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Tomas Sjödin – Warum Ruhe unsere Rettung ist – Stell dir vor, du tust nichts und die Welt dreht sich weiter – Aus dem Schwedischen von Hanna Schott – SCM

Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

 

Inhalt

Prolog

Die Küchenbank

Sich zurückziehen (um nicht verloren zu gehen)

Was passiert beim Ruhen?

Aufatmen

Ein Wochentag als Schwungrad für die anderen Tage

Der Sabbat – Nullmeridian der Seele

Lob der Vollbremsung

Vieles im Leben wird nie mehr als halb fertig

Das Wertesystem der Ruhe

Ich liebe dich. Ich vergebe dir. Das Essen ist fertig.

Eine Spiritualität des Zusammenseins

Küchenbankphilosophie

Ruhen und wachsen

Es geschieht, während du nichts tust

Die Feinde der Ruhe

Die Ruhe ist ein Versteck für die Liebe

Unser Sabbat-Modell

In der ewigen Ruhe pulsiert das Leben

Epilog

Anmerkungen

Über den Autor

Tomas Sjödin ist Schriftsteller, Pastor, Zeitungskolumnist und Autor vieler Sendungen im schwedischen Radio und Fernsehen. Er lebt in Säve bei Göteborg.

Autor

Prolog

DAS TELEFON SCHELLTE um 7 Uhr 15. Es war Samstag, ein Ausschlafmorgen, und alle im Haus lagen in den schönsten Träumen. Ich schreckte auf und hechtete zum Telefon. Am anderen Ende der Leitung stellte sich eine freundliche Dame vor – Name, Vorname, Wohnort –, und dann sagte sie: »Und entschuldigen Sie bitte, dass ich so früh anrufe.«

Es war ihr also klar, was sie da tat. Sie rief nicht aus Versehen um Viertel nach sieben an. Unvermeidlich folgte die Frage: »Habe ich Sie etwa geweckt?«

Doch statt »Ja!« zu antworten, was nichts als die Wahrheit gewesen wäre, räusperte ich mich und ließ meine Stimme so munter klingen, wie es mir möglich war: »Nein, nein … keinesfalls.«

Ich glaube, es gelang mir so gut, dass ich tatsächlich klang, als sei ich schon seit Stunden wach, hätte mein Brot bereits selbst gebacken und mit dem Hund einen langen Morgenspaziergang gemacht (wenn wir denn einen Hund hätten).

Um die freundliche Dame zu entlasten, muss ich sagen, dass sie tatsächlich nicht ohne Grund anrief: Sie wollte gern wissen, zu welchem Thema ich an ihrem Ort einen Vortrag halten würde. Doch als ich in meinem Kalender nachschaute, stellte ich fest, dass dieser Vortrag in genau elf Monaten stattfinden sollte. Es drängte also noch nicht.

Ich fragte so höflich wie möglich, ob sie sich vorstellen könne, etwas später noch einmal anzurufen. Vielleicht in sechs oder sieben Monaten? Das wollte sie gerne tun. Und damit war unser Gespräch beendet.

Ich ging wieder ins Bett und lag da – hellwach. Draußen war es noch stockfinster und auch im Schlafzimmer nachtschwarz. Ich versuchte herauszufinden, warum in aller Welt ich mir an einem dunklen Samstagmorgen die Mühe gegeben hatte, eine Frau anzulügen, die ich noch nicht einmal kannte.

Nachdem ich eine Weile nachgedacht und einige Überlegungen aussortiert hatte – »Ich wollte ja nur nicht, dass es ihr peinlich ist.« –, blieb nur eine Erklärung übrig: Ich hatte mich geschämt, beim Ausschlafen ertappt worden zu sein. In unserem hocheffektiven Land darf so etwas einfach nicht mehr vorkommen.

Das Ruhen ist in Verruf geraten. Wir entschuldigen uns dafür, als wäre es eine Sünde. Wir müssen uns dafür verantworten, als wäre es ein Vergehen. Und was noch schlimmer ist: Wir gehen mit der Ruhe um, als könnten wir eigentlich gut ohne sie auskommen. Das geht so weit, dass wir es schier unverzeihlich finden, müde zu sein.

Dieses Buch ist meine Gegenmaßnahme.

Kapitel 1

Die Küchenbank

ES GIBT EIN Phänomen, das auf halbem Weg zwischen dem ganz Alltäglichen und dem Außergewöhnlichen angesiedelt ist. Je älter man wird, desto häufiger begegnet es einem: Im Gespräch mit Freunden fällt einem plötzlich der Name eines Menschen nicht mehr ein, von dem man gerade etwas berichten möchte.

»Die …, ihr wisst schon, die …«, beginnt man, während man sein Gedächtnis nach dem Namen durchforstet. »Die Mutter von der, die …«

Der Name ist einfach weg. Der Name von einem Menschen, den man schon ewig kennt! Man kratzt sich am Kopf oder geht still alle Buchstaben des Alphabets durch – alte Tricks, um Namen hervorzukramen –, aber nichts hilft. Bis man die Suche aufgibt und einfach sagt: »Wie auch immer, ihr Name spielt ja eigentlich keine Rolle.« Man erzählt einfach weiter – und jetzt fällt einem der Name ein! Völlig klar und selbstverständlich, wie diese Frau heißt! Die Gedächtnislücke ist erst ein paar Sekunden her, aber schon unbegreiflich. Als hätte die eigene Anstrengung das Tor verschlossen, durch das die Information eintreten wollte. Das Geheimnis heißt offenbar: Hör auf, es zu versuchen, dann kann es endlich geschehen.

