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Experten

Thriller

 

von

Matthias Houben

 

 

Impressum:

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: Fotolia

© 110th / Chichili Agency 2014

Redaktion: Monika Elisa Schurr

EPUB ISBN 978-3-95865-153-1

MOBI ISBN 978-3-95865-154-8

 

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Kurzinhalt

Eigentlich ein überschaubarer Auftrag für den privaten Ermittler Martin Silber. Doch haben die Bemühungen eines exzentrischen Forscherteams um neue Formen Künstlicher Intelligenz mitten im katalanischen Ferienidyll nicht nur Tote gefordert, sie ziehen bei seinen Nachforschungen auch Martin Silber nach und nach in ihren Bann. Was hat das Forscherteam wirklich gewollt? Und was will man nun wirklich von ihm?

Bei seiner Suche nach verschwundenen Unterlagen gerät Silber immer tiefer in ein Labyrinth der Sinne, in ein Spannungsfeld aus Fragen, die unbeantwortbar erscheinen.

Bis ihm Rodriguez begegnet und ihn dazu verführt, das gefährliche Spiel mitzuspielen …

 

Ein meisterlicher, wie in Trance erzählter Kurzroman, ein Anti-Krimi mitten in Sonne, Sand und Salz auf der Haut, der sich jedweder Zuordnung entzieht und die Leserschaft in unbekannte Denkwelten entführt.

1

L'Escala an der Costa Brava, ein ehemaliges Fischerdorf mit engen Gassen, die zur Promenade ans Meer hinausführen, der Blick auf die Bucht von Rosas und im Dunst, am entfernten Ufer, die Hochhausburgen. L'Escala, ein Ort zum Erholen und Braunwerden, zum Sehen und Gesehen werden, aber auch zum Sterben.

Martin Silber nahm die Arme vom Balkongeländer und lehnte sich in seinem Korbsessel zurück. Den hatte er aus der Dreizimmerwohnung in den Schatten auf den Balkon getragen, sich hineingesetzt, die gegenüberliegenden Häuser betrachtet, die Menschen im Swimmingpool gezählt und dann hinaus aufs Meer geblickt. Ein Segelboot zog langsam vor dem Dunsthorizont und an der Landzunge mit den Pinien vorbei. Ob es wirklich Pinien waren?

Das Boot wippte zwischen den Schaumkronen, legte sich imposant zur Seite und wechselte seinen imaginären Kurs. Es nahm Fahrt auf, vom Dunsthorizont angezogen, dann von ihm teilweise aufgelöst, endlich aufgesogen und den Blicken entfernt.

Gestern Abend hatte er auf der Kaimauer im Hafen gesessen, den auslaufenden Fischerbooten nachgeschaut, dem dumpfen Pochen der Dieselmotoren nachgelauscht, wie es sich über den Wellen verlor, wenn die Boote selbst längst nicht mehr zu sehen waren. Es blieb das Klatschen der Wellen an den Felsen, das Geplapper der Touristen auf der Mole, die fremden Fachsimpeleien der Angler zwischen den Felsen. Martin war noch müde von der Fahrt gewesen, er hatte gefroren und war mit dem Schlüssel in der Hand zu der Wohnung zurückgegangen, die ihm angeboten worden war und die er aufgrund der Umstände auch angenommen hatte. Die Skepsis im Gesicht seines Gesprächspartners war ihm nicht entgangen, desgleichen aber auch den erwartungsvollen Blick nicht, als er ohne zu zögern angenommen hatte. Man erwartete von ihm Aufschluss, man erwartete unkonventionelles Vorgehen, man erwartete vor allem Erfolg, wie auch immer der aussehen sollte.

