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Das Buch

Sogenannte K-9-Einheiten, wie Hundestaffeln international heißen, haben vielfältige Einsatzgebiete: Menschenleben retten; Straftäter stellen; auf Gefahren hinweisen.

Im Berliner Görlitzer Park werden Drogen auf einem Kinderspielplatz gefunden – es gibt eine Großrazzia. Beim Christopher Street Day geht es die meiste Zeit bunt und fröhlich zu, aber auch dort geraten manche Situationen außer Kontrolle. Die Wohnung einer alten Frau soll zwangsgeräumt werden – und doch kommt am Ende alles ganz anders.

Teddy ist Polizeihund und hat jahrelang an der Seite seines »Jungen« Cid Jonas Gutenrath brenzlige Situationen entschärft. Nicht alles ging gut aus, manches sogar blutig. Aber oft kam es auch zu ganz und gar menschlichen Begegnungen, aus denen alle Beteiligten gestärkt oder sogar fröhlich hervorgingen. All die Geschichten sowie privaten Erlebnisse lässt der inzwischen »pensionierte« vierbeinige Veteran noch einmal Revue passieren – auf unterhaltsame, packende und oft herzerwärmende Weise.

Der Autor

Cid Jonas Gutenrath, Jahrgang 1966, war Türsteher, Marine-Taucher, Bundesgrenzschützer, Streifenpolizist, Zivilfahnder und hat fast zehn Jahre lang in der Notrufzentrale der Berliner Polizei Anrufe entgegengenommen. Seine beiden ersten Bücher »110 – Ein Bulle hört zu« und »110 – Ein Bulle bleibt dran« waren beide wochenlang in den Top Ten der Spiegel-Bestsellerliste.

CID JONAS GUTENRATH

Teddy

oder wie ich lernte,
die Menschen zu verstehen

Aus dem Leben eines Polizeihundes

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ullstein extra

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ISBN 978-3-8437-1066-4

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin
Umschlagfoto: Hans Scherhaufer

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E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Für Jean Felix Ambos,

unseren lieben Nachbarsjungen,
der am 7. Oktober 2014 seinen Frieden fand

Vorwort

Dieses Buch ist eine Liebeserklärung. An meinen Hund. An meinen Beruf. An die modernen K9-Einheiten in aller Welt. Die Erzählform ist mit Bedacht gewählt. Weil ich weder mit Unterstützung noch mit Wohlwollen meiner Firma rechnen darf. Obwohl ich die Hoffnung darauf nie aufgeben werde. So sei an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt, dass die beschriebenen Szenarien, Abläufe und Geschehnisse selbstverständlich auf reiner Fiktion basieren und eventuelle Ähnlichkeiten mit Menschen, Hunden oder gar Polizisten rein zufälliger Natur sind.

So, dies galt es notwendigerweise verbindlich festzustellen. Genug der Förmlichkeiten.

Was erwartet Sie nun auf den nächsten Seiten? Wie immer, wenn ich zum Bleistift greife, mit Sicherheit nicht das, was Sie vermuten, lieber Leser! Kein Heldenepos wird aus den Zeilen triefen. Auch wird der Autor nicht den peinlichen Versuch machen, sich als ein weiterer Hundeflüsterer zu etablieren. Süß und putzig ist auch nicht der Tenor. Hart und brutal, wie die Beschreibung einer Sondereinheit mit vierbeinigen Kampfmaschinen in ihren Reihen vermuten ließe, wird es aber auch nicht zugehen. Nein. Es wird anders. Ganz anders! Wir werden einfach nur gemeinsam eine wunderbare Seele besuchen und ein Stück weit begleiten, die selbst wahrscheinlich nur auf der Durchreise ist, in einem wolfsähnlichen Hundekörper. Jemanden, dessen Entschlusskraft, Hoffnung, Geduld und Liebe als Vorbild taugt für viele von uns. Mich inbegriffen. Deshalb gibt es dieses Buch.

Prolog

Das Kaminfeuer prasselt. Die Wärme tut gut. Ich bin in der zwölften Kältezeit. Es wird meine letzte sein. Der Blonde ahnt es noch nicht, aber ich spüre es deutlich. Sehr deutlich. Meine Schnauze ist grau, und meine Augen sind trübe. Die Glieder schmerzen. Sehr. Meine Zähne taugen schon lange nicht mehr als Waffe. Das Fressen ist mühsam. Es wird gut sein einzuschlafen. Und es wird zu Hause geschehen. Mein Mensch hat es versprochen. Bisher hat er seine Versprechen gehalten. Alle.

Vor jedem Einsatz hat er seiner Familie, meinem Rudel, das Versprechen geben müssen, mich wieder nach Hause zu bringen. Er hat immer sein Wort gehalten! Ohne Ausnahme. Und wir haben viel erlebt! Sogar als es hieß, ich tauge nicht mehr, weil ich zu alt bin. Für einen Euro hatte er das Vorkaufsrecht für mich, vor allen anderen.

