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Die Welt ist ein Buch.
Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon.

Aurelius Augustinus (354-430)

BERND UND DANIEL MANSHOLT

WIR HAUEN AB!

Eine Familie unter Segeln

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Delius Klasing Verlag

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Inhalt

Erster Teil

Prolog

Game over oder: Das Abenteuer soll beginnen

Abgelegt

Legerwall

Daniel kommt

Behördenkrams gehört dazu

Der erste Kontakt

Die Biskaya

Dokumentationen

Heimweh

Der Affenfelsen

Entführt ins Morgenland

Die Kanaren

Die ARC: Atlantic Rallye for Cruisers

Der Große Teich

Landfall in der Karibik

Für Einheimische verboten

Deep blue just for you

Unter Indianern

Vor Gericht

Der Panamakanal

Der Pazifik

Probleme auf See

Familienrat

Zweiter Teil

Neues Spiel, neues Glück

Dieters Vitamine

Erkennungszeichen Pirat?

Verletzung auf See

Galapagos

Für eine Handvoll Dollar

Pulpo und Pirata

Iguanaman de Galapagos

Die unendliche Weite des Pazifiks

Perlen der Südsee

Blank in der Südsee

Samoa, Muamua Le Atua

Gottfried Hagedorn

Melanesien

Der rote Vogel

Streitkultur

Rotten beef

Die Mütter der Räuber

Die Farbe des Goldes

Innere Abenteuer

Keine Gefangenen

Sri Lanka

Gisela und Tom und andere

Auftrieb

Latte di mare

Das Tor der Tränen

Caretta caretta

Prince Of The Red Sea

Mare Nostrum

In den Kanälen

»Seid ihr glücklich?«

Das liebe Geld

Ohne euch …

Unsere NIS RANDERS

Statistik

Licht und Schatten

Epilog

Nis Randers (von Otto Ernst)

Erster Teil

Prolog

Für Susanne waren es der Große Teich und die lebenslustige Karibik, für Maria die abgeschiedenen Galapagosinseln und die Riesenschildkröten, für Daniel Weltreligionen, Indonesien und die Vision vom undurchdringlichen Dschungel, und Mike wollte sich einfach selbst überzeugen, dass es auch heute noch echte Indianer gibt, und für die Größe eines Wales reichte seine Vorstellungskraft nicht aus. Und ich – ich wollte alles sehen und vielleicht sogar noch mehr.

Jedes Mitglied unserer Familie hatte eine andere Vorstellung von dem, was ihm eine 2-jährige Weltumseglung bringen sollte. Jeder von uns hatte ein gewisses Bild der Welt vor Augen, das er sich gern näher ansehen wollte. Damals waren wir eine 5-köpfige Durchschnittsfamilie: Vater, Mutter, drei Kinder, Haus, Garten, Auto, eine kleine Goldschmiede in der Innenstadt von Oldenburg. Wir waren nicht reich, aber es ging uns ganz gut, irgendwie. Dann, als die Gelegenheit sich bot, griffen wir zu. Hatten wir nicht schon lange darüber gesprochen, aber bisher keine Möglichkeiten gesehen? Es sollte keine Flucht vor dem Alltag werden, der uns im Grunde nicht schlecht gefiel, kein Hinschmeißen, sondern ein kontrollierter Ausstieg auf Zeit. Ein verlängerter Urlaub. Zwei Jahre gaben wir uns, zwei Jahre, in denen die Karten neu gemischt werden sollten. Wir waren noch jung und wollten nicht warten, bis es zu spät ist, um Träume zu erfüllen. Also kauften wir ein Boot, lernten Segeln, lasen Bücher, besuchten Vorträge – konditionierten uns auf Abenteuer.

Es wurde auf See und in einigen Ländern oft schwieriger und härter als erwartet, gleichzeitig aber auch viel schöner, als wir je zu hoffen gewagt hatten. Unsere Pläne über den Verlauf der Reise änderten wir fast täglich oder entwarfen sie neu. Unsere Grenzen erreichten wir oft, und ebenso oft überschritten wir sie. Freud und Leid waren unsere ständigen Begleiter, Mittelmaß gab es nicht. Wir wollten ein großes Abenteuer erleben und bekamen schließlich mehr als 750 – jeden Tag mindestens eins.

Game over oder: Das Abenteuer soll beginnen

Schwierigkeitsstufe vier. Nordwest Stärke neun. Seegang um zwei Meter mit vereinzelten Brechern. 10-Meter-Regattaboot, hoch am Wind und verdammt schnell. Kein Name am Heck, kein Heimathafen, keine Nationale. Ich befand mich irgendwo zwischen den Riffen eines mir unbekannten Landes und versuchte, mich aus einer Legerwallsituation zu befreien – das konnte man alles vorher in den Optionen meines Computerspiels einstellen. Die Orientierung hatte ich schon kurz nach dem Start verloren, leichte Panik breitete sich aus, meine Hand auf der Maus wurde feucht. Dann passierte, was mir schon so oft an diesem Punkt geschehen war: Grundberührung. Das Boot schlug schwer auf die Riffkante. Mit jeder heranrollenden Welle wurde es weiter auf das Riff getragen, schlug immer härter auf die Felsen. Gestrandet! Nur wenige Augenblicke später fiel der Mast, Wasser drang in den Rumpf, das Boot war nicht mehr zu halten. Nerviger Computersound drang aus den kleinen Lautsprechern meines Laptops, begleitet von der Mitteilung auf dem Display: Game over. Das Spiel war vorbei.

Zum Glück hatte mich niemand beobachtet, denn ich war allein in unserem Haus. Wie hätte das auch ausgesehen: Bernd, der große Möchtegern-Weltumsegler, übt noch schnell ein wenig an einem mittelmäßigen Simulationsprogramm … Ich hockte im Schneidersitz vor dem Laptop auf dem Fußboden, schaute mich in dem leeren Wohnzimmer um und mir fiel auf, wie viel größer es ohne Möbel aussah. Wir lebten damals schon einige Zeit »teilmöbliert«, den Hausrat hatten wir größtenteils verschenkt, entsorgt oder verkauft. Eine reinigende Prozedur, die nach 20 Jahren befreiend wirkte. Lediglich einige Dinge, von denen wir uns nicht trennen wollten, lagerten jetzt bei Freunden in Kellern und auf Dachböden.

Ich ließ noch einmal in Gedanken die vergangenen zweieinhalb Jahre Revue passieren, durchlief die Zeit, in der wir uns vorbereitet hatten auf das Unternehmen Weltumseglung im Familienpack. Ich dachte an die Zeit zurück, die aus Unsicherheiten, Ängsten und Zweifeln bestand. Aber auch aus Hoffnungen, Plänen und Träumen. Viele Fragen hatten sich in der Anfangszeit aufgetan: Welche Risiken wird die Zukunft bringen? Werden wir je nach Deutschland zurückkehren? Können wir den Kontakt mit unseren Freunden, mit dem Rest der Familie halten? Schaffen wir es, die Probleme, die uns erwarten, zu überwinden? Wie lange wird das Geld reichen? Können wir unseren drei Kindern gerecht werden? Machen wir das Richtige?

