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Titelbild: [„Der Maschinenmann“]

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ISBN 978-3-937656-03-8 (Buch)

ISBN 978-3-937656-02-1 (E-Book)

INHALT

Theodor Lessing: Untergang der Erde am Geist der Machteliten

Theodor Lessing: Untergang der Erde am Geist der Machteliten

Die vorliegende kleine Schrift – aus einem im Herbste 1914 zu Hannover gehaltenen akademischen Vortrage hervorgegangen – ist aus jener Stimmung von Schmerz, Scham und tiefem Menschenekel geboren, die eine ganz kleine Schar Einsamer und Unzeitgemäßer aus allen Ländern Europas zur Notbruderschaft zusammenschmiedete, in dem selben Augenblick, wo Europas Menschen, – allen voran die ‚führenden Geister’ –, am großen Flammenrausch des Vaterlandes zu Verzückungen politischen Machtwillens entbrannten. (Winter 1914)

I. Die Bevölkerungsfrage

Schätzen wir die Anzahl aller Menschen auf Erden auf 1600 Millionen,1 so leben davon 900 Millionen, also mehr als die Hälfte, in Asien, obwohl das kleine Europa etwa fünf Mal so dicht bevölkert ist, wie das weit geräumigere Morgenland. Mit einem nicht allzu kühnen Bilde könnte man sagen, daß unser Weltteil zu Asien sich verhalte, wie das Gehirn zum übrigen Leibe. Und wie das Gehirn droben im Haupte frei leicht und selbstherrlich die ganze schwere Körpermasse zu lenken berufen ist, so scheint dieses kleine vorgeschobene Inselchen Europa, das an dem ungeheuren Rumpfe der alten Erde, ein winziges Köpfchen auf massigem Körper, befestigt liegt, dennoch befugt, die Herrschaft über alle Menschenwelt anzutreten. Nicht nur Wissen und Können, Komfort, Zivilisation, Maschinenwesen, sondern im weitesten Sinn alles das, was man mit dem zweifelhaften Worte Kultur bezeichnet, scheint nur dem europäischen Menschen, dessen Sprosse ja auch der amerikanische und australische Mensch ist, scheint nur dem weißhäutigen Menschen von mittelländischer Rasse eigentümlich zu sein. Dieser „kaukasische Mensch“ steht seit dreihundert Jahren im Begriffe, die ganze Erde zu unterwerfen und hat seit hundert Jahren diese Vorherrschaft der ganzen Erde fühlbar gemacht. Im Jahre 1800 gab es auf Erden etwa 900 Millionen Menschen, von denen 175 Millionen europäischer Abkunft waren. Gegenwärtig, 1914, gibt es etwa 1600 Millionen, von denen etwa 520 Millionen europäischen Blutes sind. Dieses besagt, daß das Menschengeschlecht innerhalb eines Jahrhunderts beinahe sich verdoppelt hat, daß aber diese Verdoppelung im wesentlichen nur auf Rechnung der europäischen Völker zu setzen ist. Denn während vor hundert Jahren etwa ein Sechstel der Menschheit europäisch war, ist es heute mehr als ein Drittel.

Hier nun bleibe dahingestellt, welche Folgen dies Bevölkerungsgesetz für die Zukunft der Erdbewohner haben mag. Da die Erde 135 Millionen Quadratkilometer Flächenraum darbietet, so würde, wenn die Vermehrung der europäischen Menschen in künftigen Jahrhunderten genau so weiterginge, wie sie im letzten Jahrhundert vor sich gegangen ist, in etwa tausend Jahren auf jeden Quadratmeter Erdbodens ein europäischer Mensch zu sitzen kommen. – (Nähme man die nichteuropäischen Menschen hinzu, so säße auf jedem Quadratzentimeter Bodens ein sogenannter Mensch.) –