»Der wichtigste Euro seines Lebens«, hat er laut vor allen gesagt, als ich dabei war, und ich drückte stolz meine Brust heraus. Dann nahm er mich alten, nutzlosen Hund für immer mit nach Hause. Auch wenn es ihn verbittert, dass seine Firma sich weigert, weiter meine Arztrechnungen, Medikamente und mein Spezialfutter zu bezahlen. Nicht wegen des Geldes, wie er sagt, sondern wegen der Missachtung. Selbst heute schaut er mir noch oft in die Augen und sagt: »Teddy, du hast ihnen alles gegeben! Schämen sollen sie sich! Aber ich werde ihre Ehre retten, das verspreche ich dir, alter Freund!« Bis jetzt hat er jedes Versprechen gehalten! Neuerdings, seitdem ich auf wackeligen Beinen gehe, darf ich sogar als Erster durch das Gartentor, wenn wir hinausmüssen. Weil er sich sicherer fühlt, wenn ich vor ihm gehe, sagt er. Der liebe Lügner. Ich bin froh, dass er mir zugeteilt wurde von der großen Verteilerstation. Sehr froh. Doch jetzt liege ich vor seinem Feuer und höre die Ahnen rufen. Und es klingt wunderbar, sie heulen zu hören. Seit zwölftausend Jahren sitzen wir an ihren Feuern, und sie haben doch nur so wenig verstanden. Sie wissen so wenig. Über uns, die Welt, die sie kaputtmachen, und über sich selbst. Wir spüren und wissen, was ein Mensch nicht einmal ahnt. Wir waren lange vor ihnen hier. Aber statt von uns zu lernen, haben sie uns seit jeher nur für sich töten lassen. Wie armselig. Und wofür?!

Ich habe viel Zeit und Geduld gebraucht, um meinem Menschen verständlich zu machen, worauf es wirklich ankommt. Dass Kämpfen beispielsweise niemals ehrenhaft oder lustvoll sein kann, sondern nur unumgänglich. Ein bisschen hat er verstanden. Er sagt zumindest, dass er mehr von mir gelernt hat als ich von ihm. Ich glaube ihm. Ich spüre es. Deshalb fällt es mir leicht, die Rufe der Ahnen schön zu finden und mich locken zu lassen. Ich denke, ich kann ihn jetzt alleine lassen. Er wird Gefahren künftig auch ohne mich viel früher erkennen und ihnen aus dem Weg gehen, wie jeder gute und verantwortungsvolle Wolf es machen würde.

Einzig, dass er oft viel trauriger ist als früher, macht mir Sorgen. Und dass dies um ihn herum niemand so deutlich fühlt wie ich. Aber er ist ein starker, kampferprobter Wolf, der noch nicht ganz so müde ist wie ich. Außerdem wird er geliebt und auch gebraucht von seinem Rudel. Dies und das Versprechen, das er mir zu geben hat, bevor ich gehe, nämlich dass er unser Rudel aus jedem Winter wieder herausführen muss, wird ihn stärken und binden. Denn wie gesagt: Bisher hat er alle seine Versprechen gehalten …

Aber so weit ist es noch nicht. Noch liege ich im Wohnzimmer und genieße die Wärme und das Treiben um mich herum. Sie feiern irgendetwas. Seine Kinder sind da. Und seine Kindeskinder. Ich liege genau vor dem Kamin, mitten im Weg. Alle müssen um mich herumgehen. Sie achten mich. Sie respektieren und lieben mich. Nicht aus Mitleid, nein, weil ich es mir verdient habe, sagt mein Mensch. Heute ist der Abend, an dem alle Geschenke bekommen. Auch ich werde heute ein Geschenk bekommen. Ich weiß sogar, was für ein Geschenk. Mein Mensch wird mir heute wieder den großen Knochen eines Parmaschinkens geben. Als Geschenk. Um die Ehre der anderen zu retten, wird er sagen.

Ich werde nicht viel damit anfangen können. Meine Zähne sind zu schlecht. Aber dieser wertvolle Knochen ist mein Geschenk! Er wird neben mir liegen. Alle werden ihn sehen können. Und jeder, der mich anschaut, wird lächeln. Am späten Abend dann wird seine jüngste Tochter zu mir kommen und flüstern: »Danke, Teddy, dass du Papa immer wieder nach Hause gebracht hast«, und mir etwas Schönes geben, was ich besser kauen kann. Sie hat auch verstanden. Es wird ein schöner Abend werden.

Noch aber sind nicht alle da. Es freut mich sehr, dass ich alter Hund immer noch der Erste im Rudel bin, der ihre Motoren und Schritte erkennt, lange bevor die Hausglocke erklingt. Lange! In der Küche herrscht ebenfalls noch hektisches Treiben. Den ersten Streit gab es auch schon. Hach, es wird ein schöner Abend. Und es wird noch ein Weilchen dauern bis zu meinem Knochen. Es ist noch Zeit. Zeit, die Wärme zu genießen, sich zu freuen, die zwölfte Kältezeit vor den Fenstern ausgesperrt zu sehen. Und Zeit, die Jahre an der Seite meines Menschen noch einmal abzulaufen … es ist … noch … Zeit … Zeiit …

Jakes Geburtstag

Wir kennen einen kleinen Jungen. Er lebt mit seinen zwei Geschwistern und der Mama allein, ganz in der Nähe. Sein Papa ist gestorben. Woran und wann, das weiß ich nicht. Nur dass alle vier recht traurig sind, das weiß ich. Man sieht es ihnen einfach an. Und dass der kleine Mann nicht sehr beliebt ist, das weiß ich auch. An sich seltsam, denn mag er auch nicht besonders sportlich und gesprächig sein, so ist sein Lächeln, wenn er denn mal lächelt, herzerwärmend.

