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Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
Erstes Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Zweites Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel I I
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Drittes Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Nachwort
Anmerkungen
Copyright

JANE AUSTEN (1775–1817) wurde in Steventon, Hampshire, geboren und wuchs im elterlichen Pfarrhaus auf. Nach Meinung ihres Bruders führte sie »ein ereignisloses Leben«. Sie heiratete nie. Ihre literarische Welt war die des englischen Landadels, deren wohl kaschierte Abgründe sie mit feiner Ironie und Satire entlarvte. Psychologisches Feingefühl und eine lebendige Sprache machen ihre scheinbar konventionellen Liebesgeschichten zu einer spannenden Lektüre. Die jüngsten Verfilmungen ihrer Romane wie »Emma« (1996) mit Gwyneth Paltrow oder »Stolz und Vorurteil« (2005) mit Keira Knightley waren Kassenschlager.

Nachwort

Zwei Inches Elfenbein genügten ihr, »worauf ich mit feinem Pinsel male«, schreibt sie bei der Ablehnung eines Riesengemäldes: die Historie des Hauses Coburg zu verfassen, immerhin im Auftrag des kgl. Bibliothekars. Ihr genügen die nicht ungewöhnlichen Menschen ihrer Umgebung, deren Beziehungen zueinander, die unveränderlichen Bedingungen des menschlichen Herzens.

Sie malt mit leichter Hand die sanfte Hügellandschaft, in der die Schwestern Dashwood spazieren in der regnerischen oder silbrigen Luft Englands. Nie hat sie andere, auch nicht exotische Schauplätze gewählt. Es gibt sie zwar, wie z.B. Indien als Wirkungshintergrund des Obersten Brandon – aber nur durch dessen Bericht, ganz punktuell und klischeehaft gesehen, und darum von Willoughby verlacht.

Überhaupt, wie sie dem Klischee entrinnt, ist ihr Geheimnis – Geheimnis ihres Stils: er besitzt einen jugendlichen Elan und erzielt mit einer dem Sujet gegenüber überhöhten Aussage Ironie.

Sie behält Distanz zu ihren Gestalten und zum Leser, sie rüttelt ihn nicht durch, aber teilt Lebensweisheit mit und beschert uns im Mit-Begleiten eines: das Lächeln.

Das Geschehen spielt sich fern von Tagesereignissen ab – und bleibt darum immer »aktuell«; es ist Napoleonzeit (Jane Austen ist 1775 geboren), und keine politische Woge schäumt in ihren Romanen hoch. Einmal werden Emigranten als geschickte Handwerker erwähnt. Man flicht Körbchen, bemalt Kaminschirme, berichtet gossip – Klatsch – und Neuigkeiten, die sich um Vermögensdinge und Herzensangelegenheiten drehen. Es gibt keinen Kanonendonner, keine Tötung (obwohl der erste Mann ihrer Schwägerin unter der Guillotine fiel); anderseits in unserem Roman nicht einmal eine Liebeserklärung:

»Edwards Anliegen … war lediglich, Elinor zu bitten, ihn zu heiraten; und wenn man bedenkt, daß er darin nicht ganz ungeübt war, mag es befremden, daß er sich im jetzigen Fall dermaßen unbehaglich fühlte, daß er Ermunterung und frische Luft so nötig hatte. Wie bald er sich aber in die eigentliche Entscheidung vorgewagt hatte, wie bald sich eine Gelegenheit ergab, sie vorzubringen, auf welche Art und Weise er sich erklärte und wie es aufgenommen wurde, braucht nicht besonders erzählt zu werden.«

So kann sie raffen. Aber nicht bedenkenlos. Wentworth z.B. in »Anne Elliot« vermag ganz glühende Worte zu finden. Ihre Welt bietet im kleinkultivierten Rahmen das Bild der menschlichen Schwächen, Nöte und Liebenswürdigkeiten, deren Verwicklung sie vor Augen führt. In den nicht immer hochbefriedigenden, aber akzeptablen Lösungen, in denen das gute Geschick zu walten scheint, werden die an Marionettenfäden hängenden Figuren von der lächelnden Pfarrerstochter zusammengeführt, jener unbekannten Dame, die 1811 ihren viel früher geschriebenen ersten Roman auf eigene Kosten drucken ließ: »Sense and Sensibility: A Novel. In Three Volumes. By A Lady. London: Printed For The Author, 1811.«

Verfaßt hat sie die Geschichte der beiden Schwestern, die Züge ihrer selbst und ihrer Schwester Cassandra tragen mögen, als junges Ding. Und wie sie es da vermocht hat, nachdem sie im 1. Kapitel die Geschichte etwas weit heraufgeholt hat, sich aus dem Dämmer der Generationen den eigentlichen Figuren zu nähern, sich langsam an ihr Sujet heranzuschreiben: nämlich die psychologische Durchdringung ihrer Gestalten, ohne jedes Aufheben, dabei Entwicklung aus Charakter und Handlung schaffend, das hat bereits Format.

Schon das 2. Kapitel, in dem Fanny Dashwood den Gatten von dem Versprechen, für seine Stiefschwestern zu sorgen, abbringt und die finanzielle Unterstützung auf einen Hasenbraten und andere Jagdbeute reduziert, wird in der Sekundärliteratur als Beispiel für den ironischen Dialog herangezogen.

Wie die junge Autorin mit dem Phänomen Zeit verfährt, Geschehendes erst später überraschend aufklärt, das ist schon »gekonnt«. So wird Willoughbys Abschied, der berechtigte Rätsel aufgibt, erst 320 Seiten später von ihm selbst begründet, ja halb entschuldigt, und Oberst Brandons plötzliche Abreise von Barton 225 Seiten danach erklärt. Sie hat innerhalb des Zeitverlaufs eine Koordinate von höchster Präzision im Auge. Sie legt sich nicht genau fest, und der Leser erkennt im Geschehnisablauf zunächst unerklärliche Ereignisse erst rückblickend als exakt geplante Schnittpunkte, von wo ab die Handlung voransteuert. Beispiel: der Aufbruch des Obersten. Oder das Eintreffen der Nachricht von Willoughbys Vergehen im dramatisch richtigen Zeitpunkt, denn diese wenigen Stunden Vorsprung verhindern seine Verlobung mit Marianne. So wird der Frauenroman in einem Land vorgeprägt, in dem später die detective story blüht. Wie sorgfältig wird hier gebaut! »Zähe Arbeit« verlangt das kleine Plättchen Elfenbein.

Wie sie auf das Unterbewußtsein des Lesers Einfluß nimmt, ist erstaunlich. Hat man angesichts der auf der Lebensbühne dauernd agierenden Schwestern Elinor und Marianne die jüngste dritte schon vergessen, taucht bestimmt dann, wenn sie unserem inneren Auge entschwindet, ihr Name auf, oder wird mit einem Sätzchen ihre Existenz wachgerufen. Margaret nimmt eine Einladung an oder wird von Verwandten abgeholt und rückt gar im Schlußbild – fürs Tanzen im begehrtesten Alter – Marianne nach.

