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„Verloren“

Wie alles begann

Liberty-Kreuzer JAYDEN CROSS, Status: unbekannt. Ort: unbekannt. Datum: unbekannt

Sol-System, Terra, 08. März 2257, 10:55 Uhr

LK JAYDEN CROSS, Status: unbekannt. Ort: unbekannt. Datum: unbekannt

Sol-System, Terra, Paris, 02. Juni 2257, 11:30 Uhr

LK JAYDEN CROSS, Status: schwer beschädigt; Ort: unbekannt; Datum: unbekannt

Außerhalb der JAYDEN CROSS

Alpha Centauri-System, Raumstation AC-0, 02. Juni 2260, 5:32 Uhr

LK JAYDEN CROSS, Status: schwer beschädigt; Ort: unbekannt; Datum: unbekannt

Dreadnought TORCH, 15 Lichtjahre vom Alzir-System entfernt, 04. August 2266, 04:36 Uhr

LK JAYDEN CROSS, Interne Zeit: 02. November 2267, 12:23 Uhr

Solare Republik, an Bord der NOVA-Station, September 2267

LK JAYDEN CROSS, an einem unbekannten Ort, 02. November 2267, 13:10 Uhr

Kurz zuvor

LK JAYDEN CROSS, Im Interlink-Phasenflug, 02. November 2267, 06:30 Uhr

LK JAYDEN CROSS, Im MARS-2-System, 02. November 2267, 14:17 Uhr

Vor dem Maschinenraum

Epilog I – Endlich

Epilog II – Heimkehr

Epilog III – Die größte Herausforderung

Vorschau

Nachwort

Impressum


Heliosphere 2265

- Das Marsprojekt -

 

Band 1

 

Verloren


von Andreas Suchanek

Wie alles begann

 

Captain Kristen Belflair und die Crew der JAYDEN CROSS befinden sich im September 2267 auf dem Weg zu den Aaril, um einen Pakt mit den Elementaliens auszuhandeln. Ebenfalls an Bord: der Außenminister der Republik, ein hochrangiger Diplomat und ein Agent des Exekutivkommandos.

Das Raumschiff fällt im Verlauf des Fluges aus dem Phasenraum und wird von den Assassinen des Ketaria-Bundes angegriffen, die die an Bord befindliche Tasha Yost – eine der fünf gesuchten Genschlüsselträger – entführen. Dabei kommt eine Manipulation am Hauptcomputer des Schiffes zum Einsatz.

Nach erfolgreicher Flucht aktivieren die Angreifer offenbar eine Schaltung, die das Raumschiff in den Phasenflug zwingt und gleichzeitig das neue Interlink-Aggregat aktiviert. Die inkompatiblen Technologien interagieren und schleudern den Raumer durch das höherdimensionale Kontinuum.

Während die Solare Republik weiter gegen Richard Meridian, den Jahrhundertplan und Imperator Sjöberg kämpft, bleibt das Schicksal der JAYDEN CROSS ungewiss.

Bis heute.

Liberty-Kreuzer JAYDEN CROSS, Status: unbekannt. Ort: unbekannt. Datum: unbekannt

 

Es roch nach ionisiertem Sauerstoff und verschmorter Isolierung; elektrische Energien knisterten. Die Geräusche sollten nicht da sein, doch sie waren es. Ein Stöhnen erklang. Die Stimme wirkte seltsam vertraut, aber gleichzeitig fremd. Es dauerte endlose Sekunden, bis sie die Wahrheit realisierte, dass nämlich sie selbst gestöhnt hatte. Was bedeutete ...

Ich lebe!

Dieser eine Gedanke vertrieb abrupt die Benommenheit. Adrenalin peitschte durch ihren Körper, sie fuhr in die Höhe, öffnete die Augen.

Captain Kristen – Kirby – Belflair saß neben einer Konsole inmitten der Gestalt gewordenen Hölle. Sinneseindrücke prasselten auf sie ein, überfluteten ihr Denken.

Zerstörte Arbeitsstationen ragten empor, bedeckt von halb zersplitterten Touch-Oberflächen aus Saphirglas. Überspannblitze zuckten über Elektronikkomponenten hinter Wandpanelen, die sich gelöst hatten. Statusdioden am Projektionsblock der zentralen Holosphäre blinkten rot auf.

Kirby kam mühsam auf die Beine. Der Geruch von Zink und Eisen vertrieb alles andere.

Blut.