Kennengelernt haben wir uns in einem Park. Er machte dort mit seiner Familie ein Picknick, und wie sich herausstellen sollte, war dies seine Geburtstagsfeier. Eine seltsame Art für so einen kleinen Kerl, seinen Geburtstag zu feiern, dachte ich. Als mein Bengel mit der Mama ins Gespräch kam und sich wenig feinfühlig wunderte, warum der Kurze nicht mit seinen Kumpels bei Wattepusten, Sackhüpfen und Kirschkernweitspucken abfeiert, antwortete die Mutter wortkarg: »Weil er keine Kumpel hat.«

Ein wenig verlegen und mit zerknitterter Stirn schaute daraufhin mein großer Depp aus seiner Wäsche und wusste nicht mehr, was er sagen sollte. »Er ist zu ernst, für sein Alter viel zu klein, und seine Brille trägt auch nicht gerade dazu bei, dass er morgens in der Klasse mit einem Schulterklopfen begrüßt wird«, flüsterte sie erklärend, als der Kleine gerade mit mir beschäftigt war. Und dann sagte sie, noch ein wenig leiser: »… außerdem machen sich die anderen Kinder über seinen winzigen Hund lustig und sagen Sachen wie: ›Deine Mudda ist fett und stinkt.‹ Toll, was!?«

»Mhh«, war alles, was meinem Blonden dazu einfiel, doch ich fühlte, wie es in ihm rumorte. »Kleine Kackbratzen«, grummelte er vor sich hin, und dann rief er zu uns rüber: »Hey, Jakob, komm mal her.«

Seine Brille zurechtrückend, ließ der Junge widerwillig von mir ab, trottete die paar Meter zur Picknickdecke und fragte mit hängenden Schultern: »Ja, was ist?«

»Sag mal, darf ich dich Jake nennen? Ich finde, das klingt irgendwie cooler als Jakob.«

Nach einem kurzen Augenblick des Nachdenkens und einem vor sich hin gemurmelten »Jääk« nickte der Kleine heftig, kniff die Augen etwas zusammen, lächelte leicht, mit nur einem Mundwinkel, und bestätigte kurz: »Geht klar!«

»Was hältst du davon, Jake, wenn du in deiner Klasse ein paar Einladungskarten fürs Wochenende verteilst, um deinen Geburtstag nachzufeiern?«

»Nichts. Die kommen nich’. Hab ich schon mal probiert.«

»Echt?! Ach was! Kann ich mir gar nicht vorstellen. Vielleicht solltest du nicht nur Jungs einladen, sondern auch ein paar Mädchen.«

»Mädchen?«

»Ja, die sind meistens lieber und riechen besser. Außerdem kann man mit denen oft ganz toll quatschen. Schreib in die Karten rein, dass es Hot Dogs gibt und Schokoküsse, bis allen schlecht wird, und am Ende, wenn nichts mehr geht, Filme gezeigt werden, die für Kinder nich’ erlaubt sind. Wetten, die kommen?!«

»Wetten, nich’?«

»Aaach, wenn du …«

»Dein Hund is ’n richtiger Polizeihund, stimmt’s?«

»Jau.«

»Kommst du zu meinem Geburtstag? Kommt ihr zu meinem Geburtstag? Kann ich in die Karten reinschreiben, dass ’n echter Polizeihund zu meiner Feier kommt? Geht das? Dann kommt bestimmt wer!«

»A… also …«, hörte ich mein Großmaul da stammeln, richtete mich auf, schüttelte mich heftig, so dass ein bisschen Sabber durchs Sonnenlicht flog, und dachte genüsslich: Jetzt sieh mal zu, wie du aus der Nummer wieder rauskommst.

»Ähm … das geht leider nicht. Das geht wirklich nicht. Erstens müssen wir am Wochenende arbeiten, und außerdem dürfen wir das auch gar nicht. Echt, ehrlich, Jake, tut mir wirklich leid, aber das geht nicht.«

»Verstehe«, war alles, was der Kurze daraufhin traurig erwiderte. Er vergrub seine Hände in den Hosentaschen, seine Schultern hingen noch ein bisschen tiefer, und er schlurfte wieder rüber zu mir.

Dienstag, Mittwoch und Donnerstag haben wir jeden Morgen, wenn wir an der Schulbushaltestelle vorbeigefahren sind, wo Jakob immer abseits von den anderen mit seinem großen, doofen Disney-Cars-Ranzen auf dem Rücken stand, gehupt, und mein Junge hat aus dem offenen Fenster »Moin, Jake« gebrüllt. Freitagnachmittag hat es dann an unserer Haustür geklingelt.

Da stand er nun, der kleine Mann, mit seinem Seitenscheitel und genialem Plan – oder besser: einer Beichte.

»Ich hab’s gemacht. Ich hab reingeschrieben, dass ihr kommt. Es haben sieben zugesagt, sogar Kevin, und der hat mich bisher immer nur verprügelt! Du und Teddy, ihr müsst kommen, bitte, bitte, bitte!« Und dann nahm er seine Brille ab, vergrub sein Gesicht im Ellbogen und fing an zu heulen.

Danach saßen wir alle drei eine gefühlte Ewigkeit auf dem Trampolin im Garten, und mein Junge hat versucht, ihm zu erklären, worum es geht. Dass ich nicht ihm gehöre, sondern der Polizei. Dass ich ein sogenannter »gefährlicher Hund« bin, der darauf trainiert ist, notfalls Menschen anzugreifen. Und dass wir unseren Job verlieren können, wenn sich irgendwelche Kinder oder gar Eltern über eine Kleinigkeit beschweren.

»Ich mach es wieder gut, das verspreche ich dir«, war das Letzte, was er Jake sagte, als er ihm die Hand zum Abschied gab.

»Samstag um fünf«, war das Letzte, was Jake sagte, als er sich an der Gartentür noch einmal schniefend umdrehte, und wir zwei haben Freitagnacht so gut wie überhaupt nicht geschlafen.

Samstag um 18 Uhr begann unsere Nachtschicht. Um 17:30 Uhr stand ich frisch gebürstet, mit meiner Polizeiweste und einem nach Plastik schmeckenden kleinen Päckchen in der Schnauze vor der großen Tür mit den vielen bunten Luftballons.

Den Finger auf dem Klingelknopf, schaute mein Junge noch mal zu mir runter und sagte: »Für die nächste Viertelstunde bist du ’n Pudel, kapiert!?«

Noch bevor der Finger wieder runter vom Klingelknopf war, flog die Tür schon auf, und zwei Kinderaugen glänzten so feucht und glücklich, dass die Brille darüber fast beschlagen wäre.

