Die Erzählung vom tumben Hreiðar und zwei weitere Erzählungen
Isländersagas
Herausgegeben von Klaus Böldl, Andreas Vollmer und Julia Zernack
Aus dem Altisländischen von Thomas Esser
Fischer e-books
Mit einer Einleitung von Thomas Esser
Mit einem Vorwort der Herausgeber
Mit einer Faksimile der mittelalterlichen Handschrift
Mit einem Glossar
Klaus Böldl debütierte 1997 mit dem Roman »Studie in Kristallbildung«. Seither erschienen u.a. das mit dem Brüder-Grimm-Preis sowie mit dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnete poetische Reisebuch »Die fernen Inseln« (2004) und der Roman »Der nächtliche Lehrer« (2010). Klaus Böldl ist Professor für skandinavische Kultur- und Literaturgeschichte des Mittelalters an der Christian-Albrechts-Universität Kiel.
Andreas Vollmer war Lektor für Isländisch an der Humboldt-Universität zu
Berlin und übersetzt isländische Literatur. In der Mediävistik beschäftigen
ihn Fragen der Überlieferung und Edition von mittelalterlichen Texten.
Julia Zernack ist Professorin für Skandinavistik an der Johann Wolfgang Goethe-
Universität in Frankfurt. Ihre Forschungsinteressen gelten unter anderem der mittelalterlichen Literatur Skandinaviens und Islands sowie ihrem Nachleben in der Neuzeit.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Isländische National- und Universitätsbibliothek Landsbókasafn Íslands, Reykjavík, Island sowie dem Handschrifteninstitut Stofnun Árna Magnússonar í íslenskum fræðum, Reykjavík, Ísland.
Karten Peter Palm, Berlin
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Der Verlag dankt für die großzügige Förderung durch Sagenhaftes Island sowie durch die Kunststiftung NRW, Düsseldorf, in Kooperation mit dem Europäischen Übersetzer-Kollegium in Straelen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
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ISBN 978-3-10-401680-1
Die Isländersagas (Íslendingasögur) sind umfangreiche Prosaerzählungen in altisländischer Sprache, entstanden im 13. und 14. Jahrhundert. Sie gelten als der wichtigste Beitrag Islands zur Weltliteratur und sind in viele Sprachen übersetzt worden, mehrfach auch ins Deutsche. Die vorliegende Ausgabe präsentiert eine breite Auswahl dieser Sagas in neuen deutschen Übertragungen, ergänzt durch eine Reihe thematisch und stilistisch verwandter Erzählungen (þættir) aus derselben Epoche. In ihrer novellenhaften Kürze und Pointiertheit legen sie zusammen mit den Isländersagas in eindrucksvoller Weise Zeugnis ab von der im Mittelalter einzigartigen Erzählkunst Islands.
Viele Übersetzer haben zum Entstehen der neuen Ausgabe beigetragen. Wenn die Übertragungen dadurch einen je individuellen Ton bekommen haben, dann ist dies durchaus beabsichtigt. Denn die Originaltexte haben bei allen Gemeinsamkeiten doch immer eine deutlich eigene Prägung, die auch in der Übersetzung noch durchscheint. Damit die Sagas als literarische Kunstwerke für sich wirken können, sollten sie von allen erläuternden Zusätzen möglichst frei bleiben. Für das Verständnis unverzichtbare Anmerkungen der Übersetzer sowie Karten zur geographischen Orientierung finden sich in einem Anhang. Den größeren kultur- und literaturgeschichtlichen Zusammenhang erschließt der Begleitband.
April 2011
Die Herausgeber
Hreiðars þáttr heimska
Aus dem Altisländischen
und mit einer Einleitung
von Thomas Esser
Die erste Seite der Erzählung vom tumbem Hreiðar in einer Handschrift vom Ende des 17. Jahrhunderts. Auch in anderen Handschriften erscheinen in den Binnenfeldern der Initialen zu dieser Zeit gelegentlich Gesichter.
