Engagement überzeugt, daß er jeden, den er traf, über die, so hieß es in den Werbeblättchen des Vereins, einzig gute Sache in Deutschland informierte.

Als Kuballa auch Ingo von Veltingers Ideen zu überzeugen versuchte, wurde Ingo richtig ärgerlich. Er beschimpfte Kuballa, er meckerte über die Gedenkstätten und den, so nannte er das, grauenhaften Gedenkstättentourismus. Den Veltinger nannte Ingo eine tragische Figur und einen Spinner, dem man wahrscheinlich nur helfen könne, wenn er endlich seine Kinder zu Gesicht bekäme.

Das sehe den Deutschen wieder mal ähnlich, sagte Ingo, daß sie Gedenkstätten und Opfervereine brauchen, um sich an den Scheißdreck zu erinnern.

»Mensch Kuballa«, sagte Ingo, »das ist ja furchtbar, was du da machst.«

Diesen Ingo hatte Kuballa noch nicht erlebt. Den Ingo, der wie ein Lehrer auftrat, der rigoros sagte, was gut und was böse sei. Für Kuballa war Ingo eine Autoritätsperson. Und für Kuballa war das Urteil, das Ingo über ihn fällte, vollkommen demoralisierend. Mit diesem, wie Kuballa empfand, vernichtenden Urteil hatte er nicht gerechnet. Ihm war durchaus bewußt, daß es viele Leute gab, die sich gegen jede Art der Vergangenheitsbewältigung wehrten. Kuballa war davon überzeugt, daß er mit einer bestimmten Spezies Mensch, insbesondere mit den geschichtsvergessenen Wessis, niemals über seine Trauerarbeit hätte vernünftig reden können. Hätte Kuballa etwa mit seinen Eltern über die Gedenkstätten diskutiert, wäre er nicht einen Millimeter von seiner Position abgewichen. Er hätte seine Haltung um jeden Preis verteidigt. Aber daß ausgerechnet Ingo ihn nicht unterstützen mochte, daß Ingo ihn wegen seines ehrenamtlichen Engagements sogar zurechtwies, raubte ihm sein sonst so stark ausgeprägtes Selbstbewußtsein.

Kuballa stotterte: »Ja, nein, weiß nicht, du wirst es besser wissen ...«

Das Stottern war ihm peinlich. Also lachte er. Sein Lachen aber blieb ihm im Halse stecken und schnürte ihm die Luftröhre zu. Und so lachte Kuballa nicht mehr, er röchelte.

Jetzt ist es aus, dachte Kuballa.

Er hatte Todesangst.

Ingo bemerkte, daß Kuballa grün und blau angelaufen war.

»Fehlt dir was?« fragte er.

»Näääh«, keuchte Kuballa.

»Soll ich einen Arzt rufen? Du siehst ja schlimm aus.«

»Näääh.«

»Wirklich nicht?«

»Nein, geht schon wieder.«

Minuten vergingen, bis Kuballa meinte, er werde demnächst wegziehen. »Wieder in den Westen.«

»Wie kommste denn jetzt darauf?« fragte Ingo.

»Schweineöde«, sagte Kuballa, ohne auf Ingo einzugehen, »dieser Ort hat mich verrückt gemacht.«

»Red keinen Scheiß. Laß dich doch nicht von mir runterziehen. Ich find diese Gedenkvereine eben saublöde.«

»Versteh schon«, murmelte Kuballa.

»Vergiß doch diesen Quatsch«, sagte Ingo. »Such dir einen vernünftigen Job. Schweineöde hin oder her, du mußt unter andere Leute. Mein Gott, ich bin doch nicht deine Mutter.«

Es vergingen einige Wochen, ohne daß Kuballa mit jemand sprach. In dieser Zeit lag er meistens im Bett. Er dachte darüber nach, wie schnell doch die Jahre in Schöneweide vergangen waren. Er erinnerte sich an die Frau von der Wohnungsbaugesellschaft, die behauptet hatte, daß wohl noch viele Wessis nach Schöneweide kommen würden, aber die Sächsin hatte sich geirrt.