»Hey, Leute, der Polizeihund ist da«, tönte es quer durchs Haus, und Jakes Mama sagte, auch mit ziemlich glänzenden Augen: »Vielen Dank!«

»Schon okay. In dem Päckchen ist die DVD »Mein Partner mit der kalten Schnauze« und die gleiche Polizeitaschenlampe, die Teddy in seiner Weste trägt, ich schätze, damit haben wir Jakes Geschmack getroffen. Wir können aber nicht lange bleiben, tut mir leid«, sagte mein Junge noch zwischen Tür und Angel. Doch da war ich schon damit beschäftigt, gemeinsam mit einer Horde kleiner Menschen durch den Garten nach Luftballons zu jagen.

»Was darf ich Ihnen anbieten?«

»Ein alkoholfreies Bier und einen bequemen Sessel, denn ich bin hier ja eh nur der Chauffeur, und ein Telefon, damit ich Bescheid sagen kann, dass wir ’ne Stunde zu spät zum Dienst kommen, wär nicht schlecht.«

Die beiden Sätze waren erst mal das Letzte, was ich für ’ne Weile durchs Kindergeschrei vernahm. Verdammt, hatten wir einen Spaß!

»Darf man erfahren, was so immens wichtig war, dass ihr beiden Knaller fast zwei Stunden zu spät zum Dienst erscheint?«, war die unvermeidliche Frage, die wir uns später von Detto anhören mussten, der zwar ein lieber Kerl, aber trotzdem unser Boss ist.

Nach einem Lächeln und einem verschmitzten Augenaufschlag über einer nassen Nase stand die Antwort für uns fest: »Ja. Jakes Geburtstag!«

Wechselbälger

Wechselbälger. So nannte sie Martin Luther, der »große Reformator«, bei dem wir Hunde übrigens auch nicht besonders gut wegkamen. Gar mit dem Teufel im Bunde wähnte er sie, oder zumindest von ihm im Mutterleib gegen das eigentliche Kind ausgetauscht. Bis in die heutige Zeit werden sie hier oft Mongo, Fehldruck oder Dorftrottel geschimpft. Andere Länder, Frankreich beispielsweise, haben schönere, poetischere Namen für sie. Dort ruft man sie Feenkinder und scheint besser verstanden zu haben, dass anders eben nur anders ist und nicht gleichbedeutend mit schlechter.

Ob ein Autist hochbegabt oder behindert ist, hängt irgendwie stark von der Perspektive ab, findet ihr nicht auch?! Und so könnte man ewig weiterphilosophieren über Glück, Sinn und Qualität eines jeden Lebens. Fest steht, dass alles, was anders ist, auch Angst macht. Weil man es nicht versteht. Gleichzeitig geht von ihm aber auch eine eigenartige Faszination aus.

Uns geht es da übrigens nicht anders. Uns habt ihr die Mär vom bösen Wolf angehängt und versucht uns komplett auszurotten. Zu töten. Wie die Wechselbälger damals einfach zu ertränken. Wen wundert es, dass es über die Zeiten hinweg immer mal wieder Berührungspunkte gab zwischen jenen, die Zugang oder wenigstens Einblick in andere Welten haben. Ihr könnt inzwischen mit Röntgen- und Wärmebildgeräten durch Wände und Mauern hindurchschauen, was ihr euch früher nie hättet träumen lassen. Und doch verhilft euch dieser Fortschritt nicht zu der Erkenntnis, dass es so vieles gibt, was sich euren fünf Sinnen noch entzieht.

Ob Rudyard Kiplings Mowgli, für den es übrigens eine authentische Vorlage gibt, Kaspar Hauser oder Victor von Aveyron, die Reisenden zwischen den Welten habt ihr stets als Trottel abgestempelt, und wir sind ohnehin nur »dumme Hunde«. Aber es gibt sie, die unsichtbaren Spuren, die uns hineinschauen lassen in andere Sphären, die euch verborgen sind. Wenn ihr am Rande davon tangiert seid, nennt ihr es gerne »Wunder« oder gebt ihm Namen wie »Mantrailing« und tut so, als hättet ihr alles erfunden. Dabei wisst ihr nichts. Weniger als nichts. Was ich gar nicht schlimm finde. Nur wie ihr damit umgeht, das kann ich nicht leiden.

»Die Friedenstaube hat Dünnschiss«, hieß es, und damit war ich raus aus der Nummer. Allerdings nicht ganz. Weil ich nämlich schon zweimal meine Box »verunreinigt« hatte, war ich mit draußen. Sozusagen als Zaungast, was schön ist, denn so kann ich euch berichten …

Einbruch und Alarmanlagen sind ein Hauptteil unseres Geschäfts, und wir trainieren unermüdlich, den Bösewicht zu finden, wo er nichts zu suchen hat. Mit sehr großem Erfolg. Klingt unbescheiden, ich weiß, aber unsere Erfolgsquoten sprechen für sich. Ein polizeiinternes Sprichwort sagt: Ein Diensthund ist mehr wert als eine ganze Hundertschaft! Denn wir würden selbst Spiderman finden, der unter der Hallendecke klebt.

Wichtig ist dabei die taktische Auswahl des vierbeinigen Kollegen, der den Job erledigen soll. In Anbetracht des zu durchsuchenden Objektes. Haben wir mit Publikumsverkehr oder gar Kindern zu rechnen? Nach diesen Kriterien wird ausgewählt, denn kompetent sind wir durch die Bank alle. Einzig unsere sozialen Fähigkeiten, oder sagen wir Vorlieben, sind stark verschieden. Was ich deshalb auf alle Fälle richtigstellen muss, um meiner Verantwortung gerecht zu werden, ist Folgendes: Niemand, wirklich niemand sollte sich ohne Einladung oder Schutz der Götter einem Polizeihund nähern! Ich könnte jetzt hier seitenweise Ausnahmen auflisten, will ich aber nicht. Denn das ist die Faustregel. Wer also hundertprozentig sichergehen will, dass er mit heiler Hose wieder nach Hause kommt, sollte erst einmal Abstand halten und artig fragen.