 

Die Exposition des Romans ist erst im 21. Kapitel, dem vorletzten des ersten Buchs, mit Nennung des Namens von Lucy Steele voll gegeben. Mit ihrer Enthüllung, daß sie mit Edward Ferrars verlobt ist, wird die Folgehandlung der weiteren Bände eröffnet.

Wie kühn von einer Zwanzigjährigen, Handlung in den Bericht des Obersten Brandon zu verlegen! Das Duell über Leben und Tod (damals als Mord bestraft) zwischen Brandon und Willoughby nimmt keine fünf Zeilen ein. Dennoch ist einem die Feindschaft der Duellanten immer bewußt.

Dieses manchmal punktuelle Verfahren im gleichzeitig gewahrten Erzählfluß – wo hat sie es »gelernt«? Kein Baker’s workshop, keine Vorlesung über point-de-vue-Technik, keine Fachpsychologie standen ihr zur Verfügung oder haben sie beschwert. Intuitiv stellt sie ein Schicksalsgeflecht dar, noch von der Illusion beherrscht, Lebensrechnungen gingen auf. An dem Geschick ihrer Gestalten spinnen nicht Nornen, sondern sie zieht die Fäden in dem Glauben, daß Gutes belohnt und Böses bestraft wird und Unverzeihliches zurechtgebogen werden kann.

Der Zugriff der jungen Autorin verdient Bewunderung: jeder Auftretende hat in jedem Augenblick die Geschichte seines Lebens hinter sich. Aber jeder sieht beim andern im Moment der Begegnung nur den gegenwärtigen Augenblick und die eine Charakterfacette, wohingegen der Leser oft mehr weiß als die Beteiligten im Roman und so dem Handlungsgegenstand voraus ist. Mrs. Jennings z.B. hinkt den Ereignissen immer hinterdrein, deutet vieles falsch und wird, tapsig mit Weltverstand, dabei geschäftstüchtig, zur komischen Figur.

Der verschiedene Grad des Bescheidwissens macht den Leser zum Überlegenen, der die Situation durchschaut. Beispiel: Gegen Ende des 2. Buches, wo sich Edward und Lucy zufällig im Salon begegnen, weiß der Leser – wie in einem gut gebauten Theaterstück – alles, Marianne nichts, kennt Elinor Lucys Geheimnis und Edwards schnöde Handlungsweise ihr selbst gegenüber, kann Lucy nichts sagen, weil sie ihr Geheimnis verraten hat, kann Edward nichts sagen, da er nicht weiß, ob Elinor weiß, und so fort.

Diese augenzwinkernde Kommunikation der Autorin mit dem Leser gehört zu ihren unmerklichen Kunstgriffen. Zum Beispiel holt sich Marianne bei einem ihrer »delightful twilight walks« eine schwere Erkältung. In einem 12 Zeilen langen Satz ist die Rede von besonders alten Bäumen, besonders hohem nassem Gras, in dem sie sich mit nassen Schuhen und Strümpfen niederläßt, was das Fieber zur Folge hat – und der Leser weiß genau, daß sie nur dorthin gelaufen ist, um die ferne Hügelkette zu sehen, hinter der Combe Magna liegt, Willoughbys Haus – ohne daß es hier gesagt wird.

So macht die Austen den Leser einerseits zum souveränen Mitwisser, andererseits überrumpelt sie ihn: gewohnt, von ihr geführt zu werden, folgt er ihr arglos und wird mit plötzlichen Überraschungen belohnt. Überhaupt arbeitet sie mehr mit Überraschungseffekten als mit Spannung. Sie läßt sich Zeit – und versteht zu raffen, beides jeweils im rechten Augenblick.

Man selbst glaubt, in der Hochzeitskutsche befände sich der glücklich getraute Edward – und es ist sein Bruder. Befragt nach Mrs. Ferrars’ Ergehen, scheint seine Frau gemeint, während Edward die Frage auf seine Mutter beziehen muß. Und wie atmet der glücklich hinters Licht geführte Leser auf!

Der einsame Reiter auf der Heide (mit Diener) ist nicht der ersehnte Willoughby, sondern Elinors treuloser Verehrer. Der vierspännig vorfahrende Wagen ist nicht der vermutete von Oberst Brandon, sondern Willoughbys Eilgefährt.

Daß die Austen sich daran wagt, Willoughbys geschwärztes Bild von ihm selbst retouchieren zu lassen, in diesem Augenblick, ist Beweis genug, daß sie sich in ihre – seine – Gestalt verliebt hat.

Ach, Willoughby, der Herzensbrecher! Vorfahr des Helden aus »Vom Winde verweht«. Willoughby als unbekümmerter Draufgänger, Inbegriff der Jugend (dem sogar Elinor verzeiht), die Barutsche kutschierend, von Hunden umbellt, im Reitanzug vorzustellen; aber »wie ist er, wenn man ihn näher kennt? Was sind seine Interessen, seine Begabung, seine Wesensart?« will Marianne nach der ersten Begegnung wissen. Eine Frage, die Jane Austen allen ihren Gestalten stellt. Willoughby, ein Mädchentraum, dessen Abtrünnigkeit und Verruchtheit schwer glaubhaft zu machen ist, so hinreißend tritt er auf (Richardsons Lovelace, der Clarissa Harlowe betört hat, war Miss Austen hinreichend bekannt).

Allerdings erobert Willoughby noch eine eifersüchtige Frau, der sich ein Quentchen Schuld anlasten läßt. Und diese hämische Erbin auch noch in Schutz zu nehmen, was Elinor versucht, erweckt im Leser eine nachgerade weinerliche Genugtuung. Hier verrät sich die Schreiberin, für die die Welt unmerklich, aber stellenweise überdeutlich aus weißen und schwarzen Schafen besteht. Doch fällt Willoughbys Bestrafung glimpflich aus: er wird nicht immer unglücklich sein, sondern weiter auf seiner Barutsche daherstürmen und seinem Vergnügen nachjagen – er bleibt das Weltkind mit der einen tieferen Erfahrung.

Es sind diese unbestechlichen Maße und Jane Austens innere Ausgewogenheit, die Lord David Cecil zu seiner Bemerkung veranlassen: Wenn er im Zweifel wäre, ob er recht gehandelt habe, er würde weder Flaubert noch Dostojewskij fragen, die Meinung von Balzac oder Dickens wäre ihm nahezu gleichgültig, auch Tolstojs Urteil würde er nicht ganz trauen. Aber wenn er Jane Austens Mißbilligung erführe, so würde ihn das für Wochen und Aberwochen zutiefst bekümmern.

Und dies sagt der Literaturkritiker, weil er ihre »moral realistic view« bewundert und ihren Einblick in die moralische Natur des Menschen vollkommen findet.