Mit wenigen Schritten war sie bei ihrem Ersten Offizier. Commander Aliou Nymba lag zusammengekrümmt vor seinem Sitz. Die ebenholzfarbene Haut wirkte unnatürlich bleich, verkrustetes Blut klebte in den raspelkurzen weißen Haaren. „Aliou“, sagte sie leise.

Er stöhnte, rollte auf den Rücken und öffnete die Augen. „Captain?“

„Bleiben Sie liegen.“ Mit zitternden Fingern riss Kirby an dem Fach mit dem medizinischen Notfallkit – die Zugangsplatte hatte sich verkantet –, bis es endlich aufsprang. Glücklicherweise war der Inhalt unbeschädigt. Sie streifte den Scannerhandschuh über und untersuchte ihren I.O. gründlich. „Prellungen und Hämatome, aber keine ernsten Verletzungen.“

Er kam aufstöhnend in die Höhe. „Jetzt Sie.“

Kirby wollte im Reflex widersprechen, als ringsum Geräusche erklang, schmerzerfüllte Rufe. Sie sah jedoch ein, dass sie mit inneren Wunden niemandem würde helfen können.

„Sie sind auch okay“, sagte Aliou kurz darauf.

Jemand hustete.

Mit wenigen Schritten war Kirby bei der Navigationskonsole. „Czem?“

Der Navigator beugte sich zur Seite und spuckte Blut. Der sonst stets wie aus dem Ei gepellt wirkende Lieutenant Commander sah furchtbar aus. Die Uniform war an mehreren Stellen zerrissen, der Vollbart ließ ihn fast animalisch wirken. Als er lächelte, verwandelte das Blut auf den Zähnen ihn zu einem schimärenhaften Abbild seiner selbst. „Alles in Ordnung, Ma’am. Hab mir nur auf die Zunge gebissen.“

Sie untersuchte ihn kurz. Tatsächlich hatte auch er lediglich oberflächliche Verletzungen davongetragen.

„Captain“, erklang Alious Stimme.

„Czem, verschaffen Sie sich einen Überblick. Helfen Sie den anderen, und dann will ich einen Statusreport.“

„Aye, Ma’am.“

Ihr I.O. kniete neben der Taktik- und Waffenkonsole am Boden. Commander Sienna McCain hatte die Zähne zusammengebissen und starrte Kirby trotzig entgegen. „Mir geht es gut.“

Die braune Haut der Australierin war von Schürfwunden bedeckt, ihre Lippe aufgeplatzt. Das hüftlange dunkelblonde Haar umrahmte ihr Antlitz wie ein matter Heiligenschein.

Von der Hüfte abwärts lag sie unter Konsolentrümmern.

„Dann sollten wir wohl den Gleichgewichtstest machen“, sagte Kirby trocken. „Stellen Sie sich auf ein Bein.“

Sienna kniff wütend die Lippen zusammen.

Der Sensorhandschuh enthüllte, dass sie diverse innere Verletzungen davongetragen hatte. Eine Quetschung der Lunge, was erklärte, warum ihr Atem so rasselnd ging. Dazu eine angeknackste Rippe und Blutungen. Irgendwo hatte außerdem ein Trümmerstück den Körper penetriert. Die Blutlache unter ihr wurde langsam größer. „Sie müssen sofort auf die Krankenstation. Kirby an Olivia.“

Die Lautsprecher des Interkom-Systems knackten einmal kurz, doch es blieb still.

„Commander Özenir“, rief sie in Czems Richtung, „das wäre der passende Moment für ein Status-Update.“

„Bin dabei“, kam es zurück. „Ich musste erst unserem Sensorgenie helfen.“

Lieutenant Bai Yun, das „Küken“ unter den Kommandobrückenoffizieren, wirkte ramponiert und zittrig, hielt sich aber tapfer. Er hatte seine Konsole an der Seite geöffnet und begutachtete den Schaden. Das rotblonde Haar des Koreaners sah aus wie ein überdimensioniertes Warnicon, das auf seinem Schädel aufleuchtete.

Kirby schaute auf die leere Kommunikationskonsole, an der bis vor kurzem Tasha Yost gesessen hatte. Die Freundin war fort, entführt von den Assassinen.

Konzentriere dich, Kirby. Um Tasha kümmern sich andere. Jayden bekommt das hin.