Prinzipiell gilt bei Einbruch: Wer nach gesetzlich vorgeschriebener dreimaliger Aufforderung nicht aufgibt und einfach rauskommt oder stattdessen sogar angreift, den holt der Wolf. Und eine Pistolenkugel lässt sich schließlich auch nicht zurückrufen.

Was bei uns allerdings doch anders ist. Wenn wir denn wollen, ist selbstverständlich ein wesentlich differenzierteres Vorgehen möglich. Die Netteren fahren eine andere Taktik und haben dafür nicht selten schon einen hohen Preis bezahlt. Bambule ist Hardliner. Bambule macht kurzen Prozess. Wenn der Typ, nach dem wir suchen, nicht zur Besinnung kommt, wird er durch den Fleischwolf gedreht. Und der Fleischwolf heißt Bambule.

Ein gewalttätiger Einbrecher hat sich in einem Kellergewölbe versteckt, nachdem er in flagranti vom Hausmeister eines unter Denkmalschutz stehenden Mehrfamilienhauses in einer Wohnung überrascht wurde. Trotz klaffender Wunde an seiner Stirn würde der Hausmeister uns gern begleiten und entschuldigt sich. Für seine Nervosität und dafür, dass in der ehemalig hochherrschaftlichen Charlottenburger Großbürgerresidenz der Keller eher einer Tropfsteinhöhle gleicht als einem Keller.

Das Licht geht auch nicht, es ist dunkel wie im Bärenarsch, und richtig wohl fühlt sich nur Bambi. So wird Bambule von Kröte, seinem Zweibeiner, genannt, wenn die zwei kuscheln, was sie meist heimlich machen. In Sechserformation betreten wir das Gewölbe. Vorneweg, noch an der Leine, Bambule, ganz hinten Jonas und ich. Als Anhängsel bemüht, nach hinten abzusichern. Wir trainieren auch das bis zum Erbrechen. Mein Junge nennt es polizeiuntypisch und angelehnt an seine militärische Vergangenheit auch gerne »Häuserkampf«.

Als die Tür sich hinter uns knarrend wieder schließt, halten wir alle für ein paar Sekunden völlig lautlos inne. Wir schließen kurz die Augen, damit sie sich an die Dunkelheit gewöhnen, und versuchen uns für einen Moment auf Geräusche zu konzentrieren, die nicht hierhergehören. Aber bis auf die Tropfen, die von der Decke in die Pfützen fallen, ist erst mal Stille.

»Das Haus von Rocky Tocky hat vieles schon erlebt, kein Wunder, dass es zittert, kein Wunder, dass es bebt …«, singt Kröte ganz leise, und Ali kickt ihm leicht mit dem Knie in den Hintern. Dann brüllt Kröte dreimal hintereinander so laut, wie er kann: »POLIZEI, KOMMEN SIE HERAUS, ODER ICH SCHICKE DEN DIENSTHUND

Noch ehe die letzte Aufforderung ohne Antwort verhallt ist, klinkt er sein Bambi aus und sagt leise: »Pass auf dich auf, Bruder«, und dann gibt er ihm das Kommando. Dieses Kommando ist bei fast jedem Zweierteam verschieden, manchmal kurios, manchmal ganz simpel. Ich darf nicht verraten, wie Krötes und Bambis lautet, aber Leute, ihr hättet euren Spaß daran!

Dann schießt Bambule los wie ein lautloser Blitz und verschwindet in der Dunkelheit. Die Männer setzen sich in einer Mischung aus Gänse- und Ameisenmarsch in Bewegung, so wie ihr es vielleicht aus dem Fernsehen oder aus dem Kino kennt. Wir dürfen keine Laserpointer als Zielvorrichtung benutzen, weil unser Land mehr Angst davor hat, dass unsere Jungs immer treffen, als davor, hin und wieder einen Polizisten zu verlieren. Oder weil die Dinger zu viel kosten. So marschieren sie lautlos, leicht geduckt, wie eine große schwarze Spinne mit Waffe und Lampe im Anschlag, und sichern nacheinander Verschlag um Verschlag.

Die Fäuste der Männer liegen über Kreuz. Die Linke mit der kleinen Taschenlampe darin ist unten und dient als Stativ für die Waffe in der anderen Faust, die so dem fokussierten Lichtkegel als feste Einheit folgt. Laserpointer für Arme. Der Einbrecher hat den Hausmeister mit einem Messer am Kopf verletzt. Also ist der Typ potentiell lebensgefährlich und damit auch selbst in Lebensgefahr. Man kann nicht Räuber und Gendarm spielen, wenn es ums Sterben geht, auch wenn die weltfremden Theoretiker an verantwortlichen Stellen das wohl gern so hätten. Ein seitlicher Messerstich aus der Dunkelheit, vielleicht auch ein Wurf aus der Distanz, wohlplatziert am Hals, zwischen Weste und Gürtel oder an einer Schlagader, und das war’s.

Aber wir haben ja Bambule. Solange ein vierbeiniger Kollege vorne ist, sind wir vor Überraschungen sicher. Daran glauben wir fest. Darauf verlassen wir uns. Und wer vorne ist, kann sich darauf verlassen, dass wir so schnell wie möglich bei ihm sind, wenn er uns braucht. Es ist immer noch gespenstisch leise. Bis auf das Plätschern der Tropfen und einen eisernen kaputten Kellerfensterverschlag vor einer zerbrochenen Scheibe, den der Wind in seinen rostigen Scharnieren leicht hin und her bewegt.