In der Tat hat sie auch dem leichtsinnigen Landjunker Willoughby einen Rivalen erschaffen: Oberst Brandon, den Untadeligen. Seine Heldenstunde schlägt, als er den überstürzten Aufbruch aus Cleveland organisiert – sogar die Postpferde treffen noch früher als erwartet ein – und Mrs. Dashwood zur vermeintlich sterbenden Marianne-Geliebten holt, die seine unbeachtete Werbung höchstens mit einem formellen Gespräch in einem Londoner Salon belohnt und über seine Flanellweste gegen Rheuma gekichert hat.

Mit Mariannes Erkrankung ist eine Situation gegeben, welche die Marlitt-Welt streift und die Frauenschriftstellerinnen von geringeren Graden zur sentimentalen Rührszene gesenkt hätten. Marianne rührt wirklich durch ihre bloße Existenz: von dem Heißsporn verlassen, braucht sie aber nur die Augen zu dem Obersten der Ostindischen Armee mit Herrensitz in Delaford und Maulbeerbaum am Gartenzaun aufzuschlagen, um die Seine zu werden. Aber das bedingt eine Wesenswandlung, woran der englische Geschmack keinen Anstoß nimmt: Die entzückende Marianne, Inbegriff von Sorglosigkeit und Jugend, wie es sie nur einmal im Leben gibt, wächst sich – durch die gewiß schicksalsbedingte Krankheit – zur eigenen Gouvernante aus, die sich selbst gründlich korrigiert – aus Notwendigkeit für die Handlung, im Sinne der Autorin. Bei ihrer Bemühung um Jugendtragödie malt Jane Austen alle Schattierungen der Mädchenseele, wie früher Samuel Richardson. Mit den Merkmalen der äußeren Erscheinung dieser jungen Damen, die als Vertreterinnen von sense und sensibility ihre Weisheiten zum besten geben, werden wir nur sparsam bekanntgemacht. Wie die Schwestern aussehen, erfahren wir erst nach 60 Seiten. Man geht höchstens aufgeregt im Zimmer hin und her oder starrt ins Kaminfeuer. Immerhin hat auch das Papageiengeschwätz des niederen Gegenpaares Lucy und Nancy einen Zweck: Schwebendes durch Gerede festzulegen. Aber nur ein einziges Mal, als Marianne sich für eine Soiree zurechtmacht und von der dümmlichen Nancy bei ihrer Toilette beobachtet und über den Preis jeden Details impertinent befragt wird, sehen wir sie genauer beschrieben – auch hier nicht um der Beschreibung selbst willen.

Es wird nicht gesagt, was die Schwestern anhaben, wenn der Verehrer auftaucht, dennoch wissen wir genau, wie ihnen zumute ist, was sie denken. So wird zur Ergänzung des äußeren wie des inneren Bildes die Phantasie des Lesers aufgerufen; er gewahrt innere Vorgänge, erlebt die Romanfiguren in statu nascendi mit, wird nicht geleitet von äußerlicher Beschreibung, wie sie die Frauenschriftstellerei später praktiziert, wo schlanke Grafenhände auf Gobelinsessel-Lehnen ruhen oder eine beringte Frauenhand über die vergeßliche Stirn geführt wird.

Wenn bei der Austen an einer Männerhand ein Ring gesehen und beschrieben wird, etwa bei der Entgegennahme einer Teetasse, so ist das ein revolutionierendes Moment im Romanablauf, wovon Verschweigen und Entdecken eines Doppelspiels abhängt. Die wenigen Kennzeichen, in diesem Fall einer Verlobung, wozu Ring, Locke und Nennung beim Vornamen gehören, werden von der kritisch beobachtenden Autorin wirkungsvoll eingesetzt, wie sie auch mit den wenigen Versatzstücken – Gewehr, Pferd, Zeitung beim Mann, Pianoforte, Kartenspiel und Handarbeit bei den Frauen – wirkungsvoll verfährt – ohne im Klischee hängen zu bleiben.

Nur da, wo sie sich mit einer mehr oberflächlichen Charakterisierung einer Nebenfigur begnügen muß, arbeitet sie mit der Wiederholung als Dauerkunstgriff, wie ihn später Dickens bis zum Überdruß angewandt hat. Beispiel bei der Austen wäre Charlottes unbegründetes Lachen. Erinnert man sich an deren Mann, Mr. Palmer, sieht man ihn beständig unwirsch zeitunglesend bei seinem ersten komischen Besuch. Wenn er in London oder Cleveland auftaucht ohne Zeitung, wird er zur uninteressanten Füllfigur. Mit dem Fallenlassen der banalen Kennzeichnung entgeht die Autorin andererseits der aufdringlichen Dikkens-Manier.

Die Austen schreibt zu einer Zeit, in der die Schürzung des Knotens und die Führung der Personen sowie aufeinander abgestimmte Briefe noch als Maßstab der Kunst betrachtet werden. Dabei zeigt sie die Männer auf den verschiedenen Stufen der menschlichen Schwächen und Nöte, zeigt sie die Frauen in ihrem Vermuten, Erraten, ihrer Auslieferung an Gefühle oder deren Beherrschung, und das nie frei schwebend im Raum, sondern stets handlungsbezogen.

 

Liest man ihre Briefe an ihre Schwester Cassandra aus denselben Monaten, in denen sie die Korrekturbogen für »Sense and Sensibility« las (April 1811), nimmt es wunder, wie die Schreiberin solcher verfließender Schwatzbriefe (inzwischen sechsunddreißigjährig) ihre eigenen Begegnungen mit Menschen derselben Namen (Miss Middleton), derselben gesellschaftlichen Interessen so bravourös hat umsetzen können in eng verzahnte Handlung. Im Brief quillt das über von Treffen, Besuchen, Namen, von Veranstaltungen und Hausmusiken mit sechzig Personen und einigen Berufskünstlern. Einkäufe werden mitgeteilt, vom hübschen Musselinstoff mit roten Punkten bis zu seidenen Strümpfen, Kappen und Strohhüten von bestimmter Fasson. Cassandra hat Briefe, die echte Einblicke erlauben könnten, verbrannt. Ausführlich ist auch von Theaterbesuchen die Rede, es wird leider nicht »King John«, sondern »Hamlet« gegeben, und man sieht die Schauspielerin Mrs. Siddons für diesmal leider nicht agieren.

 

Auch Jane Austen, die in ihrer Jugend in der großen Scheune beim Laientheater mitwirkte, hat bei aller epischen Ambition Szenen wie für die Bühne geschaffen. Im Ballsaal, beim Londoner Juwelier, am Kartentisch, an der Poststation, wo Dashwoods Diener Lucys Hochzeitskutsche begegnet, führt sie die szenisch gebrauchten Personen zusammen. Dabei wirken derlei Begegnungen durchaus selbstverständlich, nie gestellt.