II. Kampf um die Macht

Die nationalen Ideale europäischer Völker und Herrscher, in deren grauenhaftem Machtkampfe Europas zartere Geistigkeit verbluten wird, müssen künftig diese Massengewalt und Massenvermehrung begünstigen. Denn nur dasjenige Volk kann Sieger bleiben, welches die meisten Söhne in die Welt setzt, die meisten Kolonien begründet und mit seiner Sprache, seinen Landessitten, seiner Menschenart den größten Teil der Erdoberfläche an sich reißt und übermächtigt; kraft seiner Kraft und kraft jener Macht- oder Erfolgsentscheide, die jenseits der ideellen Probleme des Wertes verharren. – Dem Philosophen, der als auswertender Geist keine politischen Ideale zu verfechten hat, ja den Begriff politisches Ideal als so sinnlos-widerspruchsvoll empfindet, wie den verwandten Begriff einer ‚normativen Staatsgewalt’, möge man zu gute halten, daß er Zeitalter erhofft, wo Gewissen und Seele des Einzelnen nicht als ‚Kanonenfutter für des Machtwahns abstrakte Illusionen’, oder, wie man gegenwärtig sagt, als ‚Menschenmaterial für das Reichsgeschäft’ in die Welt wissenden Schmerzes hineingeboren wird. So sei auch dies dahingestellt, ob wirklich die Vorherrschaft dessen, was wir Europäer Kultur nennen und mit edlen Worten als „Ideal“ und „sittliche Aufgabe“ der Staaten zu schildern lieben, ob sie wirklich das Ziel, sei es das natürliche, sei es das vernunftgebotene Ziel der Geschichte ist. Gleicht Europa dem Gehirn, das große Asien dem schweren unbewegten Leibe der Erde, dann scheint im Augenblick (Dezember 1914) das Apostelwort zu gelten: ‚Ihr seid das Salz der Erde. Wo nun das Salz dumm wird, womit soll man salzen? Es ist zu nichts hinfort nütze, denn, daß man es hinaus schütte und lasse es die Leute zertreten.’

Ein Weltbrand ist entfacht! Die großen wie die kleinen Staaten Europas entpuppen sich als ebenso viele machtwillige Bestien, deren jede hinter den Wandelbildern Kultur und Idee versteckt, ein möglichst großes Stück Erdoberfläche an sich reißen und erraffen will, deren jede immer den anderen als den Störenfried, den Menschheitsfeind empfindet und vor der großen Fabelerzählerin Geschichte anzuschwärzen versucht. Ausgehungerten, blind rasenden Wölfen gleich, jeder vor jedem bangend, haben sie sich so in einander festgebissen, daß erst die Erschöpfung aller oder jener Zufall, den wir von nachhinein ‚historisches Fatum’ nennen, dem Verbrechen des Menschen am Menschen, dem Mißbrauch des Menschen durch den Menschen das Ende bereiten wird.

Wahrlich, ein Weltbrand ist entfacht, der nicht etwa Jahre, auch nicht Jahrzehnte, der ein ganzes Jahrhundert schwälen und fortlodern muß, als ob nur auf Trümmern Europas schließlich erblühen könnte jenes Traumland der Bruderliebe, davon Buddha sagt: ‚Wer ist der Feind? Wer der Bruder? âtman ist nicht in Mir und nicht in Euch, sondern Wir in Ihm.’ – Der Historiker aber, der den praktischen, wirklichen Menschen kennt und seine sogenannte Weltgeschichte, ach! er kennt auch des Menschen Unheilbarkeit und Unlenkbarkeit durch jede andere Gewalt als durch die der nackten Not und brutalen Notwendigkeit. Er blickt in Europas Zukunft, wie Johannes auf Patmos in das Dämmern apokalyptischer Gräuel. Asiens Stern sieht er im Steigen. Und schon aus naher Gegenwart könnte statt der geträumten Gehirnkultur Europas ein Wiedererwachen Asiens hervorblühn, als Wiedererwachen dunkel instinktiver, unergründlicher, elementarer Kräfte der Seele. Weil wir aber auf solche Wandlungen Europas gefaßt sein müssen, so müssen wir Asiens Seele kennen; anders und besser, als sie bis heute in Europa gekannt wird. Und dazu tut not, daß wir den Glauben ablegen, unsre europäischen Lebensformen seien die einzig möglichen, unsre Kultur sei die Kultur, unsre Religion die Religion und unsre Berufung auf Erden sei es, 900 Millionen Menschen, die vollkommen anders und viel lebensnäher denken und fühlen als wir, zu unsrer Logik, unsrer Politik, unsrer Wissenschaft und angebeteten Kunst zu erziehen.