Wir sind bei so etwas immer auf eine Ratte oder Katze gefasst, aber hier gibt es nichts, was lebt. Zwei Drittel des Gewölbes sind gesichert, und Bambule kreuzt in der Dunkelheit immer mal wieder den Lichtkegel der Taschenlampen. Wie ein dunkler Schatten huscht er blitzschnell durchs Bild, fast wie der Teufel selbst, und ich bin heilfroh, dass ich auf der richtigen Seite mitspiele.

Als wir nicht mehr weit entfernt sind vom vorletzten großen Mauerdurchbruch auf der rechten Seite, hören wir plötzlich ein merkwürdiges rhythmisches Geräusch, das wir nicht einordnen können. Zeitgleich lässt Bambule ein Knurren hören, das, verstärkt durch den Widerhall des Gewölbes, auch einem Löwen zur Ehre gereicht hätte. Ich stimme von hinten in unser Lied mit ein, damit wer immer jetzt vor Bambi steht begreift, dass er unmöglich gewinnen kann.

Dann geht alles blitzschnell!

Ohne die Formation zu ändern, schließen wir im Laufschritt auf, und aus dem Raum dringt für Sekunden ein Geräusch, als wäre Fütterung in einer Wolfsgrube. Als wir, uns gegenseitig sichernd, um die Ecke biegen und die Zweibeiner vorsichtig den Raum ausleuchten, bietet sich uns im Lichtkegel der Taschenlampen ein sonderbares Bild. Vorne links in dem vielleicht dreißig Quadratmeter großen Raum liegt unverletzt ein Mann flach auf der Erde, mit dem Gesicht nach unten, und hält mit nach oben ausgestrecktem Arm ein Messer in seiner zitternden Hand. Doch ein paar Meter entfernt, fast mitten im Raum, sitzt ein kleiner Junge – oder ein Mädchen? – auf einem hölzernen Kinderstuhl mit Lehne. Die Hände fest neben den Beinen am Rand der Sitzfläche verkrampft, wippt er – oder sie – gleichmäßig vor und zurück wie ein verstörtes Tier, das man zu lange eingesperrt hat.

»Messer weg«, brüllt Kröte, und weil der Typ nicht reagiert, tritt er es ihm aus der Hand. Während Ali und Kröte die Handschellen klicken lassen, kniet sich Tommy langsam vor das Kind. Neben dem übrigens Bambule sitzt, und zwar schon, seit wir den Raum betreten haben. Aufrecht und fast auf Tuchfühlung sitzt er da.

»Hallo, wie heißt du denn, meine Kleine?«, fragt Tommy freundlich, weil er glaubt, ein Mädchen vor sich zu haben. Da der kleine Mensch nicht antwortet, sondern nur weiterwippt, fragt er erneut, diesmal etwas eindringlicher, was Bambule nicht zu gefallen scheint. Denn er knurrt Tommy an. Kurz, aber unmissverständlich. Kröte, der inzwischen gemeinsam mit Ali dem Gefesselten aufgeholfen hat, lacht kurz und sagt dann: »Komm, Tommy, wir tauschen besser mal.«

Da Bambi Kröte gegenüber logischerweise toleranter ist, darf der dieselbe Frage stellen und bekommt nach dem zweiten Versuch sogar auch eine Reaktion. Doch statt einer normalen Antwort erklingt ein dünnes Stimmchen mit einem Singsang im gleichmäßigen Rhythmus der Bewegung auf dem winzigen Stuhl: »Simone Melone, Simone Melone, Simone Melone, Simone Melone …« Und das Kind hört nicht mehr auf.

Schweigend schauen wir uns alle gegenseitig an. Als Kröte auch nur versucht, der Kleinen die Hand auf die Schulter zu legen, zuckt sie zusammen und hört zwar auf zu singen, wippt aber in doppelter Geschwindigkeit weiter. Und dann geschieht etwas sehr Merkwürdiges. Bambule, der weiß Gott nicht bekannt dafür ist, schnell oder leicht Freundschaften zu schließen, rutscht so weit an die Kleine heran, dass er sie seitlich berührt. Und sie hört auf zu wippen! Den Blick stur auf den Boden gerichtet, legt sie langsam ihre Hand auf den mächtigen Nacken des großen Hundes, krallt sich fest und macht dann kurze gleichmäßige Streichelbewegungen. Wir sind alle mehr als erstaunt über das, was da gerade passiert, und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, der Raum ist auf einmal irgendwie heller.

Wie sich herausstellen sollte, fing das Mädchen jedes Mal wieder an zu wippen, wenn der direkte Körperkontakt zu Bambule abriss. Also führte unser Bambi die Kleine heraus aus dem Kellergewölbe, nach oben ins Licht.

Unsere Recherchen ergaben, dass sie das dritte, wohl ungeliebte Kind des Hausmeisters war. Der hatte sie zwar dort unten nicht eingesperrt und trug deshalb auch keine unmittelbare Schuld an ihrem Zustand, dennoch muss sie ihm völlig gleichgültig gewesen sein. Als er seine Tochter im Rahmen unserer Befragung »Fehldruck« nannte und sie entsprechend beschrieb, hätte er sich fast noch ein Ding von Bambule eingefangen.

Also entschieden wir uns, sie noch in der gleichen Nacht zum Kindernotdienst nach Kreuzberg in die Gitschiner Straße zu bringen. Oder besser, Bambule brachte sie dorthin. Von dort aus ging es dann wohl irgendwann in eine entsprechende Pflegeeinrichtung. Darüber weiß ich aber leider nicht mehr allzu viel. Was ich aber weiß, sind zwei Dinge:

Erstens, dass der Einbrecher wohl eine, wenn auch unfreiwillig, gute Tat vollbrachte, indem er uns letztlich zu dem Mädchen führte, was das Schicksal ihm damit vergolten hat, dass unser »Monster« ihn nicht komplett zerlegte.