Gemeinsam mit Aliou arbeitete sie weiter. Im hinteren Bereich der Kommandobrücke standen zwei zitternde Wissenschaftler an den Trümmern, die einst Konsolen gewesen waren. Drei andere lagen am Boden. Aus der Brust eines Mannes ragte ein Metallfragment, zwei Frauen lagen daneben in der Lache seines Blutes.

Alle drei tot.

Kirby drängte ihre Emotionen tief in ihr Innerstes zurück. Jetzt galt es, Stärke zu zeigen. Die Crew benötigte keinen Menschen mit Fehlern und Schwächen, der an der Spitze stand, sondern eine unbeugsame Kämpferin. Sie gab sich selbst ein paar Sekunden Zeit, atmete tief durch. „Czem, ich benötige einen Status von Ihnen, sofort.“

„Die Navigation ist ausgefallen“, sagte er. „Wir trudeln. Sowohl das Interlink- als auch das Phasenmodul sind laut meiner Anzeigen zerstört. Genaueres kann ich aber nicht sagen, da der Datenstrom zum Maschinenraum abgerissen ist.“

Bai Yun hob zögerlich den Finger. „Ma’am.“

„Sprechen Sie.“

„Unsere Außensensoren sind ausgefallen, daher kann ich nicht sagen, wo wir uns befinden. Allerdings funktioniert der Annäherungsalarm. Da er nicht aktiv ist, befindet sich kein fester Körper in der Nähe.“

„Gute Arbeit.“ Sie nickte ihm anerkennend zu. „Also kein Planet oder Asteroiden, die uns gefährlich werden können. Ganz zu schweigen von einem feindlichen Schiff.“

„Allerdings ...“

„Ja?“

„Ich konnte die internen Sensoren für einige Minuten wieder online schalten – bevor sie endgültig ausfielen. Die Ummantelung einer Fusionsbatterie weißt Mikroperforationen auf. Es entweicht erste Strahlung im Maschinenraum.“

Kirby nahm die Worte gelassen auf, obgleich sie wusste, was das bedeutete. Ein Strahlungsleck konnte das gesamte Deck entvölkern. „Können wir dort jemanden erreichen?“

Ein Kopfschütteln.

„Also schön. Aliou, Sie übernehmen das Kommando, koordinieren Sie alles. Bai Yun, Sie sind zuständig für die internen Sensoren und die Kommunikation. Was auch immer Sie tun, wen auch immer Sie hinzuziehen müssen, tun Sie es.“

„Aye, Ma’am.“

„Czem, Sie übernehmen den Antrieb und – falls irgendwie möglich – die Defensivsysteme.“

„Kein Problem.“

Bei so viel Optimismus musste Kirby lächeln. Es verschwand jedoch sofort wieder, als sie zu Sienna herabsah. „Und Sie, Commander, bleiben gefälligst am Leben.“

„Und was, wenn ich fragen darf, haben Sie vor, Captain?“ Alious Stimme war wie immer ruhig und kontrolliert. Sie bewunderte ihn dafür. „Ich, I.O., begebe mich in den Maschinenraum. William benötigt zweifellos Hilfe.“

„Die Strahlung ...“

„Ich bin vorsichtig. Sie kennen mich doch.“

„Eben.“

Sie schenkte ihm ein kurzes Grinsen, dann rannte sie davon. Glücklicherweise ließ sich das Kommandobrückenschott öffnen. Dahinter aber wurde das ganze Ausmaß der Zerstörung deutlich. Kirby fragte sich, wie das Schiff dieses Chaos überhaupt hatte überstehen können, während sie zwischen Trümmern, Verwundeten und Toten in Richtung Maschinenraum rannte.

 

*

 

Sol-System, Terra, 08. März 2257, 10:55 Uhr

 

(vor zehn Jahren)

 

„Das ist ... unglaublich.“ Martin zog sie in eine Umarmung. Sein Kuss war so wild und voller Energie, dass Kirby sich wünschte, es ihm nicht am Strand erzählt zu haben.

Gleichzeitig war es die beste Kulisse für etwas Derartiges. Die Wellen brandeten sanft gegen die Küste, im Hintergrund zogen Seeschwalben ihre Kreise. Der Geruch nach Salz und Tang lag in der Luft.

„Eine Professur mit vierundzwanzig.“ Martin ließ ihr einen Moment Zeit, Atem zu schöpfen. „Das ist großartig. Ich wusste schon immer, dass du etwas Besonderes bist.“

Wie er so dastand und auf sie herabblickte, fühlte Kirby Wärme in ihrer Brust emporsteigen. Sein dunkles Haar wurde vom Wind zerzaust, der Dreitagebart verlieh ihm einen verwegenen maskulinen Touch, die braunen Augen schauten sanft in die Welt.