Nach Schweineöde, dachte Kuballa, habe nur ich mich getraut.

Mittlerweile war Kuballa zweiunddreißig Jahre alt, und er hatte das Gefühl, daß sich in seinem Leben unbedingt etwas ändern mußte. Kuballa hatte in Schöneweide alles erlebt, was es seiner Meinung nach zu erleben gab: Einsamkeit, Haß, Zuneigung, Liebe, Ablehnung, Gewalt, Erniedrigung, Ohnmacht und Macht.

Die Zeit in Schweineöde, dachte er, hat sich gelohnt. Nun muß ich das Projekt abschließen.

Kuballa stand auf und besuchte die Kolbs, die sich freuten, daß er mal wieder vorbeikam. Fast wie früher, sagten sie, ein Abendessen zu dritt.

Frau Kolb stellte Spreewaldgurken und Bier auf den Tisch, und Herr Kolb redete über sein neues Spezialthema: Die Russenmafia, sagte er, die werde uns noch alle überrollen, überhaupt die Gefahr aus dem Osten. Wenn erst mal die Polen zur Europäischen Union kämen, dann stünden die Russen schon vor der Haustür. Ob er denn nicht, fragte Herr Kolb, von den Leichen an der Glienicker Brücke gelesen habe, von den Autoschiebern und Ikonenhändlern, Waffenhändlern und Menschenhändlern. Man müsse nur die Zeitung aufschlagen und die Sexinserate von den Sibirischen Katzen und Taigamiezen anschauen, dann wüßte man schon, wie es um unser Land bestellt sei. Bald werde auch noch die Deutsche Mark abgeschafft, das sei kein gutes Zeichen.

Kuballa nickte und sagte: »Wird schon nicht so schlimm werden.«

Das Gespräch ödete Kuballa an. Und er ging, bevor er sein Bier ausgetrunken hatte.

Daheim setzte er sich an seinen Schreibtisch und überlegte, wie schwierig das Schreiben in der Schreibzelle des Hohenschönhausener Staatssicherheitsgefängnisses wohl gewesen war. Doch er konnte sich den Schreibzwang nicht vorstellen. Er konnte sich nichts mehr vorstellen. Jedenfalls nichts, was die realsozialistische Vergangenheit betraf. Und er war glücklich darüber.

Ich bin, dachte er, wieder ein freier Mensch. Jetzt müßte ich mich nur noch auflösen können. Wie in dem Marstyrannenbuch von Jana.

Wenn er sich auch nicht auflösen konnte wie ein Lebewesen der Zukunft, war Kuballa dennoch glücklich, allein in seiner Wohnung zu sein. Damit nahm er an, daß niemand in seiner Nähe weilte, der seine Gedanken lesen konnte; denn dieser Gedankenleser hätte ihn womöglich gefragt, warum er denn bislang unfrei gewesen sei. So aber genoß Kuballa seine neue Freiheit, indem er ein umfangreiches Geständnis niederschrieb. Er schrieb auf, für welche Taten er sich verantwortlich fühlte.

Dieses Gefühl, dachte er, kenne ich noch nicht. Das ist noch eine anregende Herausforderung, verantwortlich zu sein.

Kuballa gestand, daß er seinem Nachbar Akuszewski eine Tüte mit Hundertmarkscheinen in den Keller gelegt hatte. Kuballa erwähnte seine Hausfriedensbrüche, Diebstähle, Belästigungen und Beleidigungen. Und er klärte die Polizei auch über die ominösen Götterspeisenattacken auf.

Sein Geständnis legte er in einen Umschlag, den er an den Kommissar adressierte, der schon Kuballas Wohnung durchsucht hatte. Drei Tage lang rührte er den Brief nicht an. Dann schickte er ihn ab.

Kuballa ärgerte sich, daß in den folgenden Tagen nichts geschah. Keine Reaktion auf seinen Brief. Niemand kam vorbei.