Wir erkannten aber auch, dass hinter den Gefahren viele Chancen steckten. Und diese wollten wir nutzen. Wie fühlt es sich an, woanders zu leben, fragten wir uns und waren bereit, Entbehrungen auf uns zu nehmen, um den Kindern zu zeigen, dass auf der Welt nicht alles so ist wie in Deutschland. Das fängt beim sparsamen Wasser- und Stromverbrauch an und hört bei Fremdenfeindlichkeit und einem Alltag in und mit der Natur noch lange nicht auf.

Im Laufe der Vorbereitungen hatten wir Stück für Stück unserer bisherigen Lebensgestaltung aufgegeben und fast alle bestehenden Verträge gekündigt, hatten unserer Weltumseglung alles untergeordnet. Was wir auf unserem Boot nicht brauchten, musste weg. Radikal. Nur die Haftpflichtversicherung für die NIS RANDERS behielten wir und kümmerten uns vorwiegend um den geplanten Start im Juli 2004. Das gesamte Privatleben drehte sich nur noch ums Segeln, je näher der Abreisetermin rückte.

»Was wünschst du dir zu Weihnachten, Schatz?«

»Oh, über eine Hepatitis-Impfung würde ich mich sehr freuen.«

»Und ich wünsche mir einen Sextanten. Und außerdem geht mir diese hübsche Rettungsweste, die wir auf der Messe sahen, nicht aus dem Kopf.«

Zu den Geburtstagen hatte es dann beispielsweise den Gutschein für einen Medizin-auf-See-Kurs des Deutschen Seglerverbandes und ein paar Seekarten in Geschenkpapier mit Schleife gegeben.

Das alles war nun Vergangenheit, seit zwei Tagen wohnten wir an Bord. Nach den letzten Arbeiten am Haus mussten nur noch die Schlüssel an die Mieter übergeben werden, denn obwohl wir unser Haus in Oldenburg weit unter Wert zum Kauf angeboten hatten, war es uns nicht gelungen, diese letzte Fessel komplett abzustreifen. Entschlossen beendete ich das Segelspiel, klappte den Laptop zu, packte meine letzten Sachen und zog die Haustür ins Schloss. Wehmut? Ja, ein wenig. Aber auch Hochstimmung. Ein neues Lebenskapitel begann.

Meine Frau Susanne und zwei unserer Kinder, Mike und Maria, warteten bereits an Bord unserer NIS RANDERS in Hooksiel an der Jademündung auf mich. Da einige kleinere Arbeiten noch nicht abgeschlossen waren, lagen wir in dem Yachthafen der Werft, obwohl wir unser Boot bereits vor zwei Tagen mit Sack und Pack bezogen hatten, um einen Monat lang an Bord auf Probe zu wohnen. Im Ärmelkanal oder in der Biskaya würde es uns sicherlich schwerer fallen, notwendige Korrekturen vorzunehmen. Nur Daniel, unser ältester Sohn, blieb noch an Land bei einem Freund und konnte sich nicht entscheiden, ob und wann er sich uns anschließen sollte, denn mit seinen 17 Jahren fand er eine Urlaubsreise mit den Eltern und jüngeren Geschwistern außerordentlich uncool.

Rückblende: Unser Boot hatten wir drei Jahre zuvor von einem älteren Ehepaar aus Lübeck gekauft. Zu dieser Zeit war unser Plan, die Welt zu umsegeln, noch recht vage. Susanne sprach manchmal davon, dass sie mal ein Jahr »raus« wollte. Bisschen die Welt angucken, Länder und Leute kennenlernen. Über den Atlantik in die Karibik und wieder zurück vielleicht. Danach einen beruflichen und privaten Neubeginn starten. Für den Anfang nicht schlecht, dachte auch ich. Andererseits konnte ich mir nicht vorstellen, an die Schleusentore des Panamakanals zu klopfen und dann wieder umzudrehen. Nur noch ein Stückchen weiter ist man schließlich bereits in der Südsee, im Paradies! Auch die Galapagosinseln und wilde Tiere wären zu bestaunen, die es sonst nirgends auf der Welt gibt …

Doch zurück zum Bootskauf. Es war ein sonniger Sonntagnachmittag, nach stundenlanger Fahrt erreichten Susanne und ich den Lübecker Yachthafen an der Trave, die beiden Kleinen hatten wir bei einem Babysitter gelassen – ein Tag Freizeit nur für uns, es war unser erster Besichtigungstermin. Unsere verschwommenen Vorstellungen, wie ein geeignetes Boot aussehen könnte, hatten wir aus Büchern. Aus Stahl sollte es sein und ein Langkieler. Der ist stabil und bricht nicht so schnell aus, glaubten wir zu wissen. Länge so um die zehn Meter und Stehhöhe in der Pantry und im Salon wären schön. Der Preis war uns relativ egal, wir hatten zu diesem Zeitpunkt ohnehin kein Geld, um ein Boot dieser Größe zu bezahlen.

Hand in Hand schlenderten wir also über den staubigen Platz der Marina. Dann sahen wir sie! Stolz und ruhig lag sie vertäut im Hafenbecken. Und wir verliebten uns in unsere NIS RANDERS in diesem Moment, kauften sie sozusagen aus dem Bauch heraus, mit dem guten Gefühl, das man bei Liebe auf den ersten Blick eben hat. Susanne und ich waren uns augenblicklich einig, es stimmte einfach alles: solider Hamburger Feltz-Werft-Bau aus Stahl, der uns sofort ein Gefühl der Sicherheit gab; die Bauweise als Knickspanter schuf einen geräumigen Innenraum, der unsere 5-köpfige Familie bequem aufnehmen könnte; als gemäßigter Langkieler mit hohem Freibord gebaut. Die Aufteilung der Kabinen, das Alter, die Pflege, das Zubehör – es stimmte einfach alles.

»Schiffig, sehr schiffig!«, war unser Urteil. Was immer das heißen mochte. Das Boot hieß damals noch NIS RANDERS II. Später änderten wir den Namen auf NIS RANDERS, nach dem gleichnamigen Gedicht von Otto Ernst.

Nach einer netten Unterhaltung mit den Eignern, die mit Sicherheit sofort gemerkt haben, dass wir keinen blassen Schimmer von Booten hatten, fuhren wir wieder nach Hause. Den Preis erwähnten wir mit keinem Wort. In der folgenden Woche aber drehten sich unsere Gespräche nur noch um unsere zukünftige NIS RANDERS, und so, wie wir sie wollten, wollte sie uns auch, so was spürt man einfach. Nicht der Eigner sucht sich das Boot aus, sondern das Boot wählt den Eigner, sagt man doch.

Also vereinbarten wir einen weiteren Termin und nahmen die Kinder mit. Auch ihnen gefiel unsere Schöne auf Anhieb, und Mike und Maria teilten bereits kurz nach der Ankunft die Betten, Verzeihung, Kojen ein, um anschließend über das Deck zu toben.