III. Der Mensch in Asien

Wir treten in eine Welt, wo wir den Europäer vergessen und uns daran erinnern müssen, daß das schöpferische Leben andere Fragen birgt, als Fragen nach Völkerwachstum und Politik, andere Werte als die der Tüchtigkeit, der Leistung, des Wissens oder Könnens. Um die Geisteswelt des Morgenlandes mit dem Gefühle zu begreifen, müssen wir festhalten, daß alle Mystik, auch die der christlichen Kirche, ihre Wurzeln in dunkle Muttergründe Asiens senkt. Wenn wir im Stolz auf gesunde Nüchternheit wissender Verstandesfeinung den europäischen Menschen für der Erde Lichtbringer halten, so liegt im Glauben asiatischer Menschheit die Sache umgekehrt. Das Wort Europa kommt von dem assyrischen Irib oder Ereb und ist dasselbe Wort, welches im Griechischen der Nachtwelt, dem Erebos seinen Namen gegeben hat. Nach Meinung der asiatischen Völker heißen wir die Finsteren; unser Erdteil der finstere Erdteil. Die höheren Bewußtseinskräfte des immer geselligen, immer zwischenmenschlichen Verstandes sind der Notausgang langer Dunkelheiten. Wir waren im Gegensatz zu jenen inmitten farbiger Lichtnatur lebenden Menschen der tropischen Sonnenländer seit Jahrhunderten in Rauch und Ruß, hinter Mauern und Steinen eingekäfigt. Hunderttausende sahen das dunkle Jahr entlang keine Wiese, keinen Berg, keinen Wald. Die Kälte, Nässe, Feuchte des Klimas, das unbeständige, ungesunde, unwirtliche Wetter der sogenannt gemäßigten Zone hat unser Innenleben gestaltet, hat es geweckt und wach gemacht, so wie das Tier wach und erfinderisch wird, wenn man es den Gefahren der Not preisgibt. Dagegen scheint es, als ob jene Kinder einer geneigteren Natur noch im engeren Zusammenhang mit Tier und Pflanze, Wolke und Wind verblieben sind und nicht gleich uns, kritisch-orientierend der Welt gegenüberstehn. Die elementarisch-miterlebende Erfassung der Gegenwelt durch Form und Gestalt, d. h. durch Mitahmen ihrer Lebensbewegungen, ursprünglicher als alles ethische oder logische Beurteilen, läßt den Menschen unmittelbarer das Wesen seiner Umwelt als sein eigenstes Leben verspüren, gleich wie einem Kinde die Welt, welche es wahrnimmt, nur ein Stück seines eigenen Lebens ist, oder das eigene Leben, ungesondert, unentfremdet noch in die Welt seiner Wahrnehmungen hineinfließt. Wir aber schritten abseits von Natur, da sie feindlich uns gegenübertrat, und wurden sekundäre Menschen in dem gleichen Sinne, in welchem Bewußtsein und Denken sekundär gegenüber den vorbewußten Erlebnissen sind. Ja oft scheint es, als ob die Menschen Asiens reichere Empfindungsweisen besäßen, Sinne, die durch einseitige Ausbildung denkend beurteilenden Intellektes allmählich entbehrlich geworden sind. Der weißhäutige Mensch wird in den Sprachen Indiens und Persiens der blasse oder abgeblaßte genannt, grad als wenn die braunen, schwarzen, gelben (Tagmenschen nennt sie die Anthropologie) ein ursprünglicherer Menschenschlag seien. Jener hat unter den glühenden Strahlen der Tropensonne Leben und Seele empfangen, dieser erhielt vom Vegetiren hinter steinerner Häuser Schranken: Geist und Bewußtheit. Wir, die blonden und blassen Völker, in sonnenarmen Ländern aus Frost und Nebel geboren, sind das Bewußtsein der Erde. Das ist unsere Tugend! Denn nur Not des herberen Kampfes hat aus überschwänglichem Erleben aller Lebensfülle Zucht und Berechnung, Vernunft und haushälterische Fürsorge hervorgepeitscht. Bemerken wir doch ähnlichen Unterschied innerhalb Europas zwischen den romanischen Völkern des Südens und uns germanischen Nordländern. Der südeuropäische Mensch, sinnenfroher, leichtlebiger, heißblütiger, mehr in Augenblick und Gegenwart lebendig, steht dem Mutterhause Asiens immer noch nah. Darum haben die besten Kenner Griechenlands, haben Hölderlin, Hamerling, Burkhardt, Nietzsche, die mächtige verhaltene Leidenschaft antiker Kunst aus ihrem asiatischen Ursprunge erklärt, während der rational bändigende, zielstrebige Geist der Ordnung, Apollons Mitgift, Europas eigenstes Wesen verkörpere. Aber unsre Tugend, ordnender Geist, ist zugleich auch Grenze; so wie Krankheit zwar eine Lebensstörung, aber zugleich das Mittel zur Überwindung dieser Lebensstörung ist. Wir haben uns aus dem Leben herausgegrübelt, die Nabelschnur zerreißend, die uns mit umfassenderen Gewalten jenseit von Bewußtseinswirklichkeit zusammenband. Asiens Völker dagegen wurzeln in unausmeßlichem Leben. Daher besitzen sie Fähigkeiten, die den europäischen Menschen so unbegreiflich anmuten, wie manche Sinne der Tiere, etwa wie die Fähigkeit der Schmetterlinge über viele Meilen hinweg sich durch Düfte zu verständigen oder wie die merkwürdige Gabe der Zugvögel, über Meere und Erdteile hin im Raume sich zurechtzufinden, dieselbe Palme in Ägypten, dieselbe Eiche im hannoverschen Land immer wieder aufsuchend, über tausende Meilen hin. – Die Geheimwissenschaften (Theurgie, Theosophie, Occultismus) entwickeln manche vitale Möglichkeiten der Seele, vor denen unsre große Gehirnkultur als vor unfaßbaren Rätseln steht. Samnyasi, Gosain, Soufi, Mahadma Indiens, sowie die Jünger der Yoggaphilosophie besitzen die Gabe, Herzschlag und Puls, Atem und Eingeweide vollkommen der Willkür menschlichen Willens zu unterstellen. Tage- ja wochenlang lassen sie sich lebendig eingraben, monatelang leben sie von einer Handvoll Reis oder Datteln, ja von ein paar Tropfen Wassers. Ihre Selbstbeherrschung im Ertragen freiwilliger Martern, ihre Verachtung des Lebens, Leidensfähigkeit und Todesbereitschaft übersteigt unsre europäischen Begriffe. Büßertaten und Selbstkasteiungen, die uns als Wahnsinn ansprechen und nur aus Krankheit und geistiger Umnachtung des Ich erklärlich scheinen, gehören in Asien zu täglichen Bußübungen. Taten der Selbstaufopferung, die in Europa kaum geglaubt werden, sind in China und Japan gewöhnliche Erscheinungen. Alles in allem lebt der Mensch Asiens in anderem Naturzusammenhange, näher der Scholle und Kräften der Scholle, einfältiger, sicherer, ja aus innerster Verwandtschaft wissender über vorbewußte Quellen, die das Leben lenken, wissender als wir mit unsrer Natur ökonomisierenden Wissenschaft und der stolzen Logik des Bewußtseins. Wohl denken wir über das Metaphysische, aber leben weniger Metaphysik, vielmehr ist das profane Europa eine einzige Selbstbezüglichkeit des Menschen. Hier wurde der Mensch Krone und Ziel alles Lebendigen. Des zum Zeichen pflanzte er, wohin er kommt, naturverachtend und naturübermächtigend, das Kreuz und das Anbild des aus Leiden vergeistigten Menschensohnes auf die Trümmer lebendiger Schöpfung.