Wie für die Komödie gibt es Regieanweisungen in Klammern: »Sie atmete viel schneller als gewöhnlich, während sie sprach.« »Mit lebhafter Gebärde.« »In äußerster Verblüffung«.

Kursivschreibungen zeigen Rededuktus und Tonlage an. Willoughbys Rechtfertigungsrhetorik kennt gar beiseite Gesprochenes.

Gedankenstriche suggerieren Gesten. Willoughby: »Ich will jetzt nicht argumentieren – noch innehalten, damit Sie mir einen Sermon halten über das Absurde, ja Verrückte, wie ich Gewissensbisse haben konnte, mein Versprechen da zu geben, wo meine Ehre schon gebunden war.« Der Gedankenstrich weckt die Vorstellung einer Unterbrechung fordernden Handbewegung, die Willoughby beschwichtigen will. Der Leser bemerkt eine Geste, weiß sie bestimmt, ohne daß sie genau festgelegt ist. »Du gibst wirklich zu – da bin ich froh.« Ein Kopfnicken seitens Elinor wäre einzuschieben. »Ich konnte nur von meinem Kind sprechen – Brandon konnte sein Mitgefühl nicht verbergen.« Der Gedankenstrich leitet zum Bekenntnis des Obersten über.

Auf den letzten dreißig Seiten verläßt die Autorin den eher behaglichen Fluß der Erzählung voller Dialoge und Reflexionen und steuert in Eile das Doppelthema in Engführung auf eine Art Ensemble-Szene zu. Noch einmal treten ihre Gestalten als Besucher auf, Menschen, die Kummer hatten, lachen konnten, adelig, bürgerlich, geldstolz, selbstüberzeugt waren.

Im Schlußbild haben die Paare zusammengefunden. Die etwas leidige äußere Situation wird ein wenig betulich zum soliden Besten gewendet. Sense und sensibility regieren, aufatmend spürt man Gnade walten und klatscht Beifall. Die Gestalten, deren Kostüme uns kaum beschrieben wurden, kennen wir so gut, daß wir sie förmlich sehen und ihnen zuwinken, ehe sie in den Kulissen entschwinden. Es ist selbstverständlich, daß noch weitere, vielleicht noch besser gebaute Romane folgten, aber keiner hat ehrlicher oder noch schöner die liebe Himmelsordnung auf dem Lande verteidigt als »Sense and Sensibility«.

 

Die so die menschliche Komödie beherrschte, war als Tochter eines anglikanischen Geistlichen am 16. Dezember 1775 in Steventon geboren und in der südenglischen Parklandschaft von Hampshire aufgewachsen.

Die Art, wie sie Kinder vorlaut sein und Anstoß daran nehmen läßt, würde eher auf eine altjüngferliche Autorin als auf die amüsiert beobachtende Pfarrerstocher schließen lassen – Zweitjüngste von acht Kindern. 1801–06 lebte sie dann – nicht gern – in dem Modeort Bath; und nach des Vaters Tod in Southampton, bis sie 1808 nach Chawton in Hampshire zog. Dort bot ihr Bruder Edward ihr ein endgültiges Zuhause auf seinem (von reichen Verwandten geerbten) Gut, wie Edward Elinor auf Delaford im Roman.

Im Mai 1817 mußte sie sich nach Winchester in ärztliche Behandlung begeben (wahrscheinlich eines Lungenleidens wegen, Ch. Grawe vermutet Nebenniereninsuffizienz).

In einem der Kathedrale nahe gelegenen Hause starb sie in den Armen ihrer einzigen Schwester Cassandra, zweiundvierzigjährig, am 17. Juni 1817 und wurde in der Kathedrale beigesetzt.

Sie war häufig krank und hat nicht geheiratet; nach einer übereilten Verlobung hat sie sich wieder getrennt. Sie betonte die Wichtigkeit von Tanten und schrieb an ihrem Œuvre – sechs je dreibändige Romane. »Aunt Jane hatte das Glück eines Temperaments, das es nicht nötig hatte, unter Kontrolle gehalten zu werden«, schrieb eine ihrer Nichten, im Unterschied zu Cassandra, die aber das Glück hatte, ihr Temperament zügeln zu können. – Zwei Schwestern!

Keiner hat so wie Max Wildi, der auch ihr Werk in den größeren literarischen Zusammenhang gestellt hat,2 die Bewegung mitverspüren lassen, die den Betrachter überkommt, wenn er ihren äußeren Schaffensraum betritt: das ebenerdig gelegene behagliche Zimmer in dem alten Backsteinhaus von Chawton mit den Empire-Möbeln, dem Spinett und ihren zierlichen Stickarbeiten, »den schönen, aber einzigen Aufenthaltsraum des Hauses, den die schreibende Jane mit Cassandra und ihrer Mutter teilte. […] Durch das große Fenster sieht man auf den Garten und jenseits der Hecke auf die Straße hinaus. Hier schrieb sie ihre Romane. […] Sobald sich fremder Besuch einstellte, was die absichtlich ungeölte Haustüre knarrend verriet, verschwand das Manuskript in der Schreibunterlage.«

Sie schrieb im Lärm der kleinen Welt, nichts Sensationelles, aber (unbewußt) Großes. Spätere Romanschreiberinnen haben sich daran orientiert: Charlotte Brontë mit Neid, Virginia Woolf voller Bewunderung.

Ruth Schirmer

Anmerkungen

Seite

 

Ref 1 Barutsche, barouche: eine lange vierrädrige Chaise.

Ref 2 Cowper: William Cowper (1731–1800) verfaßte das Lehrgedicht »The Task«, auf das Jane Austen auch noch in ihrem letzten Roman »Emma« zurückgreift.

Ref 3 Dinner: die Hauptmahlzeit, damals etwa zwischen 16 und 18 Uhr eingenommen. Die Zeit bis zum Dinner wird als Vormittag, »morning«, bezeichnet.

Ref 4 Mohur: indisch-britische Goldmünze zu 15 Silberrupien.

Ref 5 Palankin, palanquin, palankeen: kastenartige Sänfte mit Seitenöffnung.

Ref 6 Kutsche: engl. curricle, eine zweirädrige Kutsche mit zwei Pferden.

Ref 7 Queen Mab: Königin des Feenreichs; in der Dichtung des 16. Jahrhunderts Gemahlin des Oberon. 1813 (zwei Jahre nach »Sense and Sensibility«) erschien Shelleys Epos »Queen Mab«.

Ref 8 als erster: William Gilpin (1724–1804), Geistlicher und Maler, schrieb 1792 den »Essay an Picturesque Beauty«.

Ref 9 Temple: Sitz zweier Rechtskollegien in London.

Ref 10 Gig: zweirädriger Einspänner.