Und zweitens, dass Kröte mit Bambule das Mädchen noch oft besucht hat – was die beiden aber wohl niemals zugeben würden …

Christopher Street Day

Alle Jahre wieder, an einem Wochenende irgendwann im Hochsommer, befindet sich Berlin im Ausnahmezustand. Gut, der Berliner würde sagen, diese Stadt ist permanent im Ausnahmezustand, und wenn man ehrlich ist, hat er damit einfach nur recht. Aber der CSD ist schon etwas sehr Spezielles! Aus der ganzen Welt finden sich die bunten Vögel und Freaks in der Welthauptstadt der Homosexuellen ein, um sich selbst zu feiern. San Francisco war gestern. Denn bei uns regieren schließlich die Regenbogenfarben, ja wurden sogar schon vorm Polizeipräsidium gehisst. Da kann zurzeit auf dem Planeten niemand mithalten.

Vergessen wird heutzutage allerdings sehr oft, dass die inzwischen recht kommerzielle Riesenfete einen sehr ernsten Hintergrund hat. Und die Polizei hat aus diesem historischen Blickwinkel heraus wohl einiges gutzumachen. Deshalb, und aus einer ganzen Menge anderer Gründe, waren wir inzwischen schon viermal dabei. Und zwar höchst dienstlich.

Der erste Einsatz fand bereits während unserer Ausbildung statt. In der Gewöhnungsphase, den sogenannten »Actionwochen«, standen wir direkt am Umzug. Weil es nichts und niemand gibt, der mehr Radau macht als der CSD. Genauer gesagt wummert der Bass auf den allermeisten Umzugswagen dermaßen heftig, dass er nicht nur locker mit der Love-Parade mithalten kann, sondern für extrem empfindliche oder verstimmte Mägen durchaus schon mal zum Kotzen ist. Gewöhnung ist deshalb natürlich relativ und Abseilen aus dem Hubschrauber dagegen fast ein Kindergeburtstag.

Aber man muss halt so viel wie möglich erlebt haben, um in Zukunft unter allen Bedingungen einen guten und vor allem unbeeindruckten Job zu machen. Und sich eine eigene Meinung bilden zu können. Besonders das ist uns sehr wichtig. Ich bin ein Polizeihund, sogar ein reiner Schutzhund, also eigentlich jemand fürs Grobe. Schon allein aus diesem Grund haben sie während unserer »Höllenwochen« versucht, mir so etwas wie ein Standardmisstrauen anzuerziehen. Mit aller Macht. Hat aber nicht geklappt. Mein Junge und ich sind halt keine Freunde von stumpfem Konformismus. Sicherlich brauchen wir in unserem Beruf eine gewisse Vorsicht, um aus jedem Einsatz wieder gesund nach Hause zu kommen. Aber mit unbegründeter Aggression in jede Begegnung zu gehen vergiftet die Atmosphäre, anstatt sie souverän, vielleicht sogar angenehm zu gestalten. Für alle Beteiligten. Um ehrlich zu sein, ist das sogar einer der Schlüssel für unsere »Berufszufriedenheit«.

Wir begegnen ständig den unterschiedlichsten Menschen. Das erweitert unseren Horizont. Es hilft zu verstehen, vielleicht sogar Freunde zu gewinnen, was unermesslich wertvoll ist. Aber natürlich auch, Gefahren rechtzeitig zu erkennen und Feinde zu durchschauen oder sogar umzudrehen. Das macht diesen Beruf zu einem Abenteuer.

Getreu diesem Grundsatz, finden wir eine Menge Spaß daran, den CSD alljährlich zu begleiten, wenngleich ich nicht verhehlen will, dass uns ein paar Sachen auch ordentlich auf die Nerven gehen. Unsere Einstellung ist auf jeden Fall beschwingt bis positiv, wenn wir in diesen Einsatz gehen. Das soll nun nicht heißen, dass ich mit lila gefärbtem Rückenkamm losziehe und mein Bengel mit pinkfarbener Perücke. Aber die seitlichen Reißverschlüsse der Hosenbeine seines Einsatzanzuges sind in diesen heißen Sommertagen ohnehin oft bis zu den Arschbacken geöffnet. Eigentlich gedacht, um die Beinprotektoren schnell und politisch hübsch korrekt unter den Klamotten anlegen und verstecken zu können, sieht er damit auch nicht viel anders aus als der Cowboy der Village People mit seinen Chaps. Allerdings hängt der Hintern natürlich nicht im Freien. Und wenn wir dann und wann seriös rüberkommen müssen, ist in Sekunden Schluss mit luftig.

Auch der Rest der Ausrüstung lässt ahnen, um welche Art Einsatz es sich handelt. Er hat beispielsweise so gut wie nie den Schutzhelm direkt an seiner Uniform. Ganz einfach deshalb, weil wir aus dem Umzug heraus, also dem »Stammpublikum«, noch niemals angegriffen wurden! Von außen allerdings sehr wohl. Genau das ist auch der Hauptgrund für unsere Anwesenheit.

2008 wurden ähnliche Veranstaltungen in Tschechien und Bulgarien von Rechtsradikalen massiv angegriffen, und auch hierzulande gibt es immer noch Menschen, die Gewalt gegen Homosexuelle als notwendig und legitim verstehen. Gott sei Dank sind sie schlechter organisiert und deshalb für uns leichter in den Griff zu kriegen. Auch gilt in diesen Kreisen »Schwule klatschen« oder »Schwule abziehen« als fester Begriff und schlimmstenfalls als Kavaliersdelikt. Zumal sehr viele vom »anderen Ufer« recht zart besaitet und damit ein leichtes Opfer für feige Schläger sind. Allerdings hat sich auch das im Laufe der Jahre durchaus geändert, dazu kommen wir gleich.