Wenig später saß er in der Wohnung des Toten, atmete dessen persönlichen Geruch, sah die verstreuten Dinge, die erzählten, dass hier bis vor kurzem Leben gehaust hatte, wo jetzt Stille eingezogen war. Das Bett hatte man neu bezogen, sonst alles so gelassen, wie man es vorgefunden hatte. Selbst im Eisschrank, der von Zeit zu Zeit mit einem energischen Knacken auf seine Arbeit aufmerksam machte, fand Martin Joghurt und Bier, etwas Käse und Butter, drei Eier und eine Pizza, deren Verfallsdatum längst überschritten war.

Der Auftrag hatte nicht ungewöhnlich geklungen, allein schon der Ort hatte ihn gereizt, die Vorstellung von Sonne, Wind und Meer, und natürlich das Geld. Es galt, Zusammenhänge zu finden und zu ordnen, ein Muster zu entwickeln, ein Muster von Menschen und Gefühlen, von Orten und Geschehnissen. Es galt, ein zusammengeknäultes Netz zu entwirren, wie das des Fischers gestern Abend auf dem Boot. Einen kurzen Moment dachte er daran, dass er einen Beruf ausübte, für den er keine gültige Bezeichnung angeben konnte. Er erbrachte eine Dienstleistung, deren Erfolg oder Misserfolg von Mund zu Mund weitereilte, sich immer in den gleichen Kreisen bewegte und nach kreativen Pausen zu neuen Aufträgen führte. Die Orte und Landschaften wechselten mit den Menschen und ihren Problemen, der Auftrag blieb zwangsläufig gleich: er spielte den Ermittler, suchte nach Zusammenhängen, die er in das Ganze einordnete, das selbst so viel erklärte und gleichzeitig so viel unbeantwortet ließ. Zu Beginn hatte er noch geglaubt, Visitenkarten drucken zu müssen, seiner Tätigkeit einen Namen geben zu müssen. Aber dazu war es nie gekommen. Teils, weil er nicht erwartet hatte, dass es so weiterging, teils, weil er selbst dazu nicht das Bedürfnis empfunden hatte. So blieb er, wer er war.

Martin Silber, 38 Jahre alt, 1,85 Meter groß, mit 79 Kilo Körper und einem philosophisch geschulten Geist, der gern auf irrationalen Abwegen wanderte. Was seinen Erfolg ausmachte, wie er glaubte.

Die blauen Augen konnten lustig, aber auch stur in die Welt blicken, die großen, etwas abstehenden Ohren hörten nur das, was sie hören wollten, und die linke Hand war geschickter als die rechte Hand.

Er hätte sich Detektiv nennen können oder Ermittler, er hätte vor Jahren schon in den Schuldienst gehen und ein Haus bauen können, beides hatte er nicht getan. Stattdessen ließ er sich einen Bart wachsen. Mit dem Bart hatte sich auch die Einstellung geändert, die Einstellung zum Leben, die Einschätzung von Erfolg und Misserfolg. Nachdem die Farbe der Haare an einigen Stellen zu schimmern begonnen hatte, war das innere Gleichgewicht hergestellt gewesen. Ein dynamisches Gleichgewicht, das zwischen Depression und Euphorie pendeln konnte, aber auch zwischen pubertären Verrücktheiten und oberlehrerhaften Vorurteilen.

Nur wenn man ein wenig verrückt ist, zieht man in die Wohnung eines Toten, dessen Geruch noch nicht aus der Welt verschwunden ist. Eines Toten, der an einem Montagmorgen in einem Museum gefunden wird, das montags geschlossen ist. Eines Toten, der eines natürlichen Todes gestorben ist, was schon nicht mehr natürlich ist: natürlich durch Übergewicht, Hitze und Aufregung. Ein natürlicher Herztod, schnell, verständlich, sofort wirksam und unproblematisch.

Wobei die Frage blieb, was ihn in dem Museum so aufgeregt hatte. Und die Frage, was er an dem Montag dort gesucht, wen er dort getroffen hatte, was passiert wäre, wenn ihn nicht der Tod überrascht hätte. Wenn der ihn überhaupt überrascht hatte.