»Hier unser Angebot: 20 000 Deutsche Mark. Anzahlung. Restzahlung und Übergabe in zwölf Monaten. Sollten wir die NIS RANDERS dann nicht abnehmen, also nicht zahlen können, gehört die Anzahlung Ihnen.«

Die Eigner willigten sofort ein, wir waren uns alle sympathisch, und es gefiel ihnen, dass wir mit unseren Kindern segeln wollten. Wir könnten mit diesem Schiff auch ein klein wenig ihren lange gehegten Traum verwirklichen, denn auch sie segelten oft mit Kindern auf der Ostsee und planten schon seit geraumer Zeit auf große Fahrt zu gehen. Leider machte ihnen dann eine Krankheit einen Strich durch die Rechnung, sagten sie. Viele Worte waren nicht nötig – kurze Probefahrt mit Kaffee und Kuchen die Trave runter, das war’s. Den Kaufvertrag schrieben wir mit Kugelschreiber im Salon des Schiffes auf einen Skizzenblock, aber ein Handschlag hätte es wohl auch getan. Für beide Parteien war es eine akzeptable Vereinbarung: Die Eigner konnten sich noch eine Saison lang von ihrem Schiff verabschieden, während wir ein Jahr Zeit hatten, um den Restbetrag aufzutreiben.

Auf der Rückfahrt im Auto hing jedes Familienmitglied seinen eigenen Gedanken nach. Jetzt hieß es Butter bei die Fische – und uns wurde langsam klar, dass wir den ersten Schritt zu etwas Großartigem gewagt hatten. Wir wussten zwar noch nicht genau, was auf uns zukommen würde, aber wir fühlten genau, dass dieser Tag unser Leben veränderte.

Zunächst mussten wir jedenfalls ein Boot bezahlen. In jungen Jahren, Daniel war gerade geboren, hatten Susanne und ich ein altes, kleines Reihenhaus in Bremen gekauft, das mittlerweile abbezahlt war, und so verkauften wir es an die ersten Interessenten, die sich endlich auf die Anzeige meldeten. Damit hatten wir nicht nur den Bootspreis, sondern sogar noch einen Teil der Reisekasse zusammen.

Kurz vor der geplanten Übergabe des Bootes erhielten wir plötzlich einen Anruf von der Eignerin. Ihr Mann hatte einen Schlaganfall erlitten und war kurz darauf verstorben, also mussten wir die NIS RANDERS ohne technische Einweisung übernehmen. Der Mast befand sich noch im Mastenlager, und das Boot stand auf dem Bock im Yachthafen. Überall im Schiff lagen bedeutend aussehende Schrauben, Bolzen und elektronische Geräte herum, deren Funktion wir nicht im Mindesten einschätzen konnten, denn unsere Erfahrung mit Schiffen beschränkte sich auf zwei 10-tägige Ausbildungstörns im Mittelmeer. Der Rest war angelesene Theorie.

Also machten wir einen einfachen Plan: Im ersten Jahr zum Üben auf die Ostsee. Rund Fünen. Seeluft schnuppern, segeln lernen und Praxis erfahren. Im zweiten Jahr wollten wir zu den Shetlands, den Färöerinseln und bis nach Island segeln. Falls wir das schafften, so unsere Überlegung damals, würden wir auch um die Welt segeln können.

Schließlich kam der große Tag. Alles montiert, Seeventile geschlossen? Unser neues Familienmitglied wurde langsam mit einem Kran ins Wasser der Trave gehoben. Endlich kamen wir auf See! Wir tasteten uns in der Lübecker Bucht von Marina zu Marina, landeten an Orten an, deren Namen wir erst am Kiosk erfuhren, und versuchten, auf zehn Metern Schlick mit acht Meter Kette zu ankern. Wir fuhren auf Sandbänke, drehten uns in der Schleuse im Nord-Ostsee-Kanal um 180 Grad, sodass wir verkehrt herum geschleust werden mussten, und führten die Deutschlandflagge so lange Gold oben, bis uns ein Segler in einem vollen Hafen zurief: »Hey, Skipper, in Deutschland fährt man den Trauerflor oben!« Wir ließen keine Peinlichkeit aus, kein Fettnapf war uns zu klein. Dennoch, die Saat mit Namen »Es gibt noch etwas anderes auf dieser Welt als den Alltagstrott« war ausgebracht und keimte in unseren Herzen. Es war eine wunderbar abenteuerliche und aufregende Zeit.

Dann begannen wir mit den Umbauarbeiten, die unserer Bequemlichkeit an Bord dienen sollten, und auch die zunächst heimatlosen Schrauben und Bolzen fanden schließlich durch viel Geduld an ihren Bestimmungsort. Versuch und Irrtum hieß unsere bevorzugte Arbeitsmethode. Die Chemietoilette wurde durch ein Pumpklo ersetzt, und den festen Tisch im Salon senkten wir ab, um weitere Kojenplätze zu schaffen, aber mit vielen Aufgaben ging es nur langsam voran. Außerdem hatten wir natürlich immer noch unser Geschäft zu führen, drei Kinder zu erziehen und unsere Lehrlinge auszubilden. Und Funkscheine zu machen. Und den Haushalt aufzulösen. Und französische und englische Fachausdrücke zu lernen. Und Bootsmessen zu besuchen. Das Boot stand während dieser Zeit wieder an Land in Hooksiel.

Zurückblickend würde ich sagen, das Abenteuer Weltumseglung hat schon in dieser Zeit der Vorbereitung begonnen. Wir lernten, stritten und diskutierten viel. Später trafen wir uns mit anderen »Kinderseglern« – gemeint sind Segler, die mit ihren Kindern unterwegs sind –, die sich, ebenso wie wir, noch in der Planungsphase befanden. Die hatten wir über das Internet kennengelernt, und so merkten wir schnell, dass wir nicht allein waren mit unseren Sorgen, Ängsten und Fragen. Das Internet war uns überhaupt eine wichtige Informationsquelle zu dieser Zeit, und obwohl viele Details widersprüchlich und lückenhaft waren, konnten wir uns bald ein grobes Bild von der Szene der Langzeitsegler, Weltumsegler und Eltern mit Kindern an Bord machen. Wir beschlossen, auch selbst eine Website ins Internet zu stellen, um während unserer Abwesenheit die Freunde und Familie auf dem Laufenden zu halten, und mit Seglern, die ähnliche Probleme hatten, in Kontakt zu kommen.

Im Jahre 2003 nahmen wir dann mit der NIS RANDERS über Nordsee und Nordatlantik Kurs auf Island. Ich hatte irgendwann mal etwas von einer Blue Lagoon gehört, einer Thermalquelle bei Reykjavik, und nun machte ich die ganze Familie heiß auf diesen magischen Ort. Damals wurde Daniel 16 Jahre alt, und zwischen Vater und Sohn lief es nicht besonders gut in der letzten Zeit – wenn ich ehrlich bin, lief es schon seit mehr als zwei Jahren überhaupt nicht gut zwischen uns. Gemäßigte Midlife-Crisis auf meiner, Pubertätsallüren auf seiner Seite. Susanne schlichtete nach Kräften, doch auf unserem ersten Ostseetörn hatte Daniel das Boot schon nach ein paar Tagen verlassen, um für den Rest der Ferien bei einem Freund zu wohnen. An Bord, ohne seine Freunde, Fernsehen und Computerspiele, langweilte er sich zu Tode.