Kuballa hatte nicht mehr eingekauft, weil er angenommen hatte, daß man ihn umgehend abholen würde, und so mußte er, weil sich die Dinge offenbar anders entwickelten, etwas Eßbares organisieren. Er fuhr nach Köpenick, weil er befürchtete, in einem Schöneweider Supermarkt Leute zu treffen, die er kannte.

Irgendwann muß wirklich mal Schluß sein, dachte er, mit Schweineöde habe ich nichts mehr zu tun.

In Köpenick traf er dann aber Wesemüller, was Kuballa nicht wirklich hätte überraschen dürfen, da er ja wußte, daß der Makler in Köpenick wohnte. Immerhin hatte er dessen Haus mit Götterspeise beworfen. Doch Kuballa gab sich verblüfft, daß er Wesemüller nach all den Jahren wiedergetroffen hatte. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Makler fuhr er wieder zurück nach Schöneweide. Er aß die Portion Ravioli, die er in Köpenick gekauft hatte, und nach dem Mahl ging er zu Bett. Er war todmüde. Und er schlief fast elf Stunden.

Als Kuballa, noch immer müde, am nächsten Morgen aufstand, glaubte er, von einer Insektenübermacht verfolgt zu werden.

Überall, dachte er, diese Mistviecher.

Der Sommer war schwülwarm, und er hatte über Nacht das Fenster aufgelassen. Doch statt kühler Luft waren, so dachte er jedenfalls, alle bösen Kerbtiere Schöneweides in sein Zimmer geströmt.

Kuballa trank noch einen Gin Tonic und lutschte wieder an einer Knoblauchzehe, weil er die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, mit dem Knoblauchgeruch die Insekten zu vertreiben, und, welch Wunder, die Tierchen verließen, bis auf eine besonders hartnäckige Fliege, fluchtartig den Raum.

Kuballa ging zu seinem Schreibtisch und schaute noch einmal auf die Kopie der Ansichtskarte, die er seinerzeit an den Staatsrats- und Parteivorsitzenden Erich Honecker geschrieben hatte. Er schaute auf die amtliche Nummer, unter der die Karte registriert war. Null. Vier. Zwei. Fünf. Neun. Sechs. Das Papier lag auf einem Stapel von Briefen, die er noch beantworten wollte. Doch er saß reglos da. An diesem achtzehnten August neunundneunzig.

Als die Türglocke schellte, nahm er einen Stift zur Hand und schrieb auf eine Zeitungsseite den folgenden Satz: Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Er schrieb diesen, wie er selbst meinte, blöden Satz in aller Seelenruhe und in schönster Schreibschrift, und sein versteinertes Gesicht machte die lächerliche Szene leicht pathetisch – so als wüßte er, wer da draußen stand.

Es klingelte noch einmal, und Kuballa ging langsam zur Tür.

Vor ihm standen zwei Polizisten.

»Sind Sie Raimund Kuballa?« fragte der eine.

»Einen Moment bitte, kommen Sie doch herein. Möchten Sie etwas trinken?«

»Herr Kuballa, wir sind nicht hier, um mit Ihnen Tee zu trinken«, sagte der andere Polizist.

»Was Sie nicht sagen.«

Der Kommissar, dachte Kuballa, hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, selbst vorbeizukommen.

Für Friedo und Henrik

Eins

Raimund W. Kuballa hatte die Kopie der Ansichtskarte schon lange nicht mehr angesehen. Warum auch? Er kannte jedes Wort, das darauf geschrieben stand. Längst hatte er sich sogar die amtliche Nummer eingeprägt, unter der die Karte bei der Staatssicherheit registriert war. Null. Vier. Zwei. Fünf. Neun. Sechs. Das Papier lag auf einem Stapel von Briefen, die er noch beantworten wollte.

Kuballa wandte den Blick von dem Blätterstapel ab und schielte zu einer Fliege, die sich auf seiner linken Wange niedergelassen hatte. Wenige Sekunden saß er reglos da. Als Kuballa die kribbelnde Backenstelle mit seiner Zunge ausbeulte, schwirrte der Brummer davon.