IV. Die Hauptgeistesmächte Asiens

Es wäre jedoch eine falsche Verallgemeinerung, wenn wir die Geisteswelt Asiens als Einheit auffassen und schlechtweg der sogenannt europäischen Kultur entgegenstellen wollten.

Innerhalb Asiens sind wiederum verschiedene Kräfte, ungleiche Ideale am Werk. Der Brahmanismus mit 220 Millionen Anhängern; der Buddhismus mit 420 Millionen, der Ahnenkult des Shintoismus (sicherlich an 20 Millionen Anhänger zählend), diese eigentliche Religion Japans, welches Land der kluge Kopf Asiens ist, wie Indien sein großes mütterliches Herz; endlich der Islam mit 240 Millionen.

Betrachten wir das Wesen dieser vier größten asiatischen Geistesmächte.

1. Der sogenannte Brahmanismus – (bráhman, [Mana] ist das indische Wort für Sein, welches weder mit unserm Begriff Dasein, noch mit dem Begriffe Leben [átman] übereinkommt) – ist der ungeheuerste Naturkult, die gewaltigste Lebensreligion, die die Erde kennt. Eine Religion, vollkommen ohne Gottesbegriff und ohne Ethik, denn dort wo alles Lebendige als göttlich und gotterfüllt verehrt wird und das Leben in allen seinen Entäußerungen Gegenstand der Andacht ist, da gibt es keine sittlichen Wertleitern und logischen Rangstufen.

Unser deutsches Wort Gott kommt von Gut! – Gott, so nennen wir das Gute; und darin zeigt sich, daß christliche Religiosität eine sittliche Religiosität ist, oder, wie ich besser sagen könnte, eine Wertreligiosität!, das heißt eine Gläubigkeit, welche Normen und Ideale für Menschen aufstellt und über das Leben sittliche Urteile, das heißt, Schätzungen und Auswertungen, abzugeben trachtet. Aber neben und im Gegensatz zu allen Wertreligionen stehen Naturreligionen, welche nicht über das Leben normierend urteilen, sondern mit dem Leben Eines sind in einem tieferen Sinn, als die immer ethische und das heißt auch immer zwiespältige (dualistische) Religiosität europäischer Menschen.