Martin nippte am Whisky des Toten, den er mit Wasser verdünnt hatte. Er war es nicht mehr gewohnt, harte Sachen zu trinken. Whisky und Cola erinnerten ihn an seine Studienzeit und daran, dass er früher mehr vertragen hatte.

Klaus Wegmann hatte auch etwas nicht vertragen, wovon es die Folge gewesen war, dass er sein Leben mit 44 Jahren in einem geschlossenen Museum beendet hatte. Das Museum hatte an diesem Morgen nicht nur die Artefakte der Griechen und Römer aufbewahrt, sondern auch die sterbliche Hülle des Klaus Wegmann - 44, Computerspezialist, genauer: KI-Spezialist -, eines trinkfester Mannes mit der Gewohnheit, in ein Tagebuch zu schreiben, das weniger einem Tagebuch als eher einem Notizbuch und Skizzenbuch glich. Sein Chef hatte viel von ihm gehalten, sich einiges von ihm versprochen, was ihn leichter über die Unebenheiten von Klaus Wegmanns Charakter hatte hinwegsehen lassen.

"Wir arbeiten an einem Projekt, dessen Tragweite wir selbst noch nicht übersehen können. Hinsichtlich der möglichen Anwendung unserer Forschungsergebnisse ergeben sich Fragen, die erst beantwortet werden können, wenn der Erfolg unserer Arbeit vorzeigbar ist."

Was alles bedeuten konnte, militärisches Interesse, Industriespionage, Umweltskandal und politische Verflechtungen.

P.K. Norder war in seinem weißen Anzug durch das weiße Büro gewandert, hatte auf Martin Silber in dem schwarzen Ledersessel herabgeblickt und sich gewissenhaft seine Pfeife gestopft. "Der Tod unseres Kollegen hat uns außerordentlich überrascht, ich kann wohl für alle sprechen, er hat uns betroffen gemacht. Wir neigen wohl alle dazu, neben unserer Arbeit, die uns dem Alltag entfremdet, die wahren Geschehnisse um uns herum zu verdrängen."

Schwülstig, aber tiefgründig. Was will er uns damit sagen? Martin hatte mühsam ein Grinsen unterdrückt und sich auf die Schweißtropfen konzentriert, die von seiner Achsel in das Jackett tropften. Er fühlte sich schmutzig, müde und durchgedreht von der langen Autofahrt. Er hätte nicht an einem Tag durchfahren sollen.

"Nun, so schrecklich und unerwartet der Tod unseres Kollegen auch ist, das eigentliche Problem stellt der Verlust bestimmter Unterlagen dar, die sich in seinem Besitz befanden. Womit wir zum Grund Ihrer Anwesenheit kommen. Die offizielle Untersuchung über den plötzlichen Tod von Herrn Wegmann ist abgeschlossen, Zweifel an der Todesursache und die mögliche Beteiligung Dritter sind ausgeschlossen. Ihre Aufgabe wird nicht darin bestehen, den Tod unseres Kollegen zu untersuchen, sondern vielmehr darin herauszufinden, wo seine Unterlagen geblieben sind. Leider hatte er die Angewohnheit, einen großen Teil seiner Arbeit außerhalb des Instituts zu erledigen."

Ein angenehmes Institut, mediterrane Villa in parkähnlichem Garten, umgeben von Pinien, mit Blick auf das Meer und die Ausgrabungsstätte von Empuries. Fehlten eigentlich nur noch der Sicherheitstrakt im Kellergewölbe, die Wachhunde auf dem Rasen und die Bodyguards am Tor.

"Wie Sie sehen, legen wir weniger Wert auf konventionelles Vorgehen als vielmehr auf einen kreativen Freiraum, der uns ein anspruchsvolles Arbeiten erlaubt." Die Handbewegung mit der brennenden Pfeife hatte den Garten und den Swimmingpool mit eingeschlossen, den Martin sehnsüchtig betrachtete. "Das bringt natürlich in einem Team so unterschiedlicher Charaktere auch Probleme mit sich. Meine Aufgabe, die Arbeit zu koordinieren, ist schwieriger, als diese Umgebung ahnen lässt."