Die perfekte Mischung.

Wieder küsste er sie stürmisch. „Du als erfolgreiche Mathematik-Professorin an der Akademie der Space Navy und ich im Ingenieursbüro der Schiffskonstruktion. Das ist so ... wer hätte das gedacht? Es fügt sich alles. Wir können zwei Jahre lang arbeiten, dann das erste Kind ...“

Er begann damit, eine rosige Zukunft zu malen. Das Bild gefiel Kirby – mit einigen wenigen Abstrichen. Martin war es sehr wichtig, dass ihr Nachwuchs die besten Genresequenzierungen erhielten, die erhältlich waren. Sie sollten schön sein und intelligent und ... perfekt.

Aber darüber reden wir noch einmal, dachte sie. Pläne lassen sich anpassen.

Sie ließ sich in den Moment fallen.

Weitere Küsse folgten, und am Ende lagen sie kichernd im Sand, eng umschlungen, und scherten sich nicht um die pikierten Blicke der Spaziergänger. Immerhin trugen sie noch Kleidung. Leider.

Erst als die Sonne hinter dem Horizont versank, schlenderten sie gemütlich zu ihrem Hotel. Es war ein moderner Glasbau, der von Antigraveinheiten über dem Meeresspiegel gehalten wurde. Stahlseile vertäuten das Gebäude mit dem felsigen Meereskliff. Ein breiter Gang führte durch das Riff ins Innere. Wie Kirby gehofft hatte, begann es kurz nach ihrer Rückkehr zu stürmen.

Die gesamte Front der Suite – die sie für eine Woche gemietet hatten – war komplett verglast und gab den Blick auf die Wellen frei, die immer wieder gegen das Gebäude schlugen. Es blitzte und donnerte.

Sie nahmen sich nicht einmal die Zeit, ihre Kleidung vollständig abzustreifen und fielen wie zwei ausgehungerte Teenager übereinander her. Kirby riss Martins Hemd auf, die Knöpfe flogen zu allen Seiten davon. Sie bedeckte seine Brust mit Küssen und glitt dann tiefer. Er stöhne wohlig auf.

Während Blitz und Donner miteinander verschmolzen, lagen sie auf dem dicken Teppichboden und taten es den Gezeiten gleich.

Befreit und entspannt gleichermaßen schliefen sie ineinander gekuschelt ein.

Es war ein beständiger Signalton, der sie aus dem Schlaf riss. Martin rollte sich einfach zur Seite und murmelte etwas, doch sie konnte das Geräusch nicht ignorieren. Ihr Hand-Com war so geschaltet, dass lediglich Prioritätssignale durchkamen. Nackt und müde stapfte sie zu dem Glastisch vor der Medienwand.

Die dünne Touch-Fläche floss förmlich auf ihren linken Handrücken. Die ID ließ sie seufzend die Augen schließen. Warum bin ich nicht einfach liegen geblieben? „Mum, wir hatten doch vereinbart, dass Martin und ich nur im Notfall gestört werden.“

„Spreche ich mit Kristen Belflair?“

Die Stimme war ihr unbekannt. „Wer sind Sie, wie kommen Sie an die ID meiner Mutter?“

Ein Räuspern erklang. „Mein Name ist Doktor Jean Raspier, Arzt im orbitalen Space-Navy-Hospital. Spreche ich mit Kristen Belflair?“

„Ja.“ Mehr brachte sie nicht heraus. Es war kein klarer Gedanke, der sich manifestierte, kein echtes Wissen, lediglich ein Gefühl. Etwas war geschehen. Etwas Schlimmes.

„Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass es um 17:10 Solarer Standardzeit zu einem Gleiterunfall gekommen ist. Eine Orbitalfähre wich vom Leitstrahl ab, trudelte in die Atmosphäre und explodierte. An Bord befanden sich Katja und Oliver Belflair sowie deren Tochter Franziska und ihr Sohn.“

Die Worte hingen in der Luft, während die Zeit zu gefrieren schien. Kirby sah sich selbst dort stehen, hörte, wie noch mehr Worte aus dem Aufnahmefeld drangen. Das Gewitter war vorübergezogen, lediglich Regentropfen prasselten weiterhin sanft gegen die Scheibe.

Gerüche, Geräusche, alles umgab sie wie eine dumpfe Glocke.