Seit Tagen war es schwülwarm. Kuballa hatte das Fenster über Nacht aufgelassen, um besser schlafen zu können. Doch statt kühler Luft waren, so dachte er jedenfalls, alle bösen Kerbtiere Oberschöneweides in seine Schlafstube geströmt. Und als er, Minuten nach dem Aufwachen, langsam seinen Oberkörper aufgerichtet hatte, glaubte er sogar, von den Facettenaugen eines Stechmückengeschwaders taxiert zu werden.

Die Wadenhaut hatte gejuckt; das konnte unmöglich nur ein einziges Stechvieh gewesen sein! Zehn, zwanzig Mücken hatten ihn im Schlaf angegriffen, davon war er überzeugt, wie man eben von Dingen überzeugt ist, wenn man ein paar Stunden zu viel geschlafen hat. Kuballa hatte fast elf Stunden im Bett verbracht.

Verschwitzt war er aufgestanden, sein Pyjama müffelte. Auf dem Weg zur Toilette hatte er sich erneut von einer unsichtbaren Insektenübermacht verfolgt gefühlt; deshalb war er, statt seine mit Nachtharn gefüllte Blase zu entleeren, endlich zum Gegenangriff übergegangen. Kuballa hatte sich an seinen ehemaligen Bonner Hausarzt erinnert, der oft davon erzählt hatte, daß er, der Fachmann für Allgemeinmedizin und Spezialist für Tropenkrankheiten, damals im Dschungel, als er noch jung gewesen sei, täglich mehrere Liter Gin Tonic getrunken habe, woraufhin das üble Dschungelungeziefer vom Geruch des stechenden Gintonicschweißes in die Flucht geschlagen worden sei.

So hatte der Juckreiz, eine merkwürdige Insektenparanoia und die Hoffnung, all dies sofort zu beenden, den vom langen Schlaf noch müden Kuballa in die Küche zu dem Regal mit den Alkoholika getrieben.

Kuballa hatte ein mit Kalkrückständen verunreinigtes Glas, eine halbvolle Pulle Gin und eine frische Flasche Tonic Water auf ein Tablett gestellt, er war ins Schlafzimmer zurückgekehrt, in dem er nicht nur schlief, sondern auch wohnte und arbeitete.

Hier saß er also im Schlafanzug vor seinem Schreibtisch, schlotzte langsam den Gin Tonic. Außerdem verdrückte er eine Hand voll Knoblauchzehen. Erst lutschte er den Knoblauch, dann schluckte er die Zehen hinunter. Er stank fürchterlich aus dem Mund. Den Tip mit dem Knoblauch hatte Kuballa von seiner Mutter, die im Sommer jeden Morgen zwei Löffel Knoblauchgranulat in ihren Tee gab, um sich vor unangenehmen Insekten zu schützen.

Kuballa atmete tief ein und wieder aus; die Stechmücken hatten sich wohlweislich längst verkrochen. Von der Insektenübermacht blieb allein die Fliege zurück, die er mit geschwollenen Augen beobachtete.

Die Fliege landete auf der Tageszeitung vom vierzehnten August neunundneunzig. Das Blatt war schon ein paar Tage alt, was die Fliege natürlich nicht sonderlich interessierte; das Tierchen schien die Oberfläche des Papiers zu untersuchen. Die Seiten mit den Wohnungsanzeigen waren aufgeschlagen. Kuballa rieb sich den Schlaf aus den Augen und glaubte zu beobachten, wie die Fliege genüßlich die Druckerschwärze ableckte.

Die mag das Zeug, dachte er, die ist richtig bedröhnt. Die saugt sich Druckerschwärze in den Körper, und dann läßt sie ihre Druckerschwärzekacke auf meinen Kopf fallen.

Die Fliege aber hob nach kurzer Zeit wieder ab; die Druckerschwärze hatte sie offenbar doch nicht beduselt, und ihren Fliegendarm wollte sie auch nicht entleeren. Stattdessen umkreiste sie Kuballas Kopf, in dem der Gin Tonic zu wirken begann, und ließ sich auf seinem linken Unterarm nieder. Kuballa rührte sich keinen Millimeter vom Fleck. Das Tierchen ging zwei, drei Zentimeter über seinen Arm. Kuballa bekam eine Gänsehaut. Er mochte dieses Gefühl. Jetzt wünschte er sich, die Fliege möge immer weiter auf seiner Haut spazierengehen, über seine Armhärchen tänzeln.