Dieses zweite Lehrjahr auf der NIS RANDERS sollte für uns eine letzte Test- und Übungsreise sein und unsere Zweifel, ob wir stark genug sein würden, der See zu trotzen, entweder ausräumen oder bestätigen. Damals waren wir noch recht unsicher, ob es uns gelingen könnte, wirklich um die Welt zu segeln. Vielleicht hatten wir uns ja auch zu viel auf den Teller geladen? Andererseits gab es natürlich auch die Möglichkeit, alles abzubrechen und nur über den Atlantik und zurück zu gondeln.

Richtung Island, Kurs Nord, wo soll ich anfangen, die Scherereien zu schildern? Energie-Totalausfall auf See, Motorprobleme in einem Fjord in Island, heftiger Wind mit sehr grober See auf dem Nordatlantik und Navigationsfehler zwischen den Färöerinseln … Obwohl es rein technisch gar nicht möglich schien, passierten uns noch mehr Missgeschicke als auf dem Ostseetörn des vergangenen Jahres. Bald aber merkten wir, dass uns diese Probleme auch irgendwie voranbrachten. Keinen Fehler zweimal machen, lautete unsere Devise, und obwohl der Törn aus seglerischer Sicht ein Fiasko war, schweißte er unsere Familie zusammen, und in Gesprächen stellten wir später fest, dass die meisten Segler am Anfang die gleiche Malaise durchmachen.

Trotz anfänglicher Seekrankheit tauchten wir auf der Islandreise in eine Welt, die uns faszinierte, und auch die NIS RANDERS machte ihre Sache gut und verzieh uns alle Fehler, sodass wir schließlich den sicheren Hafen in Seydisfjördur, im Osten Islands erreichten und uns mit einem Leihwagen aufmachen konnten, um in dem heißen Thermalwasser der Blue Lagoon zu baden.

»Weinst du etwa?«

»Nein, nein, ich hab’ nur etwas im Auge.«

Wir fühlten es alle, es schlich sich auf rauer, stürmischer See behutsam ein, beseelte uns und wurde als sechstes Besatzungsmitglied einvernehmlich aufgenommen: das Glücksgefühl, ein unmöglich scheinendes Ziel auf eigenem Kiel im Team zu erreichen. Sogar Daniel blieb bis zum Schluss an Bord, unsere Spannungen hatten sich deutlich gelöst.

Nach Island gab es für uns kein Halten. Die NIS RANDERS kam wieder auf den Bock in Hooksiel und wartete auf ihre Fertigstellung zum Törn der Törns. In zehn Monaten wollten wir die Leinen loswerfen, und neben der Arbeit in der Goldschmiede liefen die Planungen und Vorbereitungen auf Hochtouren. Je härter wir arbeiteten, desto länger wurden die Erledigungslisten: Impfungen gegen Gelbfieber und Hepatitis A + B, Schwimmkurs für Mike, Ladenschließung, Haushaltauflösung, Zahnarzt und und und … Damals lernten wir: Wer um die Welt segeln möchte, muss vor dem Start sehr hart schuften. Gefällte Entscheidungen wurden immer wieder revidiert, Planungen umgestellt, wir durchlebten eine aufregende Zeit und Wechselbäder der Gefühle. Jeder Pfennig wurde gespart, und alles, was sich zu Geld machen ließ, versilbert.

Daniel distanzierte sich zeitweise vorsichtig von dem Unternehmen. In einer Clique fest eingebunden, war er sehr gut etabliert und hatte viele Freunde. Die Vorstellung mit kleinen Geschwistern und Eltern auf einem nur zehn Meter langen Segelschiffchen zwei Jahre Urlaub zu machen, befand sich auf der Bedürfnispyramide des beliebten Sängers in einer Punkband nicht immer an wichtigster Stelle. In seinen Gefühlen hin und her gerissen, wäre es ihm am liebsten gewesen, alles bliebe so, wie es war. Daniels schulische Leistungen waren zu dieser Zeit mäßig, alle Energie steckte er in seine Musik und Computerspiele. Susanne und mir war schleierhaft, wie Daniel bis zum Start seinen Schulabschluss erreichen könnte. Doch wollte er das überhaupt? Wir wussten es nicht.

Unser Nesthäkchen Maria hatte natürlich gar keine Vorstellungen von dem, was sie erwartete. Immer lebenslustig und interessiert flatterte sie wie ein fröhlicher Schmetterling durch den Tag. Kinder in diesem Alter leben für den Augenblick, sie brauchen Sicherheit und Bezugspersonen, die sie ihnen geben, und Maria interessierte es nicht, dass sie ihr Zimmer gegen eine kleine Koje auf einem Segelboot tauschen sollte. Die Größe des zur Verfügung stehenden Lebensraumes spielt nur in der Vorstellung von Erwachsenen eine Rolle. Maria brauchte nur ihre Eltern und ihre Barbies.

Ganz anders Mike, der 15 Monate älter war als Maria. Und ein stilles Wasser. Er hinterfragte alle Dinge und erfasste sensibel ihre Zusammenhänge. Mit diesen feinen Antennen registrierte er Stimmungen und Unsicherheiten, und so konnten wir ihm nichts vormachen. Also sagten wir ihm: »Junge, was wir planen, ist äußerst ungewöhnlich, und auch wir haben unsere Zweifel. Aber wir werden immer für dich da sein und auf dich aufpassen.«

Insgesamt entwickelten die beiden sich prächtig, sogen neue Informationen auf wie ein trockener Schwamm das Wasser und würden auf der Reise viel entdecken und fürs Leben lernen. Wir wollten sie über den Horizont führen, damit sie mit neuen Erfahrungen auf die Welt blicken konnten. Wir sahen sie als kleine Edelsteine, die gut in eine Goldschmiedfamilie passten. Um sie machten wir uns keine Sorgen.

Susannes Abschied von ihrem bisherigen Leben aber war lang und nicht immer ohne Dornen. Ihr ging es nicht so sehr um die seglerische Herausforderung, sondern mehr um das Erkunden ferner Länder mit den dort lebenden Menschen und ihrer Kultur. Eine aufgeschlossene, unvoreingenommene Neugierde dämpfte jedoch viele ihrer Zweifel, und eigentlich sorgte sie sich in erster Linie um die tiefen Freundschaften, die sie in Deutschland pflegte. Ein Jahr in der Ferne hielt sie für angemessen, und so war es nicht Susanne, die die Idee zu einer Weltumseglung als Erste aussprach. Denn diese schafft man nicht in zwölf Monaten, und das wusste sie. Ein Kompromiss musste her.

»Maximal zwei Jahre, und wenn einer von uns der Meinung ist, dass das Unternehmen nicht mehr allen gut tut, dann brechen wir ab oder ändern die Pläne, versprich mir das«, waren ihre Worte, ihre Bedingung, ihre Rückversicherung.

Ich willigte ein.