Ref 11 Columella: Anspielung auf Richard Graves (1715–1804), »Columella, or, the Distressed Anchoret«, erschienen 1779; Columella, von seinem eigenen Leben des Müßiggangs abgestoßen, erzieht seine Söhne zu verschiedenen Berufen. So ist der dritte Sohn Apotheker, Chirurg, Gynäkologe, Zahnzieher, Pferdehändler, Weinhändler …

Ref 12 M.P, Member of Parliament: durch Parlamentsakte von 1763 (bis 1840) brauchte ein Mitglied des Parlaments, unter der Voraussetzung, daß er eigenhändig die Adresse schrieb, einen Brief nicht zu frankieren.

Ref 13 Filigranarbeit: wahrscheinlich ein mit festzuklebenden bunten Papierstreifen durchzogenes Körbchen.

Ref 14 Robber von Casino: Whistspiel aus dem 17. Jahrhundert.

Ref 15 Constantia-Wein: ein Dessertwein aus Groot Constantia bei Kapstadt.

Ref 16 Duell: galt außerhalb der Armee (bis 1844) als illegal; falls einer der Duellanten getötet wurde, machte sich der Überlebende des Mordes schuldig (letzte Exekution eines Duellanten 1808).

Ref 17 Stage-Coach: ein verhältnismäßig billiges, öffentliches Verkehrsmittel, im allgemeinen von Damen nicht benutzt, im Gegensatz zur: Post-Chaise, einem gemieteten Wagen für nur drei Personen und Kutscher, einer schnellen, aber kostspieligen Reisemöglichkeit.

Ref 18 Exeter Exchange: berühmt für seine Menagerie, ein Gebäude, das seinen Namen von einem früheren Haus auf demselben Ufer des Strand herleitet, das Sir Thomas Cecil, seit 1605 Earl of Exeter, gehörte.

Ref 19 Einfriedung: die Einfriedung von allgemeinem Weideland war zum Vorteil größerer Güter. Die Leidtragenden waren die Kleinbauern, die ihre Weiderechte verloren.

Ref 20 Bonomi: Joseph Bonomi (1739–1808). Italienischer Architekt, der 1767 nach England kam, sich in London niederließ und sich mit luxuriösen Landhäusern einen Namen machte.

Ref 21 Preis: ein Patronatsherr, der das Recht hatte, einem Geistlichen eine Pfründe zu übertragen, konnte sich auch das Versprechen einer solchen Bestallung bezahlen lassen.

Ref 22 eigene Apotheke: Mr. Harris ist ein dispensierender Arzt, der Medikamente führt und verkauft.

Ref 23 Pikett-Spiel: Piquet, ein in England und Frankreich beliebtes Kartenspiel für zwei Personen. Angeblich von dem französischen General Etienne de Vignolles, der gegen Jeanne d’Arc kämpfte, erfunden (James Kinsley, der Herausgeber von »Sense and Sensibility« in World’s Classics, zitiert Ely Culbertson: »Culbertson’s Card Garnes Complete with Official Rules«, ed. Hubert Phillips 1957).

Kapitel 1

Die Dashwoods waren lange in Sussex ansässig gewesen. Ihre Besitzung war groß, und ihre Residenz, Norland Park, lag mitten in ihren Gütern, wo sie schon seit Generationen so wohlanständig gelebt hatten, daß sie sich des besten Rufs bei ihren Nachbarn erfreuten. Der verstorbene Eigentümer war Junggeselle gewesen; er wurde sehr alt und hatte viele Jahre seines Lebens eine treue Gefährtin und Haushälterin in seiner Schwester. Doch ihr Tod, der zehn Jahre vor seinem eigenen eintrat, brachte eine große Veränderung in seinem Heim mit sich; denn, um ihren Verlust zu ersetzen, lud er die Familie seines Neffen, Mr. Henry Dashwood, in sein Haus ein und empfing damit den gesetzlichen Erben der Norland-Güter, die er ihm auch zu vermachen gedachte. In seiner und seiner Nichte Gesellschaft sowie deren Kinder brachte der alte Herr seine Tage bequem hin. Seine Anhänglichkeit an sie alle wuchs. Die beständige Aufmerksamkeit seinen Wünschen gegenüber, die nicht von bloßem Eigennutz, sondern von Herzensgüte herrührte, schenkte ihm alles erdenkliche Behagen, dessen er in seinem Alter bedurfte; und die Heiterkeit der Kinder verschönte sein Dasein.

Mr. Henry Dashwood hatte aus erster Ehe einen Sohn; von seiner jetzigen Frau drei Töchter. Der Sohn, ein verläßlicher, geachteter junger Mann, war durch das Vermögen seiner Mutter reichlich versorgt, denn es war beträchtlich gewesen, und die Hälfte fiel ihm bei seiner Volljährigkeit zu. Dementsprechend vergrößerte er noch seinen Reichtum durch seine eigene bald darauf folgende Heirat. Darum war für ihn die Erbschaft der Norland-Besitzungen nicht so wichtig wie für seine Schwestern; denn ihr Vermögen konnte, unabhängig von dem, was ihnen durch ihres Vaters Erbe zufallen würde, nur gering sein. Ihre Mutter besaß nichts, und ihr Vater hatte nur siebentausend Pfund zur eigenen Verfügung; denn der restliche Anteil aus dem Vermögen seiner ersten Frau war ebenfalls ihrem Sohn vorbehalten, er hatte nur eine Leibrente davon.

Der alte Herr starb: sein Testament wurde eröffnet, und wie fast jedes Testament brachte es ebensoviel Enttäuschung wie Genugtuung. Er war weder so ungerecht noch so undankbar, seinem Neffen den Besitz vorzuenthalten; aber er hinterließ ihn zu solchen Bedingungen, die den Wert des Legates zur Hälfte herabminderten. Mr. Dashwood war es mehr um seine Frau und seine Töchter zu tun als um sich selbst oder seinen Sohn: aber für diesen Sohn und für den Sohn dieses Sohnes, ein Kind von vier Jahren, war alles derart vorgesehen, daß er von sich aus keine Möglichkeit hatte, diejenigen sicherzustellen, die ihm die Liebsten waren und eine Versorgung am meisten nötig hatten, etwa durch eine Belastung des Besitzes oder durch einen Verkauf seiner wertvollen Wälder. Das Ganze war zugunsten dieses Kindes festgelegt, das bei seinen gelegentlichen Besuchen mit Vater und Mutter in Norland die Liebe seines Onkels gewonnen hatte mit dem Charme, der bei zwei- oder dreijährigen Kindern ganz selbstverständlich ist: einer undeutlichen Aussprache, einem dringenden Verlangen, sich durchzusetzen, mit vielen kleinen schlauen Tricks und reichlichem Lärm, so daß es die gesamte Aufmerksamkeit übertraf, die ihm seit Jahren seitens seiner Nichte und deren Töchter zuteil geworden war. Zwar beabsichtigte er nicht, unfreundlich zu sein, und als Zeichen seiner Liebe zu den Töchtern hinterließ er jedem der drei Mädchen eintausend Pfund.

