Wolfgang H. Weinrich

Der liebe Gott
kommt nicht voran

Geschichten aus dem Alltag
des Allmächtigen

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Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: agentur Idee

Umschlagmotiv: © shutterstock

Autorenfoto: © Joachim Storch

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80091-7

ISBN (Buch) 978-3-451-61247-3

Inhalt

Der liebe Gott am Kiosk

Der liebe Gott bleibt inkonsequent

Der liebe Gott erinnert sich

Der liebe Gott erzählt mehr über sich

Der liebe Gott fährt (nicht) in Urlaub

Der liebe Gott guckt spazieren

Der liebe Gott in der Börse

Der liebe Gott ist angetan

Der liebe Gott ist entspannt (vorläufig)

Der liebe Gott ist es sich wert

Der liebe Gott ist etwas ratlos

Der liebe Gott ist genervt

Der liebe Gott ist krank

Der liebe Gott ist untröstlich

Der liebe Gott kommt nicht voran

Der liebe Gott beruhigt sich wieder

Der liebe Gott ist einsam

Der liebe Gott und seine Vorliebe

Der liebe Gott leuchtet ein

Der liebe Gott macht es sich einfach

Der liebe Gott hat Grenzerfahrungen

Der liebe Gott plant eine Lebensversicherung

Der liebe Gott raucht

Der liebe Gott sieht blau

Der liebe Gott spielt Akkordeon

Der liebe Gott spricht über einen engen Vertrauten

Der liebe Gott summiert

Der liebe Gott träumt

Der liebe Gott überrascht

Der liebe Gott und das schlechte Gewissen

Der liebe Gott und der liebe Allah

Der liebe Gott und die Parabel vom Leben

Der liebe Gott und Doktor Strobel

Der liebe Gott ist zum Scherzen aufgelegt

Der liebe Gott und worum es ihm geht

Der liebe Gott unter seinesgleichen

Der liebe Gott vor dem Liebestempel

Der liebe Gott zitiert

Der liebe Gott hat es nicht vergessen

Der liebe Gott schreibt nicht

Der liebe Gott sammelt Kitsch

Der liebe Gott und der tödliche Monolog

Der liebe Gott ist glücklich

Der liebe Gott gibt (auf Bitten) einen Rat

Der liebe Gott und der graue Himmel

Der liebe Gott und die süße Mahlzeit

Dem lieben Gott stinkt es

Der liebe Gott bleibt seiner Linie treu

Der liebe Gott ist interessiert

Der liebe Gott ist parteiisch

Der liebe Gott ist nicht zu halten

Der liebe Gott gibt nicht auf alles befriedigende Antworten

Der liebe Gott macht von sich reden

Der liebe Gott im Nachklapp

Der liebe Gott am Kiosk

An einem Kiosk den lieben Gott zu treffen, passiert nicht oft. Kommt aber vor, hin und wieder. Dann nämlich, wenn ihm ’ne Laus über die Leber gelaufen ist, und er seinen Kummer irgendwie ertränken will. Behauptet er, wenn man ihn dort trifft und fragt, was er da will.

Er ist dann immer schnell umgeben von Leuten, die dann und wann, und das ist manchmal oft, sehr oft, auch nicht recht weiter wissen. Die sind ganz erstaunt, ihn hier zu treffen: »Musst du nicht im Himmel sein?«, fragen sie. Oder: »Du trinkst Alkohol? Macht das ein Vorbild?«

Die meisten sind Kerle, aber auch ein paar Frauen sind darunter. Die hängen dort richtig ab. Stundenlang. In Qualm und Schweißdunst. Wissen, obwohl sie wenig wissen, wie sie sagen, alles besser. Jedes neue Bier scheint ihnen recht zu geben. »Die Welt ist halt, wie sie ist: schlecht. Wenn ich nur an meine Vermieterin denke«, sagt einer.