Ich erzähle gern, dass es die Lektüre eines Weltumseglerbuches war, das in mir den Wunsch geweckt hatte, die Welt auf einem Segelboot zu umrunden. Es stellt sich aber die Frage, warum ich gerade dieses Buch im Antiquariat kaufte. Warum kein Buch übers Bergsteigen oder Ballonfliegen? Oder über Joga? Zufall? Oder lag es an meinem Vater, der in seiner Jugend als Steward die Welt auf Frachtschiffen bereiste und mir später Geschichten über das Meer erzählte? Lag es vielleicht sogar an meinen Lehrern, die mir schon in der Grundschule im Werkunterricht erlaubten, kleine Holzsegelboote zu schnitzen, während der Rest der Klasse hölzerne Kästchen für ihre Milchzähne anfertigen musste? Oder lag es an unserem Wohnort, der ziemlich nah an der Nordsee liegt?

Wie auch immer: Träume wollen irgendwann gelebt werden, und für uns war die Gelegenheit günstig. Daniel war mit der Schule (fast) fertig, die beiden Kleinen waren noch nicht schulpflichtig, der Mietvertrag vom Laden lief aus, und unsere Lehrlinge würden bald ihre Gesellenprüfung machen. Also: jetzt oder nie!

Als ich dann an jenem Abend, meinem letzten Abend, den ich an Land in unserem alten Haus verbrachte, wieder in Hooksiel an Bord ging, erwartete mich ein Chaos. Was hatte ich erwartet? Dass sich die Utensilien, die wir zum Leben und Segeln brauchten, innerhalb weniger Stunden ihren Platz im Boot von selbst suchten? Unglaublich, was alles in ein zehn Meter langes Schiff passt oder passen musste. Spielsachen, Werkzeuge, Schwimmwesten, Lebensmittel, Bücher, Rettungsmittel, Leinen, Kleidung, Ersatzteile, Gummistiefel, ein großer Bodenstaubsauger, Geschirr, Seekarten, Segel, Fender lagen herum und … Leiber. Viele Ausrüstungsgegenstände fanden ihren Platz in der Vorschiffkoje, sodass Mike und Maria vorerst im Mittelgang in Decken gehüllt im Salon schliefen, weswegen ich jetzt über sie hinwegsteigen musste. Es machte ihnen nichts aus, im Gegenteil – sie genossen die Nähe zu ihren Eltern, die ebenfalls im Salon ihr Nachtlager fanden. In vier Wochen sollte das private Abschiedsfest von Freunden und Bekannten in Hooksiel stattfinden, in fünf Wochen war der offizielle Starttermin in Oldenburg geplant, und es stand noch nicht mal der Mast auf Deck! Für uns Grund genug nervös zu werden. Susanne und ich stritten um Kleinigkeiten und ergingen uns in Kompetenzgerangel. Mein Bereich, dein Bereich. Wir würden uns irgendwie einigen müssen.

Daniel wohnte damals bei einer befreundeten Familie in Oldenburg und hatte beschlossen, irgendwann später zu uns an Bord zu kommen. Irgendwo, wo es wärmer, schöner und exotischer war als an der regnerischen Nordseeküste. In der Zwischenzeit war er gut aufgehoben, das wussten wir. Wir glaubten aber auch zu wissen, dass er schon bald nachkommen würde, um diese Reise mit uns gemeinsam zu erleben. Das hofften wir zumindest. Also gaben wir ihm die Freiheit, die er brauchte. Er wollte ausprobieren, provozieren, erste selbstständige Schritte tun – und das alles gleichzeitig. Für Susanne und mich war seine Entscheidung natürlich trotzdem ein schwerer Schlag gewesen. Was waren wir nur für Eltern? Wir ließen unseren Sohn zurück, nahmen ihm praktisch Heim und Familie. Er aber fühlte sich bei seinem Freund ausgesprochen wohl, ihm tat der räumliche Abstand zu uns gut. Und auch hier galt die Regel: Es muss für alle gut sein, sonst ändern wir den Ablauf.

Abgelegt

Am Sonntag, am 4. Juli 2004, schrieben wir an Bord den ersten Tagesbericht für das Internet nach dem Ablegen:

Start

Was sollen wir sagen? Wir bedankten uns mit Abschiedstränen für die netten Worte, die Geschenke und die Glückwünsche. Noch eine halbe Stunde länger und wir hätten gar nicht mehr abgelegt, denn wir hatten uns doch vorgenommen: »Da, wo man uns mag, werden wir bleiben.« Wir werden alle vermissen, und im nächsten Hafen müssen wir wohl erst einmal den Vorrat an Taschentüchern auffüllen.

Nach dem Auslaufen mussten wir noch eine dreiviertel Stunde auf die Öffnung der Eisenbahnbrücke warten (ups, die haben wir auf der falschen Fahrwasserseite passiert, und das brachte uns einen Anschnauzer über Funk vom Brückenwärter ein) und sind dann ohne weitere Probleme gemütlich nach Elsfleth an den Gemeindeanleger motort. Unterwegs hat es pausenlos geregnet, und so habe ich Fotos von den Wolken geschossen und von dem Regen und von Su, während sie pudelnass im Cockpit an der Pinne stand. Sollte irgendwann einmal Heimweh aufkommen, dann werden wir uns nach den hier lebenden Menschen sehnen, dabei aber unser typisch norddeutsches Schmuddelwetter nicht vergessen!

Daniel war an Bord, als wir im Oldenburger Stadthafen ablegten. Durch die Ankündigung auf unserer Website und einen großen Artikel in der Oldenburger NORDWEST-ZEITUNG hatten sich neben unseren Freunden und Bekannten eine Menge Schaulustige eingefunden, die uns viel Glück und eine gute Reise wünschten. Die Hunte ist bis Oldenburg ein Tidengewässer, verbindet die Stadt über die Weser mit der Nordsee, und ein Segelschiff kann mit stehendem Mast bis fast in die City vordringen. So konnten wir nur wenige Kilometer von unserem Haus entfernt unser neues Zuhause besteigen.

Das Kamerateam der Filmgesellschaft Wendländische Filmkooperative befand sich ebenfalls an Bord der NIS RANDERS und begleitete uns bis nach Elsfleth an der Weser, um eine Dokumentation zum Thema »Eine Familie plant eine Weltumseglung« zu drehen.

Als wir am Steg festmachten, fragte unser ältester Sohn die Männer mit den Kameras: »Könnt ihr mich zurück nach Oldenburg bringen?«

»Klar, kein Problem«, sagten sie, und weg war er.

Mit uns war er so verblieben: Die Ferien wollte er mit seinen Freunden in Oldenburg verbringen, aber anschließend an Bord kommen, denn er wurde in diesem Jahr nicht versetzt. Zu viele Fünfen. Dieses Ergebnis seiner schulischen Leistungen kannten wir bereits seit einigen Tagen und hatten schwer daran gekaut, dass er sich gegen ein weiteres Jahr in der Schule entschied und ohne einen Abschluss abgehen wollte. Natürlich war auch er enttäuscht. Wir mussten ihn nicht daran erinnern, dass dieses Zeugnis das Resultat mangelhaften Fleißes und nicht mangelhafter Intelligenz war. Also sprachen wir ihm Mut zu.