Zuerst war Mr. Dashwood tief enttäuscht; aber er war von heiterem und zuversichtlichem Naturell und konnte billig hoffen, noch viele Jahre zu leben und bei sparsamer Lebensweise eine beträchtliche Summe von dem Ertrag eines schon großen und sofort steigerungsfähigen Besitzes beiseite zu legen. Aber die Fortune, die so zögernd gekommen war, blieb ihm nur zwölf Monate treu. Er überlebte seinen Onkel nicht länger; und zehntausend Pfund einschließlich der überkommenen Legate war alles, was für seine Witwe und Töchter blieb.

Sobald man ihn in Lebensgefahr wußte, wurde nach seinem Sohn gesandt, und Mr. Dashwood legte ihm mit der ganzen Kraft und Dringlichkeit, die seine Krankheit gebieten mochte, die Sorge für seine Stiefmutter und Schwestern ans Herz.

Mr. John Dashwood war nicht so tief bewegt wie die übrige Familie, doch stand er unter dem Einfluß der zu solchem Zeitpunkt so in ihn gesetzten Erwartung und versprach, alles in seiner Macht Liegende zu tun, um sie sorgenfrei zu machen. Sein Vater war durch diese Versicherung erleichtert, und Mr. John Dashwood hatte dann Zeit zu überlegen, wieviel bei vorsichtiger Schätzung in seiner Macht zu tun lag.

Er war kein schlecht veranlagter junger Mann, wenn nicht eine gewisse Kaltherzigkeit und ein gewisser Egoismus in der Tat schlechte Veranlagungen sind; doch war er im allgemeinen gut beleumundet, denn er führte sich mit Anstand bei der Erledigung seiner gewohnten Pflichten auf. Hätte er eine liebenswürdigere Frau geheiratet, wäre er noch angesehener gewesen; er hätte sogar selbst liebenswerter werden können; denn er war sehr jung, als er heiratete, und sehr verliebt in seine Frau. Doch war Frau John Dashwood eine wahre Karikatur seiner selbst: noch engherziger und noch egoistischer.

Während er seinem Vater das Versprechen gab, erwog er innerlich, das Vermögen seiner Schwestern durch ein Geschenk von je eintausend Pfund zu vergrößern. Dazu fand er sich tatsächlich in der Lage. Die Aussicht auf viertausend im Jahr neben seinem gegenwärtigen Einkommen und außer der restlichen Hälfte von seiner eigenen Mutter Vermögen wärmte ihm das Herz und befähigte ihn, großzügig zu sein. Ja, er würde ihnen dreitausend Pfund geben: das wäre freigebig und ansehnlich! Es wäre genug, sie gänzlich sorgenfrei zu machen. Dreitausend Pfund! Er konnte eine so beträchtliche Summe erübrigen, ohne daß es ihm schwerfiel. Er dachte den ganzen Tag darüber nach und noch viele darauf folgende Tage, ohne daß es ihn reute.

Kaum war die Beerdigung seines Vaters vorbei, als Frau John Dashwood, ohne ihrer Schwiegermutter Mitteilung über ihre Absicht zu machen, mit ihrem Kind und ihren Dienstboten eintraf. Niemand konnte ihr das Recht zu kommen bestreiten. Das Haus gehörte ihrem Mann vom Ableben seines Vaters an; doch war ihre Taktlosigkeit um so größer und hätte einer Frau in Mrs. Dashwoods Situation mit nur gewöhnlichen Empfindungen höchst unangenehm sein müssen. Aber zu ihrem Charakter gehörte ein so ausgeprägtes Ehrgefühl, eine so romantische Großmut, daß jede Kränkung dieser Art, von wem immer erteilt oder empfangen, für sie eine Quelle steten Abscheus bedeutete. Frau John Dashwood war von niemandem in der Familie ihres Mannes je wohlgelitten gewesen; doch hatte sie bis jetzt nie Gelegenheit gehabt, ihnen zu zeigen, mit wie wenig Rücksicht auf die anderen sie handeln konnte, wenn sich die Möglichkeit bot.

Mrs. Dashwood empfand mit so stechendem Schmerz dieses widerliche Benehmen und verachtete dafür ihre Schwiegertochter so sehr, daß sie bei deren Ankunft das Haus für immer verlassen hätte, wenn nicht die Bitten ihrer ältesten Tochter sie veranlaßt hätten, über die Richtigkeit des Auszugs nachzudenken  – und ihre zärtliche Liebe für ihre drei Kinder sie dann bestimmte zu bleiben und um derentwillen einen Bruch mit ihrem Bruder zu vermeiden.

Elinor, eben die älteste Tochter, deren Rat so folgenreich war, besaß Verstandesschärfe und Urteilskraft, die sie befähigten, obwohl erst neunzehn, ihrer Mutter beizustehen und zu ihrer aller Vorteil diesem Übereifer in Mrs. Dashwood entgegenzuwirken, der sonst zu Unbedachtsamkeit geführt hätte. Sie hatte ein warmes Herz; ihr Naturell war liebenswürdig und ihre Gefühle heftig; doch wußte sie sich zu beherrschen – eine Fähigkeit, die ihre Mutter sich noch aneignen mußte und die eine ihrer Schwestern beschlossen hatte, niemals zu erwerben.

Mariannes Anlagen waren in vieler Hinsicht denen Elinors ziemlich gleich. Sie war empfänglich und klug; aber in allem überschwenglich, ihre Schmerzen und Freuden waren maßlos. Sie war großmütig, freundlich, anziehend, alles, nur nicht vorsichtig. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrer Mutter war erstaunlich.

Elinor sah mit Sorge, wie ihre Schwester ihren Gefühlen ausgeliefert war, was aber Mrs. Dashwood schätzte und unterstützte. Sie steigerten einander jetzt in der Heftigkeit ihrer Leidempfindung. Der Schmerz der Trauer, der sie anfänglich überwältigte, wurde mit Absicht erneuert, dann begehrt und wieder und wieder heraufbeschworen. Sie gaben sich ihm gänzlich hin, Steigerung des Elends in jedem nur möglichen Gedanken daran anstrebend und entschlossen, jeden Trost in Zukunft abzuwehren. Auch Elinor war tief getroffen: aber sie vermochte doch zu kämpfen, an sich zu halten. Sie konnte mit ihrem Bruder beraten, konnte ihre Schwägerin bei ihrer Ankunft empfangen und ihr mit angemessener Aufmerksamkeit entgegenkommen; und sie vermochte ihre Mutter zu einer ähnlichen Reaktion und zu ähnlicher Duldsamkeit zu bewegen.