Meine Güte. Wann kam er endlich zum Kern der Sache? Der Scheck lag auf dem Schreibtisch, Martin war 1.500 Kilometer mit dem Auto abgefahren und sehnte sich nach einer Dusche.

"Ich will Sie nicht lange mit meiner Vorrede aufhalten, nach der langen Anreise werden Sie müde sein. Wir sollten uns morgen früh zu einem Rundgang durchs Institut treffen, bei dem ich Ihnen Ziel und Zweck unserer Aufgabe vorstellen kann. Sie werden dann auch die anderen Mitarbeiter kennenlernen."

Martin hatte verständnisvoll und erleichtert genickt.

"Das Appartement von Herrn Wegmann werden Sie finden, oder soll ich Sie dorthin begleiten?"

Er hatte abgewinkt und sich aus dem Sessel gequält, seine Hose klebte unangenehm an den Beinen, er glaubte, sich riechen zu können, was ihm ebenso unangenehm war wie der interessierte und ungläubige Blick von Herrn Norder.

Wie konnte jemand in die Wohnung eines Toten einziehen?

P.K. Norder war ein schleimiger Typ, ein korrekter und wissenschaftlich geschulter dazu, vollkommen emotionslos und kalt. Aber er sollte sich ja nicht in ihn verlieben. Martin nippte an seinem Whisky und spürte schon leicht seine Wirkung. Seine Untersuchung hatte so zäh begonnen, wie er sich jetzt fühlte, trotz Dusche und Whisky, oder gerade wegen des Whiskys?

Während des Gesprächs mit Norder waren ihm Zweifel an dessen Seriosität gekommen. Ein Institut an der Costa Brava? Computerexperten in einer Villa am Strand, in einem Land, dessen Stromversorgung mit gleichbleibender Regelmäßigkeit zusammenbrach? Ein Scheck in unvernünftiger Höhe für eine Arbeit, die noch nicht genau umrissen war? Erwartete man von ihm ungesetzliches Vorgehen, oder hatte sein letzter Auftraggeber nur extrem übertrieben? Warum suchten sie nicht selbst nach den Unterlagen, sondern beauftragten einen privaten Ermittler, der nichts von dem Forschungsprojekt verstand, der sich erst einarbeiten musste? Oder war gerade das der Grund, dass er nichts von der Materie verstand?

Er sollte suchen und finden, übergeben und harmlos dreinblicken, mit den Achseln zucken und wieder verschwinden. Das hatten bisher alle erwartet. Martin Silber, Schweigen ist Gold.

Wie am Anfang eines jeden Auftrags fühlte er sich überfordert, hatte Angst, den Ansprüchen nicht zu genügen, den Ansprüchen, die er nicht geweckt hatte, die andere für ihn formuliert hatten. Er wäre gern einmal dabei gewesen, wenn er weiterempfohlen wurde, war aber gleichzeitig froh, dass er sich das nicht anhören musste. Noch nie hatte ein Auftraggeber ein Wort darüber verloren, man behielt es für sich. Es war klar, er war empfohlen worden; es war klar, man hielt ihn für fähig, die Aufgabe zu erledigen; es war klar, das kostete Geld, darüber wurde nicht geredet. Nur weil sein allererster Auftraggeber verrückt gewesen war, bezahlten alle folgenden einen Preis, den er nie gefordert hätte, er hätte nicht einmal gewagt, die Summe auszusprechen. Die Zahlen auf den Schecks waren erfreulich, setzten ihn aber auch gewaltig unter Druck. Vor allem am Anfang, wenn er noch nicht wusste, was von ihm erwartet wurde.