Am folgenden Tag motorten wir bis Bremerhaven und machten an einem Steg an der Geeste fest. Hier warteten wir wieder auf Daniel und das Kamerateam, die mit uns nach Helgoland segeln wollten, um noch Material von der ganzen Familie auf offener See ohne sichtbare Küstenlinie zu drehen. An Bord hatten wir – ich, Susanne, Mike und Maria – uns einigermaßen eingelebt, der ganze Krimskrams hatte seinen Platz in den Schapps und Backskisten gefunden, und alle Aufgaben waren verteilt. Beim Ablegen in Richtung Helgoland unterschätzten wir dann allerdings die Strömung der Geeste, die an diesem Tag etwa zwei Knoten betrug, und vor laufender Kamera kratzten wir einer vor uns liegenden Hallberg-Rassy die Positionslaternen sauber von der Bugreling. Susanne an der Pinne trieb es vor Scham die Tränen in die Augen. Wie peinlich, wie unendlich peinlich! Doch die Leute von der Hallberg nahmen es locker.

»Kein Problem«, versicherten sie uns, »ist nicht tragisch, fahrt nur weiter. Nein, bitte nicht wieder anlegen. Fahrt einfach nur weiter!«

So verließen wir bei Sonnenschein und schwachen Winden die Wesermündung, etwas über 40 Seemeilen bis nach Helgoland lagen vor uns. Die Filmleute freuten sich auf die steife Brise, die aus Südost vorhergesagt wurde, doch mit den tollen Aufnahmen ist es bei Windstärke zwei nicht viel geworden. Ein bisschen an den Schoten ziehen und ein wichtiges Gesicht machen, das war alles, was wir als Filmstars zustande brachten. Dann warfen wir den Motor wieder an.

Helgoland erreicht man besser früh am Tag, solange noch Plätze frei sind, jedenfalls wenn man ein tonnenschweres Stahlboot sein Eigen nennt, auf dem ein Windgenerator steht und zu allem Überfluss auch noch kleine Kinder auf dem Deck herumhüpfen. Sind alle Stegplätze belegt, pflegen nämlich die Skipper der anderen Boote den Neuankömmling nicht überschwänglich zu sich zu winken, damit man bei ihnen festmachen kann. Jedenfalls drehten wir eine Runde nach der anderen und versuchten mit dem Festmacher in der Hand Kontakt zu den Besatzungen zu bekommen.

»Dürfen wir … bei euch …?«

Als Antwort erhielten wir mehr als einmal einen Blick, auf den jeder talentierte Kellner eines überfüllten Gartenlokals selbst nach jahrelangem Training neidisch gewesen wäre – man sah einfach durch uns hindurch.

Die weniger blasierten Skipper machten auch recht deutlich, dass sie von uns nicht belästigt werden wollten: »Fahrt doch mal da vorn hin, da liegt auch ein Stahlboot.«

Trotzdem kam die NIS RANDERS endlich gut vertäut neben einem Boot aus Kunststoff zur Ruhe. Die Filmleute verabschiedeten sich erneut und verließen die Insel mit der Nachmittagsfähre, wir wurden wieder eine Familie, konnten uns weiter einrichten und hatten damit die erste Hochsee-Etappe, die ersten 40 Seemeilen, ohne weltbewegende Ereignisse hinter uns gebracht.

Helgoland ist ein logischer Stopp für alle Boote, die sich vom deutschen Festland aus auf große Fahrt begeben. Hier werden – teilweise zollfrei – Diesel und Proviant gefasst. Hier wird Pause gemacht, mit anderen Seglern über Routen und Segeltaktiken und legale und doch günstige Einkaufsmöglichkeiten geschnackt und auf das passende Wetterfenster für eine Weiterfahrt gewartet. Die Vorhersage liefert der Mann vom Deutschen Wetterdienst, dessen Station sich im Gebäude des Hafenmeisters befindet. In den folgenden Tagen wurden wir Stammgast bei ihm, und er erklärte uns seine meteorologischen Messgeräte und erzählte ein wenig über seine Arbeit auf dem roten Eiland. Von ihm erfuhren wir auch einiges über die Härte und die Gnadenlosigkeit der flachen Nordsee, die im Zusammenspiel von Wind und Gezeiten die berüchtigten Grundseen mit ihren steilen Wellenkämmen erzeugt. Damit wollten wir nichts zu tun haben. Wir wollten so lange Mittel- und Oberland, Lummenfelsen und Lange Anna besichtigen, bis der Wind günstig stand, um in Richtung West auszulaufen. Lippenbekenntnisse. Theorie. In der Praxis scharrten wir bald mit den Hufen, konnten es nicht erwarten, unsere Weltumseglung fortzusetzen. Helgoland mag ja der jod- und sauerstoffreichste Ort in Deutschland sein und zur Linderung vieler Krankheitssymptome beitragen, aber …

Den Ausbruch wagten wir dann bereits nach wenigen Tagen, bei mittlerem Wind aus der falschen Richtung. Mit gerefftem Groß und Arbeitsfock gingen wir am frühen Morgen in See. Die Vorhersagen irren sich so häufig, dachten wir, dass sie heute mal zu unseren Gunsten vom tatsächlichen Wettergeschehen abweichen werden. Der Wetterfrosch wünschte uns viel Glück, der Hafenmeister verabschiedete uns mit einem »Bis nachher«. Etwas verschobenes Zeitgefühl hat der Gute, sagten wir uns, denn wir planten ja, erst in zwei Jahren zurückzukehren.

»Na, da seid ihr ja wieder, welkoam iip Lun!« Der Hafenmeister begrüßte uns auf Helgoländisch.

Einen Streit, drei überkommende Brecher und eine aufkommende Seekrankheit später liefen wir nämlich wieder in den Südhafen ein. Aus den geplanten zwei Jahren wurden nur drei Stunden, dann waren wir von Ausbruchsversuchen für die kommenden Tage kuriert. Denn der Hafenmeister hatte Recht, es gab kein Durchkommen in Richtung West. Außerhalb der Landabdeckung frischte der Wind deutlich auf, während die See zu grob wurde, um gegenan zu segeln. Es ging einfach nicht.

»Macht euch nichts draus, ihr seid nicht die Ersten, die umkehren.«

Schon von einfühlsameren Worten waren wir ungetröstet geblieben – und außerdem waren wir bitter enttäuscht von unserer Leistung.

Also schrieben wir an diesem Sonntag in unserem Tagesbericht:

Auf die Nase

Ein Tag ohne Foto. Keine Frage, tolle Motive tauchten auf – doch es fehlte die wasserfeste Kamera.

06.30 Uhr. Wind 6 bis 7 Bft. Im Vorhafen bereiten wir die NIS RANDERS vor. In das Großsegel binden wir zwei Reffs, und die Fock soll als Vorsegel reichen. Unter Segeln verlassen wir den Hafen und steuern die Bojenreihe entlang. Der Seegang ist bereits hier sehr hoch, und unsere schlafenden Kinderchen werden von der Schaukelei geweckt. Fröhlich beginnen sie sofort das Toben. Schon bald nehmen Wind und Seegang weiter zu, und unser Ziel Norderney ist unter diesen Bedingungen nicht zu erreichen. Ich kann es kaum glauben, aber mehr als 90 Grad zum Wind sind nicht drin. Kurs höchstens Süd, das heißt: Wangerooge. Wellen waschen über das Deck.