Die Welt der Vielheit ist nur „Schleier der Maja.“ Hinter dem Bewußtseinsschleier ist alles Eines. Mensch kann zu Tier, Tier zu Mensch werden. Pflanze und Tier, Wind und Woge sind dem Morgenländer Schwester und Bruder. Als Gegenstand der Furcht und Ehrfurcht erfüllt ihn die unendliche Fruchtbarkeit des Lebens, die in allen nur möglichen, ewig wandelbar dahinfließenden und vor keiner Phantastik zurückschreckenden Formen und Gestalten verehrt und angebetet wird, in Affe und Schlange, Mangobaum und Dattelpalme, Lingam und Lotos, Fratze und Säule; am liebsten in ungeheuerlichen Götterbildern, die tausend Arme, tausend Köpfe, tausend Brüste haben, trächtig von Leben, strotzend von zeugenden Kräften des Lebens, so wie der Dschungel oder Urwald, der nahe den Tempeln solcher Götter liegt. Das sind fratzenhaft wüste Götter, die kein geringerer als Goethe mißverstand, weil er mit sittlich aesthetischem Maße Europas ihnen ebenso wenig nahen durfte, als einem Urwald von Menschenleibern, den der opale Pinsel des großen Rubens auf die Leinwand schmettert. Auch die Verehrung Kamas, – vermutlich Ursprung des Dionysosdienstes in Hellas –, Indiens Freudenkult und die Hingabe des Weibes aus religiösen Weihen, erklärt sich aus dieser Anbetung der ewigen lebendigen Fruchtbarkeit. Die Religion Brahmas kennt keinen sittlichen Imperativ, also keinen Dualismus. Eben darum (ich kann diesen Gedanken hier nicht begründend ausführen) bedarf sie jenes starren, ein für alle Mal beschlossenen Kastenwesens und Traditionalismus, welcher alle auswertende Einzelvernunft und ihr sittliches Pathos fraglos dahinlebenden Menschengeschlechtern vollkommen ersetzt.

Wenn man behauptet hat, daß Religion eine Angelegenheit der Einzelseele sei, Privatsache und allerpersönlichstes Leben, so gilt diese Behauptung streng genommen doch nur für die Naturtatsache Religion, für jene Allbeseelung, der aus Busch und Baum das Bild lebendiger Fülle wiederstrahlt, jenes Allerlebnis, welches Gefühl und Ahmung, den vorbewußten Muttergrund des Seelenlebens, zum Träger hat. Demgegenüber aber erzüchtet der Zusammenschluß der Menschen zur Gruppe, die Entstehung der Stadt, des Verkehrs, des Geldes, des Zwischenmenschlichen und Sozialen die Notwendigkeit eines Bruches in und mit der Natur, jenes Wertreich, welches wir Vernunft oder Sittlichkeit nennen. Erst das Gruppen- und Gemeinschaftsleben trägt über schnell dahinsterbenden Einzelwesen dieses Über- und Unpersönliche empor, das als Allgemeines und allen Gemeinsames die Einzelseele überdauert und verzehrt, den idealen Oberbau über allem Seelischen: den Geist. – Mit dem Geiste aber erblüht eine ganz andere Art von Religion, die universale Religion der sittlichen Bindung. Von diesem Wandel der Naturreligion und des mythischen Fühlens zu denkender und wertender Beurteilung der Welt zeugt die zweite der großen Geistesmächte Asiens, der Kultus Japans, dessen Staatswesen dem europäischen verwandt ist: der sogenannte Shintokult.

2. Shinto, auf deutsch etwa: Weg der Götter, ist die zur Staatenbildung günstigste, ich möchte sagen erzieherisch klügste Religiosität der Erde. Sie gründet auf Familiensinn und Gruppengefühlen. Nicht in der Natur, in Bäumen des Urwaldes, nicht in seltenen Tieren und Pflanzen, nicht in Gleichnissymbolen der schöpferischen Lebensfülle sucht sie den Gott, sondern, ohne Tempel und Pagode, im Menschengemüte, so innig-zart, daß des Christentums Sitte und Gewöhnung oft dagegen barbarisch anmuten. Sie weiht die Hütte des ärmsten Paria zum Tempel heiligen Gefühls. Da steht der kleine Hausaltar mit vielen Täfelchen und Papierstreifen, auf denen die Namen der Toten prangen, der Toten, welche nach dem Heimgang einen neuen Namen erhalten; da wird in silberner Kapsel die Nabelschnur verwahrt, die das Kind mit der Mutter verband; da verwahrt man Grabsteine der Ahnen, als das Heiligste, was das Gemüt kennt; und wir Europäer wissen nicht, was wir einem frommen Ostasiaten antun, wenn wir einen alten Stein umstürzen, den der Shintogläubige ebensowenig antasten darf, als der Chinese ein Stück bedruckten oder beschriebenen Papieres vernichten. –