Ein anderer meint: »Ja, schau dir nur die Politik an. Auch nicht besser.«

Ein Dritter: »Guck dir den Fußball an. Die sind doch nur abgestiegen, weil die Kohle nicht mehr gestimmt hat.«

»Wo stimmt die schon?«, fragt eine Frau aus dem Hintergrund. »Ich putze mich tot für ein paar Kröten. Habe gar keine Lust mehr.«

»Noch ein Bier, Karl«, ruft einer.

»Für dich auch?«, wendet er sich an den lieben Gott. Der nickt still. Obwohl er eigentlich ins Lamento einstimmen will mit den Worten: »Und wer ist schuld daran?«

»Und wer ist mal wieder schuld daran?«, fragt einer. »Na, die da oben, ist doch völlig klar«, antwortet eine junge Frau und wendet sich an den lieben Gott. »Die da oben. Das denkst du doch auch, oder?«

»Ja, die oder der da oben«, sagt der liebe Gott. Und nippt an seinem Bier.

Ehe er geht, schaut er noch mal in die Runde. Das macht er immer, wenn er ein wenig sprachlos ist und von ihm anschließend einige Zeit nichts zu hören oder zu sehen ist.

Der liebe Gott bleibt
inkonsequent

An einem langen Regentag, und der ist hausgemacht, weil es schon sehr lange sehr trocken war, an diesem langen Regentag also, schlägt der liebe Gott sein Tagebuch auf und findet einen alten Eintrag: Lasst uns Menschen machen.

Ein undatierter Eintrag. Einer, an den er sich immer wieder gerne erinnert, auch wenn Vorsatz und Umsetzung ihm zuweilen fragwürdig erscheinen.

Menschenskind, was ist aus denen geworden! So ganz anders am Anfang, so tierisch und bestialisch – und jetzt? So zivilisiert, so überlegt und so sentimental. Der liebe Gott lächelt über sich selbst, weil nichts stimmt an seinen Gedanken – außer, na ja, dass Menschen eben seine Schöpfung sind, mit all ihren Veranlagungen. Und die hat er ihnen überlassen. Mit allem, sagt er sich, selbst mit ihren Ausrufen wie »Ogottogott« oder »Ach du lieber Gott!«

Manchmal kommt es ihm vor, als würde er sich selbst anrufen, was natürlich gar nicht geht. Alles unter dem Motto: Macht doch, was ihr denkt. Und er bemerkt seinen eigenen Widerspruch, der liebe Gott. Irgendwann hat er an einer anderen Stelle in eines seiner Tagebücher geschrieben: Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken. Er merkt, dass er hin und wieder ein bisschen inkonsequent ist, der liebe Gott. Ja, sein großes Herz!

In seinem alten Tagebuch steht noch eine Randbemerkung, mit roter Schrift, wahrscheinlich eine teuflische Korrektur, als der mal wieder unbemerkt in seinem Arbeitszimmer war: »Erkenne dich selbst«.

Da kann man gut verstehen, dass manche dem lieben Gott durchaus das eine oder andere Teuflische unterstellen. Letztendlich käme auch das von ihm. Und wenn auch nur ein wenig.

Der liebe Gott erinnert sich

Neulich, es ist ein sonniger Nachmittag und der liebe Gott mal wieder unterwegs, kann er sich einfach nicht mehr zurückhalten: Er zieht Schuhe und Strümpfe aus und setzt sich auf dem Spielplatz in die Sandkiste. Zu Benni und Mirijam, Elisabeth und Malte.

Rundherum Mütter, ein Vater, die eben noch über ihre Kinder redeten und jetzt erstarren: Was will denn der dort im Sand, so nah an meinem Kind? Auf was oder wen hat der es denn abgesehen? Ist der noch ganz sauber? »Eh«, ruft eine, »was soll das denn? Dafür bist du doch ein wenig zu alt, oder?« »Das ist ein Kinderspielplatz!«, schreit eine andere energischer. »Bis zwölf Jahre!«, ergänzt eine weitere mit schrillem Ton in der Stimme, die sich fast überschlägt: »Hände weg von den Kindern!«

»Oh«, entgegnet der liebe Gott, »oh«, und wirkt ein wenig irritiert ob der lauten Anreden. »Ich wollte doch nur wieder mal Sand unter den Füßen spüren, schönen, weichen, feinen Sand. All die kleinen Körner, die mich ans Paradies erinnern. An den Ursprung, an das Damals. Fehlt nur noch das Wasser.«

»Was dir fehlt, ist eine ordentliche Dusche, und zwar kalt!«, sagt die erste.