Martin stellte mit Erschrecken fest, dass er noch nie von einem Auftrag zurückgetreten war. Martin Silber, Gold korrumpiert.

Sein erster Auftraggeber hatte den Scherz mit den 30 Silberlingen wörtlich genommen, einfach weil er absolut keinen Humor besaß, weil er nicht vermuten konnte, dass jemand im Zusammenhang mit Geld scherzen könnte. Alle anderen hatten einfach ungefragt dieselbe Zahl auf ihre Schecks gemalt. Und Martin hatte sich nie gewehrt, obwohl er wusste, was diese Zahl bedeutete: Auftrag erledigen, schweigen, verschwinden und vergessen. Er schluckte den Rest des Whiskys hinunter. Genau das war sein Ruf, selbstständige und unauffällige Arbeit mit anschließendem Verschwinden, lautlos und schmerzlos, aber teuer. Das brachte ihn zu der Frage, wie man in ein Forschungsprojekt die Zahlung von 30.000 Euro einbrachte. Das musste schon ein überzeugendes Budget sein, in dem man die Zahl 30.000 unauffällig verschwinden lassen konnte. Und was waren die verschwundenen Unterlagen wert? Wurde er von der Projektleitung bezahlt oder von dem Privatmann P.K. Norder?

Er würde morgen den Scheck einreichen. Auch daran hatte er sich gewöhnt, er wurde immer im Voraus bezahlt. Aber auch das verstärkte den Druck. Er ließ sich ungern unter Druck setzen, es reichte schon, wenn er das selbst tat, und das konnte er ausgezeichnet. Das Whiskytrinken sollte er auch lassen und bei dem gewohnten Sherry und seinen zehn Tassen Kaffee bleiben. Warum hatte er sich Whisky eingeschenkt? Nur weil der hier herumstand?

Er begann, in der Kochnische mit der Kaffeemaschine zu hantieren und durchsuchte die Schränke, fand aber nur Geschirr und Besteck. Der starke Kaffee zeigte Wirkung. Was hatte er erwartet? Die Unterlagen in der Wohnung zu finden, in der Wohnung, die schon von der Guardia civil auf den Kopf gestellt worden war? Oder waren die Unterlagen doch noch hier, weil sie nicht aussahen wie Unterlagen?

Martin entschloss sich, nicht weiter unter den Matratzen des Betts zu wühlen, sondern das Bett zum Schlafen zu benutzen.

Es war immer noch feucht und heiß, er drehte sich von einer Seite auf die andere und dämmerte vor sich hin. Er suchte Computerlisten, fand Unmengen von Whiskyflaschen, die er austrinken musste, damit die Unterlagen auf dem Boden der Flaschen lesbar wurden. Er wachte schweißnass auf und musste gegen alle Gewohnheit mitten in der Nacht zur Toilette, drehte sich eine Zigarette und rauchte sie auf dem Balkon in der Dunkelheit. Nachdem er festgestellt hatte, dass auf allen Balkons um ihn herum die Menschen saßen und klönten, schüttelte er den Kopf und ging wieder ins Bett. Er versuchte, in dem Tagebuch des Klaus Wegmann zu lesen, kam aber über den Satz, der quer über die erste Seite geschmiert war, nicht hinweg:

"Ich muss immer daran denken, dass alle Träume und Hoffnungen von damals zugekifft wurden."

Martin wälzte sich wieder im Dunkeln herum, trank aber diesmal keine Flaschen leer, sondern drehte sich aus endlosen Computerlistenings Joints, die er nach und nach durch die hohle Hand rauchte, bis alle Zahlen und Formeln auf ihnen sich in eine weiße Pfeife verwandelten, die klatschend in den Swimmingpool fiel.