Margaret, die andere Schwester, war ein gutmütiges, nettes Mädchen; doch da sie schon Mariannes Romantik großenteils in sich eingesogen hatte, ohne deren Empfänglichkeit zu besitzen, bemühte sie sich nicht, mit dreizehn ihren älteren Schwestern ähnlich zu werden.

Kapitel 2

Frau John Dashwood machte sich nun zur Herrin auf Norland, und ihre Schwiegermutter und ihre Schwägerinnen wurden in den Stand von Gästen herabgesetzt. Als solche wurden sie immerhin von ihr mit ruhiger Höflichkeit behandelt und von ihrem Mann mit soviel Freundlichkeit, wie er für jemanden außer für sich selbst, seine Frau und sein Kind, aufbringen konnte. Ja, er drängte sie, sogar mit einigem Eifer, Norland noch als ihr Heim anzusehen; und da Mrs. Dashwood keinen Plan so annehmbar fand, als dazubleiben, bis sie in der Nachbarschaft ein Haus gefunden hatte, kam sie seiner Aufforderung nach.

Ein Verbleiben an einem Ort, wo alles an ihr früheres Glück erinnerte, entsprach ganz ihrem Wunsch. In Zeiten der Heiterkeit konnte niemand aufgeräumter sein als sie oder in bedeutenderem Grade jene zuversichtliche Glückserwartung besitzen, die das Glück selbst ausmacht. Doch im Schmerz mußte sie ebenso von ihrer Phantasie fortgetragen werden, und sie war gleich fern vom Trost wie in der Freude, ohne Maß.

Frau John Dashwood billigte keineswegs, was ihr Mann für seine Schwestern tun wollte. Dreitausend Pfund vom Vermögen ihres lieben Söhnchens zu nehmen, würde ihn an den Bettelstab bringen. Sie bat ihn, die Sache nochmals zu überdenken. Wie konnte er es vor sich selbst verantworten, sein Kind, sein einziges, einer solchen Riesensumme zu berauben? Und welchen möglichen Anspruch konnten schon die Fräulein Dashwood erheben, die ihm nur zur Hälfte blutsverwandt waren, eine Verwandtschaft, die sie gar nicht als solche erachtete – Anspruch auf seine Freigabe einer so hohen Summe? Erfahrungsgemäß war nicht anzunehmen, daß zwischen Kindern aus verschiedenen Ehen Liebe existierte; und warum sollte er sich und ihren armen kleinen Harry ruinieren, indem er all sein Geld seinen Halbschwestern zuschanzte?

»Es war meines Vaters letzte Bitte an mich«, erwiderte ihr Mann, »daß ich seiner Witwe und den Töchtern helfen sollte.«

»Er wußte nicht, was er redete, meine ich; zehn gegen eins war er verwirrt zu dem Zeitpunkt. Wäre er ganz bei Verstand gewesen, hätte er dich niemals darum gebeten, die Hälfte deines Vermögens deinem eigenen Kind zu entziehen.«

»Er bestand nicht auf einer bestimmten Summe, meine liebe Fanny; er bat mich nur im allgemeinen, ihnen beizustehen und ihre Lage erträglicher zu machen, als es in seiner Macht lag. Vielleicht hätte er es ebensogut ganz mir überlassen. Er konnte kaum annehmen, daß ich sie vernachlässigen würde. Aber da er das Versprechen verlangte, mußte ich es ihm doch geben: zumindest dachte ich damals so. Das Versprechen ist also gemacht, und es muß gehalten werden. Etwas muß für sie geschehen, wenn sie Norland verlassen und sich in einem neuen Heim einrichten.«

»Na, dann laß etwas für sie geschehen. Aber das Etwas muß doch nicht gleich dreitausend Pfund sein. Bedenke«, fügte sie hinzu, »wenn man sich einmal vom Geld getrennt hat, kommt es nicht mehr zurück. Deine Schwestern werden heiraten, und es ist für immer dahin. Wenn es wirklich je deinem armen kleinen Knaben zurückerstattet werden könnte …«

»Ja sicher«, sagte ihr Mann todernst, »das wäre ein großer Unterschied. Die Zeit könnte kommen, daß Harry es bedauert, daß man sich von einer so großen Summe trennte. Wenn er eine zahlreiche Familie haben sollte, wäre es eine angenehme Beisteuer.«

»Aber ganz bestimmt wäre es das!«

»Dann wäre es vielleicht für alle Teile besser, wenn die Summe um die Hälfte verringert würde. Fünfhundert Pfund wären ein wunderbarer Vermögenszuwachs für sie!«

»Oh, jenseits aller Vorstellung! Welcher Bruder auf Erden würde für seine Schwestern halb soviel tun, selbst wenn es seine richtigen Schwestern wären! Und wie es hier liegt – nur Stiefschwestern! Aber du bist dermaßen generös!«

»Ich würde ungern etwas Gemeines tun«, antwortete er, »man sollte bei solchen Gelegenheiten lieber zuviel als zuwenig tun. Wenigstens kann niemand finden, ich hätte nicht genug für sie getan. Sogar sie selbst können kaum mehr erwarten.«

»Das weiß man nicht, was sie erwarten«, sagte die feine Frau, »aber wir können doch nicht über ihre Erwartungen nachdenken: die Frage ist, was du erschwingen kannst.«

»Natürlich; und ich denke, ich vermag fünfhundert Pfund für jede aufzubringen. Auf diese Weise hätten sie ohne Hinzutun aus meinem Vermögen jede über dreitausend Pfund beim Tod ihrer Mutter – ein sehr ansehnliches Vermögen für eine junge Dame.«

»Ganz bestimmt ist es das; und ich finde wirklich, daß sie keinerlei Beisteuer verlangen können. Sie werden zehntausend Pfund unter sich zu teilen haben. Wenn sie heiraten, sind sie sichergestellt oder im Wohlstand, und wenn nicht, können sie alle miteinander sehr bequem von den Zinsen von zehntausend Pfund leben.«

»Wie recht du hast! Und darum frage ich mich, ob es nicht angebrachter wäre, etwas für ihre Mutter bei ihren Lebzeiten zu tun als für sie – so etwas wie eine Rente, dachte ich. Meine Schwestern würden die guten Folgen ebenso spüren wie sie selbst. Einhundert pro Jahr würde sie alle bestens versorgen.«

Seine Frau zögerte etwas, ihre Zustimmung zu seinem Plan zu geben.