Arme Fliege, dachte er nun, wie oft mußtest du schon in Träumen sensibler, depressiver Romanheldinnen auftauchen, wie oft wurdest du als Symbol für ein sonst nicht näher bestimmbares Ekelgefühl mißbraucht, wie oft warst du auch in meinen schlaftrunkenen Phantasien der Inbegriff des Bösen – dabei bist du ein harmloses Vieh.

Grünlich schimmerte der Rücken der Fliege; Kuballa registrierte jede Bewegung des Sechsbeiners. Das rastlose Insekt hangelte sich von Armhaar zu Armhaar. Fliege, sagte Kuballa nun deutlich lauter, so laut, als wollte er eine Ansprache an die Fliege halten: Du weißt nicht, daß jede deiner Bewegungen mich kitzelt, und ich weiß nicht, was dich antreibt und warum du nicht stillhältst. Warum du für eine weitere kurze Rast ein Zeitungsblatt ausgesucht und warum du daraufhin wieder Kreise durch mein Zimmer gezogen hast, um ausgerechnet auf dem größten Leberfleck meines Unterarms zu landen, aus dem schwarze Leberfleckhaare sprießen, die viel dicker und härter sind als der weiche Rest meiner Armbehaarung. Eine nervöse Romanheldin würde dich quälen, dich mit der flachen Hand plattschlagen. Hier aber bist du frei, du stolzierst in Richtung Armbanduhr, das Zifferblatt im Visier, ein flotter Salto, und dann läßt du dich über der Zahl sechs nieder, auf die der große Zeiger weist. Es ist halb drei. Fliege, vor ein paar Wochen noch hätte deine Unruhe mir ein schlechtes Gewissen gemacht. Ich bin gerade erst aufgestanden, und du surrst schon wieder durch mein dunkles Zimmer.

Weil zu keiner Tageszeit genügend Sonnenlicht in Kuballas Erdgeschoßwohnung fiel, weshalb er ohne elektrisches Licht keine Zeitung, geschweige denn ein Buch lesen konnte, hatte er in seinem Schlafwohnundarbeitsraum drei Deckenlampen, eine Schreibtischlampe und eine Stehlampe installiert. Alle Lichtquellen hatte er an einen Schalter angeschlossen. Entweder waren alle Lampen angeschaltet, oder sie waren eben ausgeschaltet. Die vierhundertzwanzig gesammelten Watt können, erklärte Kuballa – wenn Gäste sich nach dem Sinn dieser Konstruktion erkundigten, und das taten sie eigentlich immer – einen wirksamen Kunstlichtschock auslösen: Zack, sagte er, und du bist wach!

Heute aber genoß Kuballa den Dämmerzustand, den unproduktiven Übergangszustand nach dem Aufstehen. Die Lampen blieben erst einmal ausgeschaltet. Nicht nur dunkel, sondern auch ruhig war es. Ab und zu summte die Fliege. Kein Krach dröhnte durch die Wand; der Sägebetrieb im Nachbarwohnblock hatte Bankrott gemacht.

Pech für den Sägemeister, flüsterte Kuballa, Glück für mich. Wie schön, daß die kreischenden Maschinen stillgelegt sind.

Auch Nachbar Florian Überreiter schien nicht anwesend zu sein; seine Stereoanlage gab jedenfalls keinen Mucks von sich. Der Herr Überreiter war ein begeisterter Popmusikhörer. Allerdings besaß der Herr Überreiter nur wenige Musikkassetten und noch weniger Compactdiscs. Außerdem hörte sich der Herr Überreiter kein Lied bis zum Ende an.