 

2

P.K. Norder zeigte sich erfreut über Martins pünktliches Erscheinen. Auch heute trug Norder seinen weißen Miami-Vice-Anzug, ein teures Seidenhemd und italienische Schuhe. Das schwarze, noch vom Duschen frisch glänzende Haar erinnerte Martin an den Spanier, der heute Morgen vor seiner Wohnung gestanden hatte und ihm interessiert beim Öffnen des Cabrio-Dachs zugeschaut hatte. Er hatte vor dem Appartementhaus herumgestanden, als wartete er auf jemanden, hatte Martins freundlichen Gruß mit einem Nicken erwidert. Die Zigarette in seinem Mundwinkel hatte dabei leicht gewippt. Jetzt wippte P.K. Norders Pfeife, wurde beim Anzünden umständlich hin und her gedreht. "Ich denke, wir sollten uns die Arbeitsräume der Mitarbeiter ansehen, damit Sie einen ersten Überblick über unsere Arbeit bekommen."

Die weiße Pfeife war entzündet, und süßer Tabakgeruch nebelte Martin ein. Er nickte kurz und überlegte, ob er Norder mitteilen sollte, dass er hinter dem Spiegel im Badezimmer das Tagebuch von Klaus Wegmann gefunden hatte.

"Kommen Sie, fangen wir mit Wegmanns Büro an." Warum kam er sich in Norders Gegenwart verschwitzt und unterlegen vor?

Wegmanns Büro lag im ersten Stock. Sie durchquerten die Eingangshalle, deren Wände mit Bücherregalen verstellt waren. An beiden Seiten führte eine Holztreppe nach oben, deren letzter Absatz die Entscheidung freiließ, wieder in die Halle hinunter oder zur anderen Seite zu wechseln. Martin fragte sich, ob die Treppe schon immer vorhanden gewesen war oder erst von den Institutsgründern eingebaut worden war. Von hier oben sah er durch ein Fenster auf den Swimmingpool im Garten, bemerkte hinter den Büschen das Dach des Museums, in dem Klaus Wegmann gestorben war.

"Hier oben haben wir fünf Büroräume. Jeder Mitarbeiter hat sein eigenes Zimmer, um ungestört arbeiten zu können. Die Halle unten dient uns als Konferenz- und Besprechungsraum."

Am Ende des schmalen Gangs, der dem Quadrat der Halle folgte, bemerkte Martin eine weitere Treppe, die steil nach oben vor eine dunkle Holztür führte. Norder ignorierte seinen neugierigen Blick und öffnete eine Tür.

Klaus Wegmanns Büro war klein und hell. Vor der schmalen Balkontür stand ein mit Büchern, Computerlisten und sorglos verteilten CDs überfüllter Schreibtisch, dessen Schubladen halb geöffnet waren. Vor der einen Wand stand eine kleine Couch mit buntem Blumenmuster, ihr gegenüber, an der anderen Wand, auf einem Tisch, der die ganze Länge der Wand einnahm, verteilten sich in einem Kabelgewirr Computerbildschirme, Tastaturen, Drucker und weitere Geräte, die Martin nicht kannte. Von dem alten Ledersessel vor dem Schreibtisch hing ein Kopfhörer herab, dessen Kabel im Netz der Computeranschlüsse verschwanden. In einem Stahlgestell ragte ein schwarzer Kasten über den Tisch, der Martin mit seinen Steckern und bunten Kabeln entfernt an einen Synthesizer erinnerte. Dazwischen, chaotisch verteilt und halb vom Arbeitstisch hängend, Papierlisten und aufgeklappte Bücher, eingebettet in eine Landschaft von CD-Kästen, Aschenbechern und einem Mousepad. Über der Couch hing ein Ölbild, das den Kontrast zwischen den beiden gegenüberliegenden Wänden verstärkte.

Unter dem Tisch zählte er sieben unterschiedlich große Computergehäuse, oder das, was er dafür hielt.