»Sicher«, sagte sie, »ist es besser, als sich von fünfzehnhundert Pfund sofort zu trennen. Anderseits, wenn Mrs. Dashwood fünfzehn Jahre leben sollte, sind wir gänzlich hereingefallen.«

»Fünfzehn Jahre! Fanny, Liebe, sie hat nicht mehr halb so lang zu leben!«

»Sicher nicht; aber wenn du dich mal umsiehst, leben die Leute immer ewig, wenn sie eine Rente bekommen, und sie ist sehr kräftig und gesund und noch keine vierzig. Eine Rente ist ein ernstes Risiko; sie läuft und läuft Jahr um Jahr, und man kann sie sich nicht mehr vom Hals schaffen. Du ahnst nicht, was du tust. Das Elend mit den Renten kenne ich zur Genüge. Denn meine Mutter mußte sich meines Vaters Testament zufolge mit der Zahlung an drei hochbetagte Dienstboten herumschleppen, und es ist unglaublich, wie zuwider ihr das war. Zweimal jedes Jahr mußten die Renten bezahlt werden. Und dann der ganze Umstand, sie zu ihnen zu bringen, und dann hieß es, eine von ihnen sei gestorben, und hinterher war es gar nicht so. Meine Mutter hatte es wirklich satt. Ihre Einkünfte gehörten ihr nicht mehr, sagte sie, mit solchen dauernden Ansprüchen darauf; und es war reichlich rücksichtslos von meinem Vater, denn andernfalls wäre das Geld ganz zur Verfügung meiner Mutter gewesen, ohne jede Einschränkung. Das hat bei mir solchen Abscheu gegen Renten verursacht, daß ich mich keinesfalls auf eine solche Zahlung festnageln ließe, nicht um alles in der Welt.«

»Es ist bestimmt etwas Unerfreuliches«, entgegnete Mr. Dashwood, »einen solchen jährlichen Abzug in Kauf zu nehmen. Das Vermögen gehört einem nicht mehr selbst, wie deine Mutter richtig bemerkt. An die regelmäßige Leistung einer solchen Summe an jedem Rententag gebunden zu sein, ist keineswegs erstrebenswert; es nimmt einem die Unabhängigkeit.«

»Zweifellos; und schließlich dankt es dir keiner. Sie halten sich für gesichert; tue du nicht mehr, als was erwartet wird, es bringt sowieso keine Dankbarkeit ein. Wenn ich du wäre, würde ich ganz nach eigenem Gutdünken handeln. Ich würde mich nicht binden, ihnen jährlich etwas zu bewilligen. Es könnte in wenigen Jahren sehr schwierig sein, einhundert oder auch nur fünfzig Pfund von unseren eigenen Unkosten abzuzweigen.«

»Du hast sicher recht, mein Liebes; man sollte in dem Fall besser keine Rente aussetzen; was immer ich ihnen gelegentlich zukommen lasse, ist ihnen von viel größerer Hilfe als eine jährliche Entschädigung, denn sie würden doch bloß auf größerem Fuß leben, wenn sie mit einem größeren Einkommen rechneten, und wären deshalb nicht um ein Sixpence reicher am Jahresende. Es ist bestimmt die beste Form: ein Geschenk von fünfzig Pfund hier und da, das schützt sie vor der schlimmsten Geldnot und wird, meine ich, weitgehend mein Versprechen meinem Vater gegenüber erfüllen.«

»Aber sicher wird es das. Um ehrlich zu sein, ich bin innerlich überzeugt, daß dein Vater gar nicht wollte, daß du ihnen überhaupt Geld geben solltest. Der Beistand, den er meinte, war jedenfalls nur solcherart, wie man ihn vernünftigerweise von dir erwarten konnte; zum Beispiel, daß du ein nettes kleines Haus für sie suchen hilfst, ihnen beim Umzug behilflich bist, ihnen Geschenke wie Fische und Wild zur Jagdzeit sendest und dergleichen mehr. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, daß er nichts weiter gemeint hat; andernfalls wäre es tatsächlich sehr seltsam und unvernünftig von ihm gewesen. Überlege nur, mein lieber Herr und Meister, wie unwahrscheinlich bequem deine Stiefmutter und ihre Töchter von den Zinsen von siebentausend Pfund leben können, außer den tausend Pfund der Mädchen, was jeder je fünfzig Pfund im Jahr einbringt, und dann, natürlich, werden sie davon ihrer Mutter Kost und Logis bezahlen. Im ganzen werden sie fünfhundert im Jahr haben, und was, in aller Welt, können denn vier Frauen noch mehr wollen? – Sie werden so billig wirtschaften! Ihre Haushaltung läuft gar nicht ins Geld. Sie brauchen keinen Wagen zu halten, keine Pferde und kaum Personal; sie werden keinen Verkehr pflegen und können keinerlei Unkosten haben! Bedenke nur, wie gut sie es haben werden! Fünfhundert im Jahr! Ich kann mir wirklich gar nicht vorstellen, wie sie nur die Hälfte davon ausgeben wollen; und wenn du ihnen noch mehr geben willst, so ist das ein ganz absurder Gedanke. Sie werden vielmehr in der Lage sein, dir etwas zu geben.«

»Auf Ehre«, sagte Mr. Dashwood, »ich glaube, du hast vollkommen recht. Mein Vater konnte mit seinem Ansinnen an mich nichts anderes meinen, als was du sagst. Ich sehe jetzt ganz klar und will meine Verbindlichkeit strikt erfüllen durch solche Hilfeleistungen und Freundlichkeiten ihnen gegenüber, wie du sie beschreibst. Wenn meine Mutter in ein anderes Haus umzieht, werden meine Dienste ihr gern zur Verfügung stehen, um sie so gut wie nur möglich unterzubringen. Ein kleines Möbelstück als Geschenk wird ihnen dann ganz willkommen sein.«

»Bestimmt«, erwiderte Frau John Dashwood. »Trotzdem müssen wir uns aber eins vor Augen halten: als deine Eltern nach Norland zogen, wurden zwar die Möbel von Stanhill verkauft, aber das ganze Porzellan, das Silber und die Wäsche wurden gerettet und sind nun auf deine Mutter übergegangen. Ihr Haus wird darum fast komplett ausgestattet sein, sobald sie es bezieht.«

»Das ist natürlich eine wichtige Überlegung. Tatsächlich eine wertvolle Hinterlassenschaft! Doch würde etwas von dem Silber eine sehr erfreuliche Ergänzung unseres eigenen hier gewesen sein.«

»Ja; und das Frühstücksservice ist doppelt so hübsch wie das zu diesem Haus gehörige. Viel zu hübsch, finde ich, für irgendein Haus, das sie sich leisten können. Aber so ist das nun. Dein Vater hat nur an sie gedacht. Und ich muß schon sagen, daß du ihm keinen besonderen Dank schuldest, noch seinen Wünschen Gehorsam; denn wir wissen nur zu gut, daß, hätte er es gekonnt, er fast alles auf der Welt ihnen vermacht hätte.«

Dieses Argument war durchschlagend. Es bestimmte seine Intentionen, denen es bis dahin an Entschlußkraft gefehlt hatte; und endlich entschied er, daß es absolut unnötig, wenn nicht sogar höchst taktlos wäre, für die Witwe und die Kinder seines Vaters mehr zu leisten als solche Art nachbarlicher Hilfe, wie es seine eigene Frau ihm nahegelegt hatte.