Nach zwanzig Sekunden, dachte Kuballa, unterbricht der Herr Überreiter den Popsong, dann spielt er dieselbe Stelle noch einmal, oder er entscheidet sich für eine andere markante Stelle desselben Songs. Die Lieblingssongs des Herrn Überreiter werden zwar auch im Radio gespielt, aber der Typ hört kaum Radio. Die Überreitersongs werden zwar auch im Radio mehrmals am Tag wiederholt; der Herr Überreiter aber zieht es vor, einzelne Stellen der immergleichen Songs so oft wie möglich hintereinander zu hören. Kein Radioprogramm der Welt, dachte Kuballa, kann die Bedürfnisse des Herrn Überreiter befriedigen. Ein Wonneleben, wenn seine Stereoanlage schweigt. Ein Wonneleben in Oberschöneweide. Unvorstellbar. Hier wird es leise, und ich muß bald weggehen. Unvorstellbar, nachmittags um drei Uhr träge herumzusitzen, die Lichter nicht anzuschalten, Gin Tonic zu trinken und Knoblauch zu lutschen, und das alles nicht am Sonntag, nein, an einem Mittwoch, und nicht in den Ferien, sondern an einem Tag, an dem ich schon seit Stunden durch die Straßen Oberschöneweides hätte ziehen können, um dies oder das zu erledigen.

An diesem Tag machte Kuballa so gut wie gar nichts. Ab und zu starrte er auf die Kopie der Ansichtskarte, die mit dem Eingangsstempel der Staatssicherheit versehen war.

Kuballas Abenteuer in Oberschöneweide begann am dritten April einundneunzig. Er war soeben von einer ausgedehnten Asienreise nach Deutschland zurückgekehrt. Statt direkt nach Bonn zu seinen Eltern zu fliegen, hatte er sich für einen Zwischenstopp in Berlin entschieden. Fast drei Monate war er durch Kambodscha, Vietnam und Laos gereist, und als er in einem Berliner Hotelbett lag, dachte er darüber nach, warum ihn diese Reise eigentlich gelangweilt hatte. Er kam zu keinem Ergebnis. Kuballa blätterte in einem Stadtmagazin und stieß auf das schlichte Inserat des Maklers Manfred Wesemüller. »Leben im Osten«, hieß es in der Anzeige, »Einraum, Zweiraum, Dreiraum – der wahre Wohnungstraum« Von diesem Text, von diesem, wie Kuballa meinte, sakralen Werbegedicht angetrieben, machte er sich am nächsten Tag auf den Weg in Wesemüllers Büro.

Kuballa trug, als er zu Wesemüller ging, einen grauen Flanellanzug und ein schwarzes Hemd; seine schulterlangen, pechschwarzen Haare hatte er mit Gel glatt nach hinten gestrichen.

Ich sehe aus, dachte Kuballa, wie einer, den westdeutsche Trendforscher wohl für einen Prototyp der achtziger Jahre halten.

Kuballa duftete nach süßlichem Parfum. Also sah er nicht nur so aus wie ein westdeutscher Prototyp der achtziger Jahre, er roch wahrscheinlich auch wie einer. Seine Körpergröße allerdings war mit einem Meter siebenundachtzig alles andere als durchschnittlich. Außerdem wirkte Kuballa älter, als er tatsächlich war. Man schätzte ihn auf Ende zwanzig. Wenn man ihn zum ersten Mal zwei, drei Minuten reden hörte, mochte man ihn sogar für einen Enddreißiger halten. So ernsthaft sprach er, und so weltläufig gab er sich. Kuballa war allerdings, als er nach Oberschöneweide kam, erst vierundzwanzig Jahre alt.