Hier der Hightech-Turm mit seinen Kabelfingern, die in den Raum bis zum Schreibtisch griffen, dort die Blumencouch und das Bild mit der felsigen Küstenlandschaft. In der Mitte dazwischen der Ledersessel, der mehr zur Couchseite gehörte, wie auch der Schreibtisch selbst, mit seiner feinen Holzmaserung. Darauf und wahrscheinlich auch darin: der Wust von Unterlagen, der zur Computerseite gehörte.

"Woran hat Herr Wegmann hier gearbeitet?" Martin schaute zu Norder hinüber, der vor dem Computertisch stand und in das matte Auge des ausgeschalteten Computerbildschirms starrte, als erwarte er, dass jeden Moment eine Nachricht für ihn erscheinen könnte.

"Wegmann war ein Spezialist für Expertensysteme oder, wie oft gesagt wird, für Künstliche Intelligenz. Unser ganzes Projekt zielt darauf ab, ein Computersystem zu entwerfen, das selbstständig Entscheidungen vornehmen kann. Also kein herkömmliches Expertensystem, das nach bestimmten vorgegebenen Regeln Fallunterscheidungen trifft, sondern ein System, das in der Lage ist, selbst Zusammenhänge zu erkennen und neue Regeln zu bilden. Wegmann hat ein Grundmuster gefunden, das sich mathematisch wie auch programmtechnisch in ein KI-System übernehmen lässt, das in einem, wenn auch beschränktem Anwendungsbereich, gewissermaßen selbstständig denkt."

Norder zeigte mit der brennenden weißen Pfeife auf den schwarzen Synthesizer-Kasten.

"Zusammen mit einem anderen Mitarbeiter hat er versucht, einfache menschliche Denkmuster in ein KI-System zu übertragen. Und so wie es aussieht, hat das auch geklappt. Die Maschine hier ist in der Lage, Daten, die wir neu eingeben, zu ordnen und in Beziehung zu setzen, ohne dass wir in irgendeiner Form diese Beziehungen oder Zusammenhänge mit angeben."

Norder drehte sich zu Martin herum. "Das klappt zurzeit natürlich nur für einen sehr eingeschränkten Anwendungsbereich, gewissermaßen in einem mikroskopischen Umweltfeld. Aber die prinzipielle Möglichkeit ist technisch verwirklicht und theoretisch untermauert."

Martin dachte an einen Film, den er vor langer Zeit gesehen hatte, an Hal, den sprechenden und sich selbst empfindenden Computer. Er blickte zweifelnd auf das Kabelnetz und die matten schwarzen Bildschirme. "Worin genau wird meine Aufgabe bestehen? Wenn ich richtig verstanden habe, vermissen Sie Unterlagen zu diesem Projekt?"

Norder schlenderte zu dem Schreibtisch und sah aus dem Fenster. "Nun, abgesehen vom Tod Wegmanns, der uns an sich schon Probleme bereitet - er war zwar ein eigenwilliger aber auch genialer Mitarbeiter -, fehlen uns weniger die konkreten Unterlagen zu diesem Projekt als vielmehr bestimmte Bruchstücke und Unterlagen, die eine Weiterführung und Ausdehnung des Modellversuchs erst ermöglichen werden." Norder räusperte sich, eine Unsicherheit, die Martin mit Wohlgefallen zur Kenntnis nahm. "Wegmann hat sich auf einem neuen Forschungsfeld bewegt, weitab von gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen, dabei aber Fortschritte erzielt, die erst im Nachhinein nachvollziehbar, erklärbar und damit auch anwendbar werden."

Martin unterbrach ihn: "Das heißt, Sie kennen die Ergebnisse, aber nicht den genauen Weg dorthin?"

"Lassen Sie es mich anders formulieren." Norder schlenderte zur Couch und blickte auf das Ölbild. "Wegmann war ohne Zweifel ein fähiger Wissenschaftler, ein Großteil seiner Gedanken und Impulse jedoch kam sicherlich nicht aus diesem Bereich. Wenn er, ich benutze das Wort ungern, ein normaler Wissenschaftler gewesen wäre, bedürften wir Ihrer Hilfe nicht." Norder drehte sich um und blickte Martin direkt ins Gesicht. "Zudem können wir es uns keinesfalls erlauben, andere auf die Wichtigkeit dieser Untersuchung und ihrer Ergebnisse hinzuweisen."