3. Noch näher aber, ja am nächsten steht unserm europäischen Denken die dritte asiatische Geistesmacht, der Buddhismus, einem gereinigten Christentume so nahe verwandt, daß der Gedanke Wahrscheinlichkeit gewinnt, der in ihm den Mutterschoß des Christusglaubens sieht, ja mit annähernder Richtigkeit auch den Namen Christus vom indischen Krischna oder Schiwa herleitet. Denn die Kerngedanken Buddhas sind durchaus ethisch-dualistisch und der Buddhismus ist eine Wertreligion, die zum Brahmanismus gemeinsam mit dem Christentum in Gegensatz steht.

Denn während der Brahmane alle Formen und Gestalten für den Ausdruck des einen Brahma, ihre Vielheit und Unterschiedlichkeit aber für bloße Bewußtseinstäuschung und „Schleier der Maja“ hält, setzt der Buddhist wie der Christ Weltordnung und Weltziel zur Erklärung der Unterschiede ein und nennt die eine Lebensform „besser“ als die andere. Inmitten des ewig-wandelbaren Flusses des Lebendigen baut somit der Geist stolz und still am Felsen des Gesetzes: Buddhas oder Christus’ Anbild ruhig und wandellos erhöhend, inmitten des fruchtbar zeugenden Lebenselementes, welches der lebensnähere Brahmaglaube ausschließlich verherrlicht. Damit aber tritt der menschliche Gedanke aus dem Leben heraus, um zuletzt alles Leben in sich, als in sein „Nirvana“ wieder zurückzuschlürfen und „im Geiste zur Erfüllung zu bringen.“

Ich betrachte zwei Grundgedanken als das Wesentliche.

a) Zunächst den Gedanken des Karma. Jeder Lebenslauf wird vorbestimmt durch Blut und Same, vorbelastet durch Erbsünde und Erbschuld, vorentlastet durch Buße und Heiligkeit. Wir leben auf Erden Himmel und Höllen; ernten, was Vorgeschlechter in uns gesäet haben, säen, was Nachgeschlechter ernten müssen. Mag man das nun mit europäischer Naturwissenschaft an Hand Darwinischer Gesetze mit den Schlagworten Vererbung und Anpassung banaler und klarer machen; mag man die christlichen Mysterien tiefinnerer Gerechtigkeit oder geschichtlicher Nemesis oder mag man endlich die Aufforderung zu Askese und Heiligkeit darin suchen; Karma ist der Glaube, daß Natur (vom Menschen aus gesehen) ein Kleid ist, gewoben aus Tat. Gewesenes wirkt im Lebenden und Alles lebt in allen. Nicht wie der Brahmane glaubt unterschiedlos im ewigen Formenwechsel, sondern nach Gesetzen der Zucht, die dem Leben einen ‚Sinn’ geben. Also nicht ein kosmisches Allgefühl (wie im Brahm), sondern ein Sittliches wirkt in den Gläubigen Buddhas. –

b) Buddhas zweiter Kerngedanke ist der von der Wiedergeburt, nach Gezeiten äonenlanger Zwischenruhe in immer neuen Formen. Auch dieser Gedanke der Wiedergeburt ordnet sich dem sittlichen Ideale zu, da wir ja selber in der Hand haben, zu bestimmen, als was wir wiedergeboren werden. Wer sich über die gemeine Ordnung der Seelen hinauserzog, dem bleibt Natur die Wandlung in eine höhere Ordnung der Wesen schuldig; wer seine geistigen Keime vertrocknen oder verschütten läßt, dessen Los ist Versinken in das niedere Reich der elementarischen Kräfte; er mag als Blatt oder Blume, Käfer oder Kiesel weitervegetieren; ewiges Vergessen ist sein Teil, und seine Wiedergeburt als geistiges Wesen zu geistigem Werk ist auf so lange versperrt, bis auch sein Leben sich neu emporgearbeitet hat aus allverschlungenen Ketten pflanzlich-tierischer Existenzformen zu Gedanke und wertendem Geist. In ihren erhabensten Gebilden ist diese Geistesreligion Asiens so tiefsinnig, daß Schopenhauer vollkommen recht hat, von ihr weit eher noch als vom Brahmanismus zu sagen, daß es platte Geschmacklosigkeit sei, wenn wir Europäer christliche Missionen nach Indien schicken, um Brahmanen und Buddhisten zum Glauben an den dreieinigen Gott zu bekehren; sinnvoller scheine ihm, daß der Kaiser von Siam Missionare nach Europa sende, um Europa zum Buddhismus zu bekehren. –