Kuballa sah unsportlich aus, was besonders dann auffiel, wenn er von seinen athletischen Heldentaten erzählte. Während eines Schüleraustausches mit einem College in Cambridge hatte Kuballa zu rudern begonnen, und solange er noch ins Gymnasium ging, ruderte er fast jeden Tag. Stundenlang war er mit dem Boot auf dem Rhein; er ruderte am liebsten allein. Damals waren seine Schultern mit Muskelpaketen bepackt, die mittlerweile aber, weil er nach dem Abitur das Rudern aufgegeben hatte und seitdem kaum noch Sport betrieb, wie Fettpolster aussahen. Kuballa war ein ungelenker Klotz. Auf seinem etwas aus den Fugen geratenen Rumpf und dem viel zu kurzen Hals saß ein verhältnismäßig kleiner Kopf. Und dieser Kopf wurde durch die etwas zu groß geratene Hornbrille, die Kuballa zu seinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte und die er bis heute nicht durch ein zeitgemäßeres Modell ersetzen wollte, leider nicht verschönert.

Der Makler Wesemüller residierte in einer Friedrichshainer Hinterhofwohnung. Kuballa suchte fast zwei Stunden lang Wesemüllers Klingelknopf in Häusern, die unbewohnbar aussahen, und er hatte die Suche schon fast aufgegeben, als er neben einem Maschinenlager in einem Hinterhof hinter einem Hinterhof schließlich die Wesemüllerklingel und den Wesemüllerbriefkasten fand. Und schließlich auch Herrn Wesemüller höchstpersönlich.

»Allein?« fragte der Makler, und als Kuballa sagte, daß er bislang bei den Eltern gelebt habe und die nächste Zeit erst mal keine Mitbewohner um sich herum ertrage, entgegnete Wesemüller, er könne ihm bestimmt die passende Wohnung anbieten. Kuballa müsse nur sofort zuschlagen. Sofort, denn man wisse ja nie, wer noch alles komme.

Als Kuballa das Wesemüllerbüro betrat, nahm er an, daß dieser Makler in seinem Leben noch nie ein großes Geschäft gemacht hatte. Einer, dachte Kuballa in seiner unnachahmlich arroganten und in dieser Arroganz sehr klugen Art, einer, der wie ich in Bonn-Bad Godesberg aufgewachsen ist, also im Zentrum des Wirtschaftswunderlandes Bundesrepublik Deutschland, erkennt auf den ersten Blick, wer ein guter und wer ein schlechter Geschäftsmann ist.

Daß Wesemüller wie ein schlechter Geschäftsmann aussah, begeisterte Kuballa genauso wie die schmucklos schöne Werbegedichtanzeige in dem Berliner Bezirksblättchen.

Der Makler las weitere Angebote vor.

Lustlos, dachte Kuballa, desinteressiert.

Ein derart lethargisches Geschäftsgebaren war ihm noch nicht begegnet. Warum vertrödelt dieser Wesemüller, fragte er sich, seine kostbare Zeit mit Dienstleistungen, die ihn eher ruinieren als weiterbringen?

Wesemüller bot seinem Kunden keinen Stuhl an. Das Geschäft, mutmaßte Kuballa, muß schnell über die Bühne gehen. Ein irgendwie dubioses Geschäft. Da schwatzt man nicht drüber. Ist das überhaupt ein Makler? Ich soll, dachte Kuballa, nicht länger abwägen. Diese oder jene Wohnung, dieser oder jener Bezirk? Egal. Hauptsache ich entscheide mich endlich.

Wesemüller kam immer auf die Wohnung zurück, von der er offenbar glaubte, es sei die einzige, die Kuballa gefalle. Aber so schnell konnte und wollte sich Kuballa nicht entscheiden, und so begann der Makler, doch ein wenig zu plaudern.

Prima, dachte Kuballa. Der Kerl hat doch noch herausgefunden, worauf es mir ankommt.

»Ich war Lehrer«, sagte Wesemüller, »ich war in der Partei, und jetzt wollen sie mich nicht mehr. Ich habe meine Kollegen verpfiffen.«

Wesemüller machte eine kurze Pause und sagte dann: »So ein Rhabarber. Einmal Verräter, immer Verräter. Mein Leben ist Rhabarber, und meine Rente, die ist lausig.«

Wahrscheinlich, dachte Kuballa, ist dieser Wesemüller doch kein so schlechter Geschäftsmann. Der vermutet, daß ein Bonn-Bad Godesberger Schnösel, der einen ostdeutschen Makler aufsucht, darauf versessen sein könnte, ein Staatssicherheitsopfer oder besser noch: einen Staatssicherheitstäter kennenzulernen. Recht hat er. Lehrer und Makler, dachte Kuballa, kann ich nicht ausstehen. Aber Makler, die mal Lehrer waren, und die auch noch behaupten, sie hätten für die Staatssicherheit gearbeitet, diese Kombination gefällt mir.