Martin schob mit der Hand einen Papierstapel auf dem Schreibtisch auseinander und betrachtete das dunkle Holz des Schreibtischs. "Kommt Industriespionage in Betracht?"

"Ganz ausschließen können wir das nicht." Während des Gesprächs hatte Norder etwas von seiner gestylten weißen Sicherheit verloren.

"Gibt es Anhaltspunkte, wonach ich suchen muss, in welcher Form die Aufzeichnungen eventuell vorliegen? Hatte Wegmann Gewohnheiten, die auf das Verbleiben der Unterlagen deuten könnten?"

"Ich muss gestehen, dass wir uns um den privaten Bereich unserer Mitarbeiter selten kümmern. Und, soweit es das Institut betrifft, können wir mit Sicherheit ausschließen, dass sich die Unterlagen hier befinden."

Sehr ergiebig war diese Auskunft nicht. Martin wusste immer noch nicht, wonach er genau suchen sollte, wie das aussehen konnte, das er suchen sollte, geschweige denn, wo er mit der Suche beginnen konnte. Vielleicht eine CD, DVD oder einen Packen Computerlistenings, möglicherweise auch ein kleines Heft mit Formeln, kryptischen Sätzen und Diagrammen. Wieder erinnerte er sich an das Tagebuch, das er nur gefunden hatte, weil er schief hängende Spiegel ebenso hasste wie Bilder, die nicht exakt ausgerichtet waren. Er hatte den Spiegel im Badezimmer leicht ausgerichtet, war mit der Hand am Rahmen entlanggefahren und hatte festgestellt, dass er an einer Seite leicht von der Wand abstand. In einer schwarzen schmalen Ledertasche hatte er das Tagebuch gefunden, eng beschrieben mit Sätzen, zu denen er abends keinen Zugang mehr gefunden hatte. Martin musste bei dem Gedanken lächeln. Möglicherweise hielt er das, wonach er suchen sollte, schon längst in Händen. Ein Grund mehr, jetzt noch nicht darauf einzugehen.

"Es wird sicher notwendig sein, dass Sie sich mit den anderen Mitarbeitern unterhalten. Ich muss gestehen, dass ich noch nicht weiß, wie wir Sie vorstellen sollen."

Martin dachte kurz darüber nach. "Vielleicht als Verwandten von Wegmann?"

Norder schüttelte den Kopf. "Nein, es wissen alle, dass er keine Verwandten hatte. Ich glaube, es wird besser sein, wir bezeichnen Sie als das, was Sie sind, als einen Ermittler, der nach den verschwundenen Unterlagen sucht."

"Vielleicht als Beauftragter des Stammhauses?"

Norders Gesichtsausdruck zeigte, dass diese Idee nicht so gut war, wie sie klang. Er schüttelte nur kurz den Kopf und ging nicht weiter auf die Frage ein, als gehöre das zu einem Thema, das er keinesfalls diskutieren wollte. Sie gingen in den angrenzenden Raum, der bis auf den Schreibtisch und das Blumensofa Wegmanns Büro ähnelte. Auch hier, wie in den weiteren Zimmern, lagen Papierstapel und Bücher scheinbar ungeordnet im Weg, quollen Kabel aus Computernetzen, deuteten volle Aschenbecher und halb volle Kaffeetassen betriebsame Hektik an, von der im Moment nur eine Ahnung die Räume beherrschte, als hätte Wegmanns plötzlicher Tod das Institut in einen Tiefschlaf versetzt. Es fehlten nur der gläserne Sarg und die sieben Zwerge. Der weckende Kuss blieb ihm vorbehalten?