»Aber jeder von uns braucht Erinnerungen um zu leben,« ruft der liebe Gott. »Erinnerungen sind Teil von uns allen. Die kommen manchmal, und ich begegne ihnen gern.«

»Du hast sie wohl nicht alle«, schreit der Vater, »scher dich weg, lass unsere Kinder in Ruhe.«

Die Kinder, eben noch unbekümmert spielend, merken plötzlich, wie bedrohlich es zugeht rund um die Sandkiste. Sie suchen mit ängstlichen Augen die ihrer Eltern, ohne dass ihnen der liebe Gott bisher auch nur irgendwie in ihrem Spiel aufgefallen war.

»Aber ich tue den Kindern doch nichts.«

»Aber natürlich, du Nichtsnutz. Du Tagedieb. Du belästigst die Leute, stiehlst dem lieben Gott die Zeit!«

Der liebe Gott ist konsterniert, aber säubert seine Füße vom Sand, nimmt Strümpfe und Schuhe in die Hand, geht an Kindern und Erwachsenen vorbei weg vom Spielplatz. Erinnerungen, denkt er, kommen halt zuweilen ungelegen. Aber warum sollte ich mir dafür keine Zeit nehmen, wo auch immer ich bin?

Der liebe Gott erzählt mehr
über sich

»In Schlamm könnte ich mich reinlegen, fast wie ein Schwein mich suhlen«, erzählt der liebe Gott begeistert. »Wenn er dann noch warm ist und mit etwas Moor versetzt, ist das fast das Höchste der Gefühle. Tut das gut! Unendlich gut! Dem Rücken, der so viel aushalten muss. Es tut dem ganzen Kerl gut. Das verstehst du aber nur, wenn du einmal richtig im Schlamm gebadet hast. Ich könnte mich in Ekstase reden«, schwärmt der liebe Gott auf die Frage, was ihm denn zu Schlamassel einfiele.

»Oh«, wenige Momente später ist er wieder ganz der Alte, »da habe ich mich wohl sehr verhört. Aber Schlamm und Schlamassel liegen ja ganz eng beieinander. Und mit viel Massel hat das eine etwas mit dem anderen zu tun.«

»Wie das denn?«, unterbricht ihn einer, der hinzugetreten ist. »Soviel ich weiß, haben zumindest Schlamassel und Massel wenig miteinander gemein. Schon gar nicht mit Schlamm!«

»Weit gefehlt«, erklärt der liebe Gott. »Lasst es mich so sagen: Massel ist ein jiddisches Wort und bedeutet soviel wie Glück zu haben, unverschämtes Glück. Etwa bei einem Unfall unverletzt zu bleiben oder bei einer Schlägerei nichts abzubekommen. – Auch wenn das bei mir seltener ist«, schiebt der liebe Gott nach. »Schlamassel, mein zweites Lieblingswort, ist da schon anders aufgestellt. In einen Schlamassel zu geraten, übrigens auch ein jiddisches Wort, ist schon schlechter, bedeutet in eine missliche Lage zu kommen. Es braucht Chuzpe, auch jiddisch, um wieder dort herauszukommen. Eine gewisse Schlauheit oder Frechheit.

Alles in allem«, jetzt ist der liebe Gott absolut in seinem Element, »sind das zwei Worte, Massel und Schlamassel, die ich erstens vom Wortklang her gerne mag. Dann des Weiteren von ihrem Inhalt her, weil sie jeweils etwas mit Glück oder Unglück zu tun haben. Etwas, was man nicht machen kann, sondern nur erleben. Das kann sich gut oder schlecht auswirken, bereichert aber die Tage.