Mikey wird seekrank, und Maria klammert sich am Tisch fest, damit sie nicht durch den Salon rutscht. Der Wind heult, und die ersten Wellen steigen ins Cockpit. Zeit zum Umkehren. Wir fahren eine Wende und erreichen den Hafen wieder unter Segeln. Drei Stunden nach dem Auslaufen machen wir bei strömendem Regen an einem Segler aus Polen fest.

Den Rest des Tages streiten Su und ich. Wir hätten dieses und jenes besser oder anders machen müssen/sollen. Die Stimmung ist noch mieser als das Wetter (falls das überhaupt möglich ist). Und das Wetter soll noch einige Tage so bleiben …

Daniel schnappt sich die nächste Fähre, verlässt die Insel, das Boot, die Familie und reist wieder nach Oldenburg zu seinen Freunden. Er will erst nach den Sommerferien wieder an Bord kommen. Dann sind wir hoffentlich in einer wärmeren Gegend.

Um die Menschen mit Informationen und Unterhaltung zu versorgen, umspannt das World Wide Web seit einigen Jahren den gesamten Planeten Erde. Den gesamten Planeten? Nein! Eine kleine Enklave wehrt sich erfolgreich gegen die neue Technik: Helgoland. Auf der Insel gab es damals nur einen einzigen öffentlichen Internetzugang. Teuer, langsam und ohne Möglichkeit, ein Speichermedium in den Rechner zu stecken. Während wireless LAN, DSL und schnelle Prozessoren die Welt bereits erobert hatten, wurde der Rechner auf der Insel in einem Schrank versteckt, dessen Türen mit einem Vorhängeschloss gesichert waren. Seit unserem Aufenthalt auf der Insel wurde deshalb unsere Website, deren tägliche Aktualisierung wir nach dem Auslaufen versprochen hatten, nicht mehr gepflegt. Die ersten Stammleser begannen nachzufragen, wo denn die angekündigten Tagesberichte blieben.

Wir hatten uns für eine Berichterstattung entschieden, die es uns ermöglichen sollte, auch von hoher See aktuell zu senden. Unser Anspruch war hoch, die Technik jedoch für uns relativ neu. An Bord befand sich ein handelsüblicher Computer, ein Laptop der Marke Toshiba, der in der Navi-Ecke einen spritzwassergeschützten Platz einnahm. Obwohl in der Bedienungsanleitung ausdrücklich davon abgeraten wurde, betrieben wir ihn einfach und ohne Probleme zwei Jahre lang direkt über das 12-Volt-Bordnetz. An ihm schrieben wir die Tagesberichte der gesamten Reise als Text und konvertierten diese in eine html-Datei. Fotos schossen wir mit einer Digitalen Spiegelreflexkamera der neuesten Generation, der Canon EOS 300D. Nachdem wir diese Fotos auf den Computer heruntergeladen und bearbeitet hatten (Wasser blauer, Fische größer und Bäuche flacher), fügten wir sie in die html-Datei ein. Mit dem Programm AIRMAIL (kostenlos aus dem Internet) versendeten wir die Textdatei samt Foto dann über einen PACTOR-Controller der Firma SCS und einem für Blauwasserfahrten modifizierten Kurzwellenfunkgerät (Yaesu-FT897) an Winlink. Winlink ist eine weltumspannende Organisation von Funkamateuren, den sogenannten PMBOs – Pactor Mailbox Operators –, die zu bestimmten Zeiten definierte Frequenzen abhören, um Nachrichten von am System teilnehmenden Funkamateuren aufzunehmen und an den E-Mail-Adressaten weiterzuleiten. Diese Aufgabe übernahmen die PMBOs ehrenamtlich und für uns als Inhaber einer Funklizenz kostenlos. Mit den unverwüstlichen PACTORII- und III-Modems von der Firma SCS aus Hanau sind heute die meisten Langfahrtsegler ausgestattet und vertraut. Die vom Funkwellensender austretenden, binär verschlüsselten Informationen sendeten wir anfangs über eine spezielle Kurzwellenantenne, die auf dem Heck der NIS RANDERS montiert war. Erst viel später merkten wir, dass das isolierte Achterstag eine ausreichende, ja, in vielen Situationen viel bessere Lösung zum Versenden der Funkwellen war. Wenn zu guter Letzt der Adressat unseren Bericht per E-Mail erhielt, konnte er ihn an den Server unserer Website www.wirhauenab.de senden. Nur auf diesem, anfangs scheinbar komplizierten Weg war es möglich, zeitnah Berichte und Bilder auch von hoher See zu senden. Mögliche Alternativen zu diesem System gab es keine. Jedenfalls keine, die mit unseren Ankündigungen im Einklang standen. Wir bemühten uns redlich, aber mit dieser Technik Texte und Bilddateien via Pactor und Kurzwelle von Bord der NIS RANDERS zu versenden, waren wir auf Helgoland noch nicht vertraut. Irgendwo fehlte ein wichtiges Häkchen in einem wichtigen Kästchen eines wichtigen Computerprogramms – Skippersorgen, um die wir uns bei Gelegenheit kümmern wollten.

Unsere Kinderchen focht das alles freilich nicht an. Mike und Maria knüpften erste Kontakte mit dem Nachwuchs von den anderen Booten. Gemeinsam tobten sie über die Stege, stellten Krebs- und Schalentieren nach, beobachteten Quallen, sammelten Muscheln. Das Wetter war ihnen egal, in ihren Segelklamotten trotzten sie gut verpackt dem norddeutschen Regen, der von einer steifen Brise über die Insel gejagt wurde. Mike hatte noch kurz vor dem Start das Schwimmen gelernt und sein Seepferdchenabzeichen erworben. Wir hielten das für einen gewissen Schutz, damit er sich wenigstens im Hafen im Notfall selbst helfen könnte. Immerhin war er bereits zweimal vom Steg an unserem Liegeplatz in Hooksiel gefallen und musste sich an der Schwimmweste herausziehen lassen. Maria war allerdings noch zu jung für eine Schwimmausbildung. Die für die entscheidenden Schwimmbewegungen benötigten Muskeln waren bei der 4-Jährigen noch nicht hinreichend ausgeprägt. Beide Kinder trugen außerhalb des Cockpits an Bord immer eine Schwimmweste. Auf unserem Testtörn im vergangenen Jahr hatten wir zwar einen Seezaun an der Reling befestigt, diesen jedoch im Anschluss wieder demontiert, weil er uns bei den Arbeiten an den Segeln und beim An- und Ablegen mehr behindert als genutzt hatte. Außerdem blieben Mike und Maria, sobald wir auf See waren, ohnehin fast nur im Salon oder im Cockpit, und so wanderte das unpraktische Ding mit anderen unbenötigten Ausrüstungsgegenständen in die Backskiste. Sollte sich das Verhalten der Kinder später ändern, könnten wir ihn ja wieder montieren.