4. Noch eine vierte große Geistesmacht Asiens gilt es zu begreifen, den semitischen Islam. Daß die Türkei gegenwärtig in Deutschland ebenso mit einer Gloriole umstrahlt wird, wie sie vor wenigen Jahren noch zum Schreckgespenst europäischer Vorurteile diente, hat unser hier gänzlich unpolitisches Urteil nicht zu kümmern. Was – so fragen wir – ist das Wesentliche in der Geisteswelt Mahomets? Und die Antwort macht uns geneigt, die islamitische Geisteswelt nicht nur für uneuropäisch, sondern als im tiefsten anti-europäisch zu betrachten. Denkende Beobachter, die lange in Vorderasien lebten, stimmen darin überein, daß der Türke zu unsrer Art Gedanklichkeit, europäischem Geschäftsverkehr, Technik und Wissenschaft gerade vermöge seiner religiösen Tugenden verdorben sei. Seine Religiosität ist kontemplativ. Sie erfordert große stille Betrachtung des Lebens ohne die aktiven Zwecke und Ziele, die der europäische Mensch wie einen Zwangspanzer über das Leben wirft. Wir sehen ruhige patriarchalische Männer und blumenhafte, wie Kinder blühende Frauen auf den Kirchhöfen, den Grabsteinen ihrer Vorfahren, (der Stätte, die der Türke pflegt, wie wir unsre Laubengärten); – da sitzen sie in der Sonne, die Frau den Tee bereitend, der Mann die Wasserpfeife rauchend. Ihr Ziel? Die Meeresstille des Gemütes. Eine schmerzlose Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben. Ihr fester Glaube: das Kismet, wonach der Mensch der Spielball übergeordneter Kräfte ist. Nicht wie das Karma der Inder ein Gedanke an Erbsünde und Erbentlastung, sondern ein Gedanke des logischen Optimismus: „Alles hängt mit allem zusammen. Es hat alles so kommen sollen, wie es kam.“

‚Du, der durchs Leben wird geschlagen wie ein Schlägelballen,

Du, der Du in die Lust des Weines und der Huri gefallen,

Du bist gefallen auf des Ewigen Geheiß,

Er ist es, der es weiß, der’s weiß, der’s weiß.’

V. Europa und der ‚Fortschritt’

„Bezahlten wir des Lebens Wissen mit dem Leben selbst, Zu Hirn verblaßt? Sind wir ein Geisterreich?“

Die Geistesmächte Asiens, welche wir schilderten, zielen allesamt auf ewiges Leben: zeitlos-ruhend-unbedingt. Europas Wissenschaften und Religionen dagegen sind für Zeit und Wirklichkeit eingerichtet; das heißt, für die relative, begrenzte menschliche Bewußtseinswelt! Sie sollen, nach dem Wort eines europäischen Theologen „schon jetzt und hier dem bedrängten Menschenkinde zu einem würdigen Leben und fröhlichem Sterben behülflich sein.“

So kommt es denn, daß tiefer-denkende Asiaten, indem sie an Hochschulen und Universitäten Europas alle Hilfsmittel des „Komforts“ und der Lebensübermächtigung mit großer Gelehrigkeit und Nachahmungsgabe sich aneignen, dennoch zuweilen im Innern eine gewisse Mißachtung der europäischen „Kultur“ verspüren. Sie fühlen insgeheim heraus, daß alle unsere gewaltigen Systeme zuletzt nur Glückseligkeitslehren ihrer Autoren sind, die auf ‚befriedigende Weltanschauung’ als auf die Norm menschlichen Grübelns und Erkennens hinschielen. Ihr Wert dient dem Leben, ihre Wahrheit der Wirklichkeit, und doch wissen wir gar nicht, ob das Leben mit dem Wert, die Wirklichkeit mit der Wahrheit notwendig in Harmonie stehen muß. Das ist vielleicht nur eine ‚monistische’ Überzeugung, die der älteren Weisheit Asiens vollkommen fremd ist.2