Trotz seiner großen Kraft und Ausdauer hat der Isländer Hreiðar ein kindliches Gemüt. Kaum kann er sein Leben ohne den Beistand seines Bruders, eines Gefolgsmanns des norwegischen Königs, meistern. Diese Charakteristik Hreiðars macht sich die kleine humoristische Erzählung über ihn zunutze: Sie lässt den Isländer in Begleitung seines Bruders an den Königshof gelangen, wo er wegen seiner Art dem Spott und den Anfeindungen der Gefolgsleute ausgesetzt ist. Auch die Gemüter der beiden Könige, die zu jener Zeit über Norwegen herrschen, scheiden sich an seiner Person: Magnús der Gute ist Hreiðar wohlgesinnt und will ihn vor ihm selbst schützen. Dagegen trachtet Harald der Harte Hreiðar nach dem Leben, nachdem der Isländer einen seiner Gefolgsmänner getötet und den König selbst beleidigt hat. So bringt die Anwesenheit des dümmlichen isländischen Bauern die Gegensätze zwischen den Angehörigen des norwegischen Königshofs erst richtig hervor.
Die Erzählung von Þorvald Tasaldi schildert die missionarische Tätigkeit von König Ólaf Tryggvason. Þorvald kommt als Heide nach Norwegen und lässt sich auf Geheiß des Königs taufen. Ein missgünstiger Gefolgsmann verleumdet den Isländer beim König, und Þorvald wird auf eine gefährliche Mission geschickt: Er soll einen mächtigen Bauern dazu bringen, das Christentum anzunehmen. Von den vielen Männern, die der König schon zu dem Bauern geschickt hat, ist kein Einziger je zurückgekehrt …
Bei der Erzählung von Ögmund Dytt handelt es sich eigentlich um zwei Erzählungen, die durch ein gemeinsames Figureninventar zusammengehalten werden. Der Isländer Ögmund kommt nach Norwegen, wo er sich gleich den Unmut eines Gefolgsmannes von Jarl Hákon zuzieht. Der Gefolgsmann rächt sich für den durch Ögmund entstandenen Schaden, indem er Ögmund bewusstlos schlägt. Nach einigem Zögern entschließt sich Ögmund, den Fleck auf der Ehre seiner Familie abzuwaschen. Dafür leiht er sich den auffälligen Mantel Gunnars, den er zufällig getroffen hat. In diesem Mantel führt Ögmund die Rache aus, so dass Gunnar von allen für den Täter gehalten wird. Vor der Rache der Königsleute flieht Gunnar nach Schweden. Dort findet er Unterschlupf bei einer Freyspriesterin, die er bei heidnischen Opfern und Kultumzügen unterstützt. Schließlich halten die Schweden Gunnar selbst für Frey, und Gunnar interpretiert die Rolle auf seine Weise.
Ein Mann hieß Þórð, er war ein Sohn des Þorgrím, dessen Vater jener Hreiðar war, den Glúm erschlug. Þórð war ein kleiner und gutaussehender Mann. Er hatte einen Bruder namens Hreiðar, ein hässlicher Mann, der wegen seines geringen Verstandes kaum dazu in der Lage war, für sich selbst zu sorgen. Er war ein sehr flinker und kräftiger Mann mit einem umgänglichen Wesen und hielt sich immerzu daheim auf. Þórð fuhr zur See und war ein Gefolgsmann des Königs Magnús und stand in dessen Gunst.
Eines Tages, als Þórð sein Schiff im Eyjafjord zum Auslaufen klarmacht, kam sein Bruder Hreiðar dorthin. Als Þórð ihn erblickt, fragt er ihn, warum er hergekommen sei.
Hreiðar antwortet: »Wär ich nicht, wenn ich nicht ein wichtiges Anliegen hätte.«
»Was ist es?«, fragt Þórð.
»Ich will nach Norwegen segeln«, sagt Hreiðar.
Þórð sprach: »Ich fürchte, du eignest dich nicht als Seefahrer. Lieber will ich dir das Erbe unseres Vaters anvertrauen. Das ist ein doppelt so großes Vermögen, wie ich auf meinen Seefahrten erwerbe.«
»Da wäre ich schön blöd«, erwidert er, »wenn ich mich auf so eine ungleiche Teilung einließe. Da würde ich mich doch selbst aufgeben und auf deinen Beistand verzichten. Dann wird jeder Mann mir unser Geld aus dem Kreuz leiern, nur weil ich keine Ahnung habe, wie man es richtig einsetzt. Daran kann dir auch nicht gelegen sein, dass ich die Leute verprügele oder ihnen feindlich gesinnt bin, die auf mein Geld aus sind, und dann würde ich wegen meiner Taten verprügelt oder übel zugerichtet werden. Außerdem ist es sicher, dass du mich nur schwer davon abbringen kannst, wenn ich nun einmal fahren will.«
»Na schön«, entgegnet Þórð, »aber erzähle niemandem von deiner Reise.« Das versprach er.