Weiter: Weil sie jiddisch sind und damit ganz nahe an den vielen alten Berichten über meine Schöpfung. Zu guter Letzt, weil sie sehr melodiös sind. Ich könnte mal den Wind und den Regen bitten, daraus ein Lied zu machen, ein Crossover also.« Er grinst verzückt: »Und dazu selbst im Schlamm baden!«

Der liebe Gott ist halt doch ein Genießer. Und er denkt nicht eine Sekunde darüber nach, wer ihn nach dem Baden abduscht.

Der liebe Gott fährt (nicht)
in Urlaub

Es ist noch nicht allzu lange her, ja, es könnte vorhin gewesen sein, als der liebe Gott beschließt, in Urlaub zu fahren.

Ich gönn mir mal was, denkt er. Die schönsten Stunden des Jahres seien, sagen die Menschen, die, die man im Urlaub verbringe. Er fühlt sich schon lange urlaubsreif und ausgelaugt und müde. Also: Den Himmel abschließen und nix wie weg. Am besten gleich.

Aber wie mache ich das? Habe ich mich irgendwo abzumelden? Muss ich etwa einen Urlaubsantrag einreichen? Gibt es eine Vertretung? Wie lange darf ich überhaupt Urlaub machen? Ich bin doch unersetzbar! Oder ist das ein Trugschluss?

Der liebe Gott ahnt plötzlich, dass das, was er sich vorgestellt hat, nicht so einfach zu realisieren ist. Kein Wunder, diesen Fragen hat er sich noch nie gestellt. Bei allen Antworten breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus: Soll er womöglich mit dem selbsternannten Stellvertreter auf Erden Kontakt aufnehmen, um das zu klären? Soll er ihn ganz schnell zu sich rufen, um die Vakanzregelung zu verhandeln?

Ihm kommen Bedenken. Würde doch dies auf der Erde sehr missverstanden werden können, unter dem Motto: Der liebe Gott kommt nicht allein zurecht. Aber wie macht einer Urlaub, der nicht gelernt hat, Urlaub zu machen? Gut, am siebten Tag, nach dem getanen Schöpfungswerk, ruhte er von seiner Arbeit aus. Aber erstens ist das schon sehr lange her und zweitens: War das wirklich Urlaub?

Je länger er sich mit seiner arbeitsfreien Zeit beschäftigt, umso stärker werden die Bedenken. Und wenn ihn gar jemand brauchte, ganz schnell, wie immer? Was wäre mit der Errichtung eines Notdienstes? Er ahnt, dass viele Klagen zu ihm gelangen könnten, später, wenn er wieder da wäre.

Das kennt er aus den Zeiten, wenn er sich mal länger zur Ruhe legt und für niemanden zu sprechen ist: »Wo kommen wir denn hin, wenn selbst der liebe Gott keine Zeit mehr hat?« Oder: »Woran sollen wir denn noch glauben, wenn nicht mal der zu erreichen ist?« Er kennt das menschliche Lamento. Und da er noch immer nicht weiß, was Urlaub eigentlich ist, macht es auch wenig Sinn, diesen Ärger zu riskieren.

Dann kommt ihm die Idee: Bügeln, ich werde bügeln. Die beste Entspannung für mich ist es, die vielen Tücher, die als Wolken am Himmel zu sehen sind, mal wieder aufzubügeln. Die weißen am liebsten, aber nicht nur die. Es gibt auch die grauen, die schwarzen, die braunen, die roten, alle Farben könnten mal wieder aufgebügelt werden. Die haben es nötig.

Aber nicht zu penetrant glatt bügeln, viel Luft lassen. Das entspannt. Macht den Kopf frei. Danach sieht alles wieder schön aus. Erfreut das Herz. Und dazu lass ich mir Zeit. Viel Zeit. Und noch mehr Zeit. Eine halbe Ewigkeit. Das wird bestimmt ein interessanter Urlaub.

Der liebe Gott guckt spazieren