Festzuhalten bleibt, dass man als Polizist auf dem CSD weder schüchtern noch einsilbig sein sollte. Da das aber nun beides nicht gerade unsere Schwächen sind, haben wir uns dort schon ordentlich amüsiert. Mein Bengel bis hin zum Lachkrampf! Wir haben schwule Pudel und blaue Yorkshireterrier erlebt und mein Junge Anträge ohne Ende. Wenn er für jedes »Hach, du strammer Schutzmann, du!« einen Euro bekommen hätte, könnten wir uns zur Ruhe setzen.

Klar, irgendwann, besonders wenn es dunkel wird, geht es auch mir auf den Keks, wenn man nicht mehr kacken kann, weil jeder Busch im Tiergarten schon wackelt. Und wenn nicht mal mehr der Busch als Sichtblende benutzt wird, hör ich meinen Jungen durchaus auch übellaunig werden, mit Sätzen wie: »Hey, ihr Flittchen, wie soll ich das denn der bayerischen Touristenfamilie mit drei Kindern erklären, was ihr da macht; habt ihr kein Zuhause?!« Ist übrigens nicht nur extrem schlechter Stil, ein solches Verhalten, sondern im Ausklang dieser Veranstaltung leider auch massenhaft die Norm. Da wird quasi mit dem Hintern wieder eingerissen, was tagsüber mit Charme und Mutterwitz, vor allem aber jeder Menge farbenfrohem Humor aufgebaut wurde.

Ungefragte Küsschen auf seine Wange von zivilisierten und gepflegten Weltbürgern quittiert mein maskulines Testosteronwunder allerdings auch nicht mit Wutausbrüchen, sondern eher mit Kommentaren wie: »Geh mal ganz schnell weiter, mein Hübscher, denn wenn ich das meiner Frau erzähle, macht sie dich kalt!« Man kann sagen, Provokation ist Tagesgeschäft auf dem CSD. Aber eine andere Art, als wir gewohnt sind. Du wirst nicht angegriffen oder beleidigt, sondern sie versuchen dich aus der Reserve zu locken. Das ist nicht nur eine angenehme Abwechslung, sondern auch eine unterhaltsame Herausforderung. Wenn du ’ne flinke Fresse hast und ein tolerantes Gemüt. Denn wer dir anzüglich und frech kommt, in der unverhohlenen Absicht, dir einen roten Kopf oder Sprachlosigkeit zu bescheren, dem kannst du ebenfalls anzüglich und frech kommen. Also beste Voraussetzungen für ein Feuerwerk der Sprüche. In allen Kategorien und Schubladen!

Hier mal zwei Beispiele.

Antrag: »Süßer, ich komm gleich rüber zu dir, und dann werd ich dich vernaschen!«

Antwort: »Wenn du mich tatsächlich in den Griff kriegen solltest, Schnuffel, dann hast du mich auch verdient!«

Oder, viel seltener und ekliger:

»Na, du bist doch auch nur ’n spießiger versteckter Schwuler, oder?!«

Antwort: »Schwul is’ immer nur der, der gepoppt wird, Häschen, also hoppel mal schnell weiter …«

Man kann sich leicht vorstellen, dass die, die ja sozusagen von Gottes Gnaden cool und tolerant, weil anders sind, mit solchen Antworten nicht rechnen und dann selber manchmal sprachlos dastehen. Und das macht einen Riesenspaß!

Am Rande, und Gott sei Dank recht selten, müssen wir dann aber hin und wieder doch arbeiten. Doch auch die Gestaltung dessen liegt ja immer ein wenig im »Ermessensspielraum«. Solange du anschließend nicht per Handy aufgenommen im Internet zu sehen bist.

Wie ich eben schon angedeutet habe, gibt es die unterschiedlichsten, teilweise sehr wehrhaften Fraktionen in der beschriebenen Community. Und das nicht erst seit gestern. Ein heterosexueller Kumpel meines Jungen, eigentlich ein furchtloser Kämpfer, hatte beispielsweise schon in den achtziger Jahren einen Türsteherjob in der Hamburger Schwulenszene (Hallo, Sven!), wo man maßgeblich auf Anabolika und Leder stand. Aber nicht sehr lange! »So viel Geld und Waffen kann’s gar nich’ geben, dass ich in den Laden freiwillig zurückgehe!«, soll er nach drei Tagen gesagt haben, weil er eine unfreiwillige Entjungferung befürchtete.

Und solche muskelbepackten Boliden mit Lederweste, Chaps und freiem Arsch laufen eben inzwischen auch zuhauf am CSD rum. Wenn nun der angesoffene, kahlrasierte, arbeitslose Faschistenschädel mit seinen Ghettobrüdern auf »Schwulenjagd« im Umfeld des CSD auf just so eine Combo trifft, kann das ’ne ganz bittere Erfahrung werden …

Mein Junge muss pinkeln. Da wir gemeinsam nicht in eins der vier Millionen vollgesauten Dixi-Klos reinpassen, er mich aber auch nicht draußen parken kann, hat er das vor, was ich auch ständig mache: einen Baum anpuschen. Jaja, is’ klar, total verboten. Aber wenn sie nicht bald mal drüber nachdenken, dass Polizisten im Einsatz auch mal müssen, und Veranstalter wie Firma etwas netter zu uns sind, befürchte ich eh, dass er ihnen demnächst mit mir zusammen auf die Straße kackt. Kotbeutel haben wir ja schließlich dabei. Aber das ist jetzt hier nicht das Thema.