Und sobald sie auseinandergegangen waren, erzählte Hreiðar jedem, der es hören wollte, dass er vorhabe, mit seinem Bruder zur See zu fahren. Alle machten Þórð Vorhaltungen, weil er einen solchen Trottel mit nach Norwegen nehmen wollte.
Als sie reisefertig sind, stechen sie in See und haben eine gute Überfahrt. Sie kommen nach Bergen, und Þórð erkundigt sich gleich nach dem König. Man erzählte ihm, dass König Magnús in der Stadt war und kurz zuvor angekommen sei, und an ebenjenem Tag wolle er nicht gestört werden, da er meinte, er müsse sich ausruhen, wo er doch gerade erst angekommen sei.
Die Leute bemerkten bald, dass Hreiðar sich von anderen Männern unterschied. Er war groß, hässlich und zeigte sich sehr geschwätzig gegenüber allen, die er kennenlernte.
Früh am Morgen, ehe die Männer erwachten, steht Hreiðar auf und ruft: »Aufwachen, Bruder! Wenig weiß der, der schläft. Ich habe Neuigkeiten: ich habe vorhin ein merkwürdiges Geräusch gehört.«
»Wonach klang es?«, fragt Þórð.
»Nach einem Lebewesen«, erzählt Hreiðar, »und es war laut, aber ich weiß nicht, was für ein Geräusch das war.«
»Tu nicht so verwundert«, erwidert Þórð, »das wird das Hornsignal gewesen sein.«
»Was hat das zu bedeuten?«, erkundigt sich Hreiðar.
Þórð antwortet: »Es wird Signal gegeben, wenn man sich versammeln oder ein Schiff an Land ziehen soll.«
»Wozu ist die Versammlung gut?«, fragt Hreiðar.
»Dort werden immer schwierige Rechtssachen entschieden«, erklärt Þórð, »oder Dinge kundgetan, von denen der König meint, die Allgemeinheit müsse sie erfahren.«
»Ist der König jetzt auch bei der Versammlung?«, fragt Hreiðar.
»Das glaube ich bestimmt«, antwortet Þórð. »Dann muss ich dorthin«, sagt Hreiðar, »weil ich am liebsten dorthin gehe, wo ich die meisten Leute auf einmal sehen kann.«
»Dann wollen wir verschiedene Dinge«, erwidert Þórð.
»Ich halte es für besser, wenn du nirgendwo hingehst, wo viele Menschen sind. Ich werde keinesfalls dorthin gehen.« »Es nützt nichts, so zu reden«, sagt Hreiðar, »wir müssen beide dorthin. Das hältst du doch auch für besser, als wenn ich allein gehe, und du kannst mich davon sowieso nicht abhalten.«
Hreiðar rennt fort. Und Þórð sieht da ein, dass er auch dorthin gehen muss, und setzt ihm nach, aber Hreiðar lief weit voraus, und es war ein großer Abstand zwischen ihnen. Als Hreiðar bemerkt, dass Þórð langsam ging, sagte er: »Es ist doch wahr, dass es schlecht ist, klein zu sein. Dann hat man fast keine Kraft. Man könnte zwar Schnelligkeit haben, aber mir scheint, davon hast du auch nicht viel abbekommen. Es wäre nicht schlecht für dich, wenn du weniger gut aussähest, aber dafür mit anderen Männern Schritt halten könntest.«
Þórð antwortete: »Ich weiß nicht, ob meine Schwäche schlimmer für mich ist als deine Stärke für dich.«
»Lass uns einander an die Hand nehmen, Bruder«, sagte Hreiðar. Sie nehmen sich an der Hand, und so gehen sie eine Weile weiter. Schließlich schläft Þórðs Hand ein, und er lässt los, weil ihm solche Albernheiten, wie sich an den Händen zu halten, zuwider waren. Hreiðar schreitet voran, bis er auf einer Anhöhe stehenbleibt und gebannt hinunterstarrt. Er sieht von dort die Menschenmenge, an der Stelle, wo die Versammlung stattfand.
Als Þórð bei ihm angelangt war, sprach er: »Wir gehen jetzt zusammen dorthin, Bruder.« Und Hreiðar blieb bei ihm.