– Ein seit hundert Jahren bei uns allverbreitetes, in Asien aber unbekanntes Schlagwort bemäntelt für Europas denkende, nicht denkende Intelligenzen die Blöße dieses Aberglaubens an Wissenschaft, nämlich das Schlagwort: Fortschritt oder Entwicklung! Wo immer es verwendet wird, da kommt ein gewisser anschaulicher Materialismus der Weltbetrachtung zum Ausdruck. In Deutschland verschuldete die große Wirkung Hegels (1807), in England der nicht minder mächtige Erfolg Darwins (1859), daß der Begriff „Entwicklung“ zum Kern des gesamten geistigen Lebens wurde. Die Natur wurde seit Darwin, die Geschichte seit Hegel mit einem höchst naiven Vertrauen so betrachtet, als seien Sinn, Wert, Fortschritt, Entwicklung nicht etwa nur sinngebende und logifizierende Ideen, nein! höchst gewisse, erfahrungsgemäße Tatsachen dieser höchst gewissen, erfahrungsgemäßen ‚Wirklichkeit’. Besonders im Englischen wird das Wort evolution, gleich als ob sich das von selbst verstünde, immer im Sinne von melioration gebraucht.

Was nun besagt Das ? – Wenn wir nicht irren, besagt es, daß eine Untermengung von Tatsache und Wert, Wirklichkeit und Idee eingetreten ist, aus der das europäische Denken nicht herausfindet.

Das bemerken wir mit schauderndem Entsetzen in diesem Augenblick! „Geschichtliche Notwendigkeit“ ist das Zauberwort des gegenwärtigen Europa geworden. Selbst das Sinnlose, Widersinnige, beginnt für Millionen als logisch sanktioniert und ethisch gerechtfertigt zu gelten, wofern es ihnen nur als ‚geschichtlich-notwendig’, das heißt als genetisch begründet eingeredet wird. Und gerade Europas denkende Seelen, deren ganze Lebensarbeit darin bestehen sollte, die Sphäre des wertenden Geistes von Vertrübungen durch bloß historische „Notwendigkeit“ rein zu halten, huldigen diesem Historismus und kapitulieren mit einem Schlage vor ‚Geschichte’ und ‚Notwendigkeit’, wofern nur ihre Geschichte und ihre Notwendigkeit in Frage stehen.

Diese Preisgabe der philosophischen Einsicht und Würde an den Dienst der Wirklichkeit von Natur und Geschichte wird von nachhinein nicht nur als erzwungene Politik oder praktischer Sinn entschuldigt, nein! wird geradezu als Pflicht und Forderung, sittliche Opfertat und Begeisterung für das Ideal in den Himmel erhoben. Immer wieder wird historische Veränderung, (die doch zunächst nie etwas Anderes ist als Funktion der jeweiligen Notstände), so hingestellt, als ob sie schon eo ipso eine von der Vernunft zu billigende, vom Gewissen zu bestätigende ideale Forderung in sich schlösse, (besonders dann, wenn die geschichtlichen Veränderungen im Sinn der volkstümlichen Instinkte, der privaten Wünsche vor sich gehen). –

Ich will hier nun keineswegs jeden Begriff geschichtlichen Fortschritts anzweifeln, jede Form historischer Entwicklungen leugnen. Ich wünsche auch keineswegs zu bestreiten, daß die sogenannten ‚Errungenschaften’ Europas: Dampfschiffe, Eisenbahnen, Telegraphen, Telephone, Luftschiffe, Dynamos, Automobile, Lenkballons; ferner: Parlamente, Konstitutionen, Zeitungen, Universitäten, Volksschulen in der Tat dem ganzen Menschengeschlechte Güter und Werte übermitteln. Aber es handelt sich hier nicht um wirtschaftlichen und politischen, überhaupt nicht um bloß funktionellen Wert, dessen Wert immer erst anhand einer reineren und unbedingteren Sphäre der Gültigkeit gemessen und bestimmt werden müßte. Denn alles Politische, Wirtschaftliche, Historische liegt diesseits der Sphäre reinen Wertes. Es wird in aller Ewigkeit, so lange als Menschen auf der Erde leben und was immer auch an diesen Menschen vor sich gehen mag, bloße Funktion ihrer Notstände, Notausgang ihrer Verhältnisse, derb gesagt, Index ihrer menschlichen Geschäfts- und Nützlichkeitserwägungen sein. Was aber ist der Nutzen alle dieses Nutzens, was der Wert alle dieser Werte? Im praktischen Leben regiert Not! Und was auch immer geschieht, Europas internationaler Demokratismus nicht minder, als der im Augenblick kurzsichtig und kurzatmig aufgeblühte Nationalismus der Völker, Monarchie wie Republik, Anarchie wie Sozialismus, alles muß Funktion der Not bleiben! Alles Gerede von Größe und Heldentum der Zeiten zerschellte immer wieder am ehernen Felsen der Not!

siesie