Switchhitter

Nennt mich Kid Azul, Herausforderer von Howard »Battersea Bomber« Eastman, nennt mich Gregori Gregoraschwili, Teufel von Tiflis, oder ruft mich Neil Conners, das Phantom Nordenglands. Schreit einen dieser Namen, und ich komm gerannt, hungrig auf Scheinwerfer und Applaus, seht, ich lauf zwischen Stacheldraht und Müll, Karosserien und Unkraut, hab Streifen an den Fersen: Adidas, an Hochhäusern vorbei, am Kanal entlang, trag Totenköpfe auf Shirt und Hose: Ed Hardy, über die Brücke zur Autowerkstatt und weiter zum Schrottplatz. Als Auftrittsmusik das Bellen der Rottweiler, die mir auf ihrer Seite des Zaunes folgen, was für ein gutes Beispiel, sei immer angriffsbereit, immer wachsam, wiederholt jeder Trainer, also muss was dran sein. Es wird regnen, bald, die Möwen unten im Kanal wie dreckige Schneehaufen, aber weiter, Jab links links, rechte Gerade, wie simpel, du bekämpfst das nächstbeste, du bekämpfst, was bereit ist, dich anzugreifen, und im besten Fall machst du das alles für Geld.

I. Kid Azul: Die Liebe

Unglaublich: Man Chest Hair. Drei Worte, in Blockbuchstaben gleichmäßig schwarz auf Aleisters Brust tätowiert. Ich fass es nicht, sagt Neil, du hast es echt getan. Ich hab’s durchgezogen, antwortet Aleister, und wirft sich vorm Spiegel in Pose: wie Robert de Niro in Taxi Driver, sagt er leise zu sich selbst. Neil steckt das Kuvert ein und streicht Aleister zum Abschied über den geschorenen Kopf. Im Radio läuft eine Einschaltung der Royal Air Force, die um Rekruten für Afghanistan wirbt. Ciao Rocky, ruft Aleister die Treppe hinab und Neil zeigt ihm zur Antwort den Mittelfinger. Aus der Dunkelheit des Stiegenhauses tritt er in den Mittagsverkehr Manchesters. Die Stadt muss, stellt er sich vor, aus der Luft besehen einem rostbraunen Skeletthaufen ähneln, ein zersprengtes, weit verstreutes Feld aufragender Rippen, Knochenstücke. Vor Beginn der heutigen Tour war Neil in eine der Toiletten des Arndale-Einkaufscenters abgezweigt und hatte aus einer Plastiktasche den grauen Anzug samt Schuhen gekramt. Das übliche Outfit, Sneakers und Trainingsgewand, bunkerte er in der Subway-Filiale bei einem ehemaligen Sparringpartner. Der nächste Stopp, wo er für Dave die Einnahmen der Dope-Dealer einsammelt, ist ein als Magic Kingdom betitelter Laden, von zwei übergewichtigen Mittvierzigern geführt, übellaunige Wärter eines diffusen Sammelsuriums aus Pornos, Schallplatten und Comicheften; Ramsch, der die Jahrzehnte überdauert und zu Schleuderpreisen unbeachtet dümpelt wie andere Formen von Müll in stockenden Seitenkanälen. Die beiden zeichnen, haben sie Neil verraten, an einem eigenen Comic über die Abenteuer von Multiple Choice, einem unter dissoziativer Identitätsstörung leidenden Angestellten. So flach der Name, so gut die Idee, zugegeben: Die zwölf Persönlichkeiten, in die sich sein Bewusstsein spaltet, sind allesamt Superhelden mit verschiedenen Fähigkeiten und Kostümen; Garanten tragikomischer Momente, wenn The Mighty Mercury Masher gefragt wäre, aber The Sacred Savage Saboteur den Geist besetzt. Weitere Charaktere könnten The Time Expander sein, schlug Neil ihnen letztens vor, ein Typ, der die Zeit bedarfsweise verzögert oder beschleunigt und, im selbst verschuldeten chronischen Chaos verloren, ständig zu früh am Ort des Geschehens auftaucht, sowie The Clock Princess, die, Uhren wie Ninjasterne abfeuernd, permanent unpünktlich ist; umso ärgerlicher, als beide ineinander verschossen sind, aber nie ein Date auf die Reihe kriegen, weil ja zu spät oder zu früh und überhaupt ein und derselbe Mensch, was soll das nur für eine Beziehung werden.

An der Straße steht George vorm Eingang seines Secondhand-Buchladens, zwischen hellbraunen Armprothesen eine Tasse Kaffee. Morgen also dein nächster Kampf, ruft der Alte Neil entgegen. Du weißt, wie du boxen musst? Wie Ray Charles, antwortet Neil. Das rote Kleid, ja, das rote Kleid.

Vor neun Jahren, am Beginn von Karriere und Zwanzigern unter dem Namen Kid Azul auftretend, unterzog er sich einer Operation, in der sich die nicht in Worte zu fassende Bedeutung ausdrückte, die der Ring für ihn besaß. Bevor Neil in die Masse jener Boxer überging, die eine gute Show zu liefern imstande sind, ohne den einen Schritt an die Spitze zu meistern, konnte er sich dank angesparten Preisgeldes das Nasenbein entfernen lassen. Er saß vorm Krankenhaus, ungeduldig, erstmals die gummiartige, körpergewordene Schmerzlosigkeit zu berühren, und der Mann ohne Arme, der den weißen Verband in seinem Gesicht angestarrt hatte, setzte sich zu ihm mit der Frage, ob er Boxer sei. Er habe, so der Mann, früher selbst leidlich gekämpft. Friendly Fire, fuhr er fort, als er Neils Blick auf die Armstumpen bemerkte, Falklandinseln im Mai ’82 und als Wiedergutmachung spendiert mir die Royal Air Force alle paar Jahre neue Prothesen. Neil ist nach wie vor motiviert, schneller, besser, härter zu werden. Und würde nicht darüber nachdenken, wie lange dieser Wille bestehen bleibt, wäre da nicht ein Gegner, der hinter den Worten des Trainers Form gewinnt und über zwei Schläge verfügt: Du wirst alt. Du baust ab.

Den Job, die Dealer abzuklappern, gabelte er im Sankeys auf, letztes Jahr von einem europäischen DJ-Magazin zum weltbesten Club auserkoren. Die Endzeitstimmung aus Fabrikruinen und Brachland wird von Nachtschwärmern mit einem Kopfschütteln abgetan, wie wenn ein Penner in ein Shopfenster glotzt und mit der Schulter zuckt wegen einer Schnittwunde im Gesicht, und inmitten dieses Areals, in einer ehemaligen Baumwollspinnerei, ein Soundsystem, das das Sankeys gegenüber vergleichbaren Spots in Berlin oder Barcelona auszeichnet. Pulsierendes Licht, erhobene Arme, wie gekappte Schiffsmasten durch den Rauch geisternd, eine heiße, dunstige Atmosphäre, in der LED-Röhren Takelagen bilden, um daran entlang ins Glück zu klettern. Aleister, Türsteher des Sankeys, vermittelte den Kontakt zu Dave, einem diskreten Zampano schnellen Geldflusses. Abseits wöchentlicher Dope-Runden kämpft Neil seither in wechselnden Rollen in von Dave organisierten Boxturnieren, um die Wetten hochzutreiben.