Ihre Mutter, ihr Vater, ihre Schwester und ihr Neffe hatten schon lange die Orbitalplattform besuchen wollen.

Ihr Neffe liebte den Weltraum, wollte mit seinen elf Jahren später unbedingt zur Space Navy, um ein berühmter Captain zu werden, der heldenhaft die Solare Union beschützte. Nächtelang lag er wach und starrte zu den Sternen, verschlang jeden Science-Fiction-Roman, als sei er eine Süßigkeit.

Kirby stand einfach da, konnte sich nicht bewegen. Tränen rannen heiß über ihre Wangen.

Irgendwann, der Morgen graute bereits, erwachte Martin.

 

Acht Wochen später schloss sich die Tür zu ihrem Appartement mit einem pneumatischen und endgültigen Zischen. Kirby hatte es nicht geschafft, die Trauer zu überwinden. Nicht schnell genug jedenfalls. Martin hatte ihr eine Woche gegönnt, in der er liebevoll und zärtlich gewesen war. In der zweiten hatte er Ratschläge erteilt, wie sie wieder zu sich selbst finden könnte. Die Ungeduld kam in der dritten Woche. Er sprach von Plänen, die sie langsam anpacken mussten.

Doch Kirby hatte keine Energie mehr. Ihr gesamtes Leben war von einem Moment zum nächsten aller Fröhlichkeit beraubt worden. Grau überdeckte Grau. Jede Armbewegung war schwer. Oftmals lag sie einfach nur auf der Couch, die Musik spielte im Hintergrund, die Zeit verstrich. Minuten wurden zu Stunden, ein bedeutungsloses Einerlei an Sinneseindrücken.

Irgendwann beschaffte sie sich die Akten des Vorfalls. Ein simpler Software-Bug hatte die Katastrophe ausgelöst. Sie wollte jemandem die Schuld geben, doch da war niemand. Über Kontakte verschaffte sie sich Zugang zu der Software und machte den Programmierer ausfindig. Ein junger Mann, der in Neu Berlin arbeitete.

Sie wollte ihn zur Rede stellen, suchte ihn in seiner Firma auf. Doch am Ende musste sie begreifen, dass niemand etwas Derartiges hätte voraussehen können. Der junge Mann zerfleischte sich selbst, machte sich Vorwürfe, obgleich er übermüdet gewesen war. Die Firma erwartete Überstunden. Und so hätte sie weiter nach dem nächsten Verantwortlichen suchen können. Und dem nächsten. Und dem nächsten.

Stattdessen ließ sie los. Kirby taumelte von einem Tag zum nächsten. Die Professur an der Akademie wurde anderweitig vergeben, da sie nicht zur Verfügung stand. Geld war kein Problem, ihr Konto war voll, doch die Energie wollte nicht zurückkehren. Der Sinn in allem war fort.

Ob sie hier war oder nicht, machte keinen Unterschied. Sie war allein. Irgendwann stieg sie einfach in ein Shuttle, aktivierte den Zufallsmodus und ließ sich irgendwohin fliegen. Es war ein sonniger Tag in der Zielstadt. Nach einem Spaziergang blickte sie auf und erkannte den Eiffelturm.

Paris.

Sie wanderte an der Seine entlang, schaute aufs Wasser und sog den Duft des erwachenden Sommers tief in ihre Lunge.

Schließlich sank sie auf einer Bank nieder. Menschen gingen an ihr vorbei, alleine oder zu zweit. Familien alberten herum, Eltern schimpften oder lachten mit ihren Kindern. Gravradfahrer schlängelten sich durch die Menge.

Es war der Tag, an dem Kristen – Kirby – Belflair auf eine kleine energiegeladene japanische Frau traf. Eine Begegnung, die ihr Leben für immer verändern sollte.

 

*

 

LK JAYDEN CROSS, Status: unbekannt. Ort: unbekannt. Datum: unbekannt

 

Ich werde alt.

Kirby zog sich aus dem Verbindungsschacht. Der Lift auf Höhe des Maschinendecks war ausgefallen, die Schotts blockiert. Die einzige Möglichkeit, ihr Ziel zu erreichen, waren die Wartungsschächte gewesen, die die gesamte JAYDEN CROSS durchzogen.

Vor dem Panzerschott des Maschinenraums stand bereits ein Mann. Er trug einen dunkel schattierten Skinsuit, eine Spezialanfertigung, wie Kirby erkannte. „Sie stecken voller Überraschungen.“