Dann drehte der Wind, und wir verließen Helgoland nach sieben Tagen Aufenthalt mit den besten Wünschen vom Wetterfrosch und vom Hafenmeister. Unsere langfristigen Pläne hatten sich mittlerweile auf der Insel herumgesprochen und zumindest einen Zaungast angelockt: den Mann vom Zoll. Täglich tauchte er mit seinem Fahrrad an der Mole auf, hielt in Höhe der NIS RANDERS, schaute zu uns herüber, machte sich Notizen in seinem kleinen, schwarzen Notizbuch und verschwand wieder. Hm.

Das Auslaufen gelang dieses Mal ohne Probleme, das Wetter war auf unserer Seite, und das nächste Ziel, Norderney, wollten wir am Abend erreichen. Freunde von uns leben auf der Insel, wir wollten sie besuchen und uns persönlich von ihnen verabschieden.

Mitten in der Nacht und viel später als erwartet kamen wir zur Ansteuerung vor das berüchtigte Norderneyer Riffgat. Ich würde gern berichten, dass der in Strömen fallende Regen erfrischend war und nicht eiskalt. Für die deutsche Nordseeküste hatten wir die neusten Seekarten an Bord, dennoch konnten wir die Ansteuerungstonnen an den angegebenen Positionen nicht ausmachen. Also drehten wir immer wieder in der Finsternis eine Runde nach der anderen und leuchteten mit dem Suchscheinwerfer über die Wasserfläche. Auf den Gedanken, unser neu installiertes, sauteures Radargerät für die Ortung der Tonnen zu verwenden, kamen wir erst am nächsten Tag. Doch gerade als Susanne und ich beschlossen, abzudrehen und die Nacht auf See zu verbringen, marschierte ein Fischkutter an uns vorbei und beleuchtete mit seinem ungleich stärkeren Suchscheinwerfer die in den Hafen führende Bojenreihe. Anschließend führte er uns sicher in den Hafen.

Norderney. Weißer, langer Sandstrand. Tourismus, die Erinnerung an Poppe Folkerts’ berühmte Bilder von den Inseln und dem Meer. Oder einfach »He!«, das typische örtliche Grußwort. Noch bevor wir uns beim Hafenmeister melden konnten, klopfte der Zoll an den Rumpf. Ließ da etwa der Notizbuchschreiber von Helgoland grüßen?

»Kann ich mal an Bord kommen?«

Nicht vor dem Frühstück, dachten wir und antworteten: »Gern, aber seien Sie bitte vorsichtig wegen des Kinderspielzeugs, das überall herumliegt.«

Nett, freundlich, mit ein wenig Smalltalk garniert und ein bisschen in die Schapps guckend, begann die Inspektion. »Zigaretten?«

»Nein.«

»Alkohol?«

»Nein.«

Su und ich waren uns von Anfang an darüber einig gewesen, den Menschen in den besuchten Ländern keinen Ärger zu bereiten. Nicht durch Waffen, nicht durch Drogen und nicht durch Schmuggelware. An den üblicherweise unter Seglern endlos geführten Diskussionen über Waffen an Bord beteiligten wir uns gar nicht erst.

Legerwall

Nach kurzem, wunderbarem Aufenthalt ließen wir schließlich Norderney achteraus und nahmen bei bestem Wetter Kurs West mit einem Schuss Süd. Vorbei ging es an Juist und Borkum, den letzten deutschen Bastionen unserer Reise. Unterwegs begegneten uns viele Freizeitsegler, die, ebenso wie wir, die günstigen Bedingungen bei ruhiger See und Sonnenschein genossen. Picknick auf dem Deck, ausgebaumte Vorsegel, gute Laune bei blauem Himmel und … Eine rabenschwarze Gewitterfront aus Nordwest raste auf uns zu. Innerhalb weniger Minuten verfinsterte sich der Nachmittagshimmel, und die Böenwalze, die die Front vor sich herschob, war deutlich auf der Wasseroberfläche zu erkennen. Obwohl wir die Wettervorhersagen abgehört hatten, erwischte uns dieser Wetterumschwung kalt, jetzt mussten wir handeln. Die Lage: flache Küste an Backbord, fieses Wetter an Steuerbord, wir dazwischen. Legerwall. Dass wir diese Standardsituation im Verlauf der Reise noch öfter erleben würden, wäre uns damals kein Trost gewesen, selbst wenn wir es gewusst hätten. Segel runter! Jetzt hieß es Lage peilen und in die Seekarte stechen! Standort bestimmen, Kurs und Geschwindigkeit aufnehmen. Als uns die ersten Böen erreichten, lagen die Segel bereits an Deck. Um unter Topp und Takel bei dem heftig zunehmenden Wind abzulaufen, stand definitiv zu wenig Seeraum zur Verfügung. Deshalb wollten wir versuchen, mit gerefftem Großsegel und Sturmfock entlang der Küste zu segeln, vielleicht sogar gegenan etwas Seeraum zu gewinnen. Die Arbeit an Deck wurde durch den sich schnell aufbauenden Seegang mit kleiner, hackiger Welle nicht einfacher. Dazu kam der Zeitdruck, denn immer weiter wurde die NIS RANDERS an die Küste gedrückt. Einsetzender Regen und zunehmende Dunkelheit erschwerten unsere Situation. Die Kinder aber blieben ganz gelassen, verholten sich in den Salon und widmeten sich dem allseits beliebten Spiel »Schwerelosigkeit« in der Vorschiffkoje. Gerade als die Sturmsegel standen und der Kurs parallel zur Küste verlief, erfasste uns von Backbord der starke Suchscheinwerfer eines Seenotrettungsschiffs der holländischen Küstenwache. Man hatte uns auf dem Radar entdeckt und wollte für den Fall eines Falles zur Stelle sein.

»Braucht ihr Hilfe? Wie viele Personen sind an Bord?«

Ein Retter stand mit Lifebelts und fest verzurrt an einem der großen, extra für diesen Zweck montierten Haltebügel mittschiffs auf dem Bug. Während der Skipper aus dem Führerhaus unser Boot nach Schäden ableuchtete, wechselten Susanne und ich beredte Blicke: Haben wir die Situation im Griff? Brauchen wir Hilfe? Wie hoch ist die Abdrift? Ich signalisierte dem Retter mit einem Handzeichen, kurz zu warten, während ich in die Seekarte schaute. Unser Kurs verlief noch immer parallel zur Küste, und in weniger als einer Meile bekämen wir zusätzlichen Seeraum durch eine Änderung der Küstenlinie. Wir konnten es also auch weiterhin allein schaffen.

»Danke für das Angebot, aber wir haben die Situation im Griff«, rief ich durch den Wind.

»Seid ihr sicher? Wir erwarten Böen bis Stärke 9!«

Starker Wind ist okay, nur die Küste muss weg, dachte ich. Hoch am Wind versuchten wir die Geschwindigkeit zu halten, was nicht ganz einfach war bei der kleinen, steilen Welle und dem hohen Freibord der NIS RANDERS. Jedenfalls war es keine Arbeit für die Windfahnensteuerung, Pinne gehen war angesagt.