»Mit einem ehemaligen Mitarbeiter der Staatssicherheit habe ich noch nicht gesprochen«, sagte Kuballa.

»Irgendwann ist immer das erste Mal. Und wenn Sie in den Osten ziehen, wird Ihnen das ja noch häufiger passieren.«

»Habe gar nichts dagegen.«

»Ach, wirklich?«

Der Makler schien nachzudenken und sagte nach einer Weile: »Entschuldigen Sie, ich bin gleich wieder da.«

Wesemüller verschwand im Nachbarzimmer, und Kuballa nutzte die Zeit, um sich das Büro anzuschauen. Auf zwei Postern räkelten sich zwei nackte Blondinen im Dünensand.

Etwas zu mollig, dachte Kuballa.

»Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, sagte Wesemüller, der den Raum wieder betrat. Er hatte einen wackligen Stuhl aus dem Nebenzimmer gebracht.

»Ach, ich steh gerne«, log Kuballa. Er überlegte, was Wesemüller in der Vergangenheit alles getan haben mochte. Doch seine Neugier blieb unbefriedigt, weil Wesemüller seine Staatssicherheitsgeschichte nicht weiter ausführte und wieder auf den Wohnungsmarkt in Ostdeutschland zurückkam.

»Wer in der DDR wegen eines Verteilfehlers oder wegen guter Beziehungen stolzer Mieter zweier Wohnungen gewesen ist,« erzählte Wesemüller, als wollte er eine Schulung über das Mietwesen der Deutschen Demokratischen Republik durchführen, »der braucht heutzutage einen Makler, verstehen Sie, zur Vermittlung der Zweitwohnung. Wenn man den kostbaren Wohnraum nicht abgeben will. Wenn man etwas dazuverdienen will. Ich habe ja seit dem Rauswurf aus dem Schuldienst sonst nichts zu tun, also, ich vermittle diese Zweitwohnungen. Das wußten sie doch, oder?«

Ist doch kein schlechter Job, dachte Kuballa, und er konnte es sich gerade noch verkneifen, diesen Spruch auch vorzutragen.

Kuballa nickte.

»Waren Sie mal vor dem Mauerfall im Osten?« fragte Wesemüller.

Kuballa nickte wieder.

»Und? Hat’s Ihnen gefallen?«

»Der typische Schulausflug. Mit Besuch im Pergamonmuseum. Wir meckerten über die schlechte Luft in dem Raum, wo der Altar stand, und beschwerten uns darüber, daß das Ding so ramponiert aussah. Unsere Klassenlehrerin Böhlke meinte, der Altar sei ein imposantes Bauwerk. Schriftsteller hätten darüber geschrieben. Wir waren ganz und gar nicht beeindruckt, weil die Böhlke so ziemlich jedes Bauwerk, über das sie sich äußerte, imposant nannte; nur die Klassentrulla, die Anna hieß und die mit ihrer Ponyfrisur von vorn genauso bescheuert wie von hinten aussah, glaubte der Böhlke. Wirklich imposant, sagte die dann auch. Die Annatrulla war schrecklich naiv. Sie fragte einen Museumswärter, ob sie ihre umgetauschten Ostmark nicht für den Erhalt des Altars spenden könne, worauf der Wärter lächelnd die Hand aufhielt und das Geld einsteckte. Ihre Spende war futsch, der Ausflug ging weiter.«

Wesemüller, der offenbar nicht damit gerechnet hatte, daß der Kunde, der bislang zurückhaltend, fast wortkarg gewesen war, so ausführlich antworten würde, forderte Kuballa mit einer kurzen Handbewegung auf, doch bitte fortzufahren.

»Und wohin?«

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