Ein Gedanke, der mich zum nächsten führt: Wie viele Probleme haben nicht schon ihre Lösung gefunden, während ich mich auf der Küchenbank ausgestreckt habe? Und wie oft habe ich mich nicht schon dort hingelegt, wenn sich eine Sache festgefahren hatte? Manchmal war ich über eine Situation, die unlösbar erschien, verzweifelt. Ein andermal war ich müde, weil ich es wieder und wieder versucht hatte, ohne dass ich die Angelegenheit auch nur einen Millimeter voranbringen konnte.

Ich hab es schließlich sein lassen und alle Versuche aufgegeben. Und genau dann hörte ich so etwas wie das Echo der Stimme meines Vaters: »Ich werd’ mal drüber schlafen.« Und plötzlich ging mir etwas auf, das ich vorher nicht begreifen konnte.

Es steckt ein Geheimnis dahinter. Ein Schatz. Es geschieht, während man nichts tut.

ICH LIEGE AUF der Küchenbank und denke an meinen Vater, der auf der Küchenbank lag und an seinen Vater dachte. Ich weiß nicht, ob mein Vater, als er jung war, mal auf der Küchenbank lag und daran dachte, dass er eines Tages Vater sein würde. Vielleicht träumte er davon? Oder sogar davon, Großvater zu werden, was er mit knapper Not auch schaffte, bevor er in die ewige Ruhe einging? Ich denke auf jeden Fall an meinen Sohn und daran, dass er sich auf unserer Küchenbank so herrlich wohlfühlt und was ihn in seiner Zukunft noch erwartet.

Ich liege oft hier. So oft, wie ich kann. Nicht selten verweilen meine Gedanken bei Menschen aus früheren Zeiten. Beim Ruhen kommt man seiner Geschichte anders näher, als wenn man einkauft, arbeitet oder im Haus werkelt. Die Küchenbank ist deshalb ein ausgezeichneter Platz für die Ahnenforschung. Dabei denke ich nicht an die Ahnenforschung, die klärt, wer die Tante väterlicherseits von dem und dem war, sondern an eine Art innere Ahnenreihe, die uns mit denen verbindet, die uns vorangegangen sind, und denen, die auf ihre Weise an der Ausrichtung unseres Lebenswegs mitgewirkt haben. Mit denen, die wir selbst noch kennengelernt haben, und mit denen, denen wir mit größerem Abstand folgen.

Es ist, als ob die verflossene Zeit und die Zukunft ineinander übergingen, wenn man auf der Küchenbank liegt. Als ob Erinnerungen und Träume miteinander verflochten würden. Wer ruht, erinnert sich. Und er streckt sich gleichzeitig nach der Zukunft aus – nur um zu entdecken, dass die Zukunft uns entgegenkommt. So wie es alle Zeit am Ende tut.

Je länger ich hier liege, desto wichtiger erscheint es mir. Auf gewisse Weise vertieft sich hier das Leben. Zuerst spürt man nur die Entspannung, man lässt sich fallen, lässt los. Aber während ich entspanne, spüre ich, dass auf einer anderen Ebene etwas passiert, dass an diesem Ort auch etwas wächst. Mein innerer Mensch »streckt sich«.

Ich bleibe eine Weile liegen, und meine Gedanken gehen über in ein Gebet, ein Gebet für die Menschen, die ich am meisten liebe. Es ist, als ob die Liebe – die erste Liebe – mich erreicht. Plötzlich ahne ich, dass die Küchenbank mehr als ein Ruheplatz ist. Sie ist auch ein Fluchtfahrzeug, eine Rettungsplanke. Ich liege hier und rette Leben. Zuerst mein eigenes, aber vielleicht und in gewissem Maße auch das anderer. Kann es etwas Wichtigeres geben als das? Wichtigeres als Ruhen?

Aber ich habe hier auch schon ganz anders gelegen: Von Unruhe getrieben, voller Selbstverachtung und Missmut habe ich mich an der Küchenbank – buchstäblich – festgehalten, um nicht umgeweht zu werden. Geschüttelt von dieser Art von Stürmen, die von außen unsichtbar bleiben und in denen man beides ist: Opfer und Täter.

Bei anderen Gelegenheiten hat die Küchenbank das Spielerische in mir geweckt, und ich habe mich in die Zeit zurückversetzt gefühlt, als ich auf der gepolsterten Bank der Großeltern eingeschlafen bin und Opa dann am Morgen die Armlehne losmachte und als Rutsche bis zum Boden herunterklappte. Mein erster Spielplatz. Manchmal, wenn ich so richtig mutig bin, stelle ich mir auch vor, die Küchenbank sei ein Steg, der in die Zukunft und ins Abenteuer führt, dass das Beste noch vor mir liegt. Balancierend gehe ich auf das Unbekannte zu.

Ich habe oft darüber nachgedacht, warum das Bild meines Vaters, das mir in meiner Erinnerung am deutlichsten vor Augen steht, einen Papa zeigt, der Mittagsschlaf macht. Dabei war mein Vater ein aktiver Mensch. Er arbeitete, angelte, sammelte Beeren, spielte Mandoline und handelte mit Textilien.

Er starb vor 25 Jahren, und mit ihm verschwand eine Lebensform, die heute völlig überholt erscheint. Es war vor dem Handy. Vor dem Computer. Vor so ziemlich allem, das uns heute so viel Zeit spart, dass wir kaum noch zum Leben kommen. (In Sachen Zeit »sparen« konnte er damals schon sehr deutlich werden.) Hatte er weniger zu tun als wir heute? Auf keinen Fall. Aber er hatte Ohren für den kaum hörbaren, rhythmischen Schlag einer Ordnung, die mit der Schöpfung erschaffen wurde. Und er hatte den Mut, sich in diesen Rhythmus hineinzugeben.

Trotz aller äußeren Veränderungen kann sogar ich manchmal noch den Takt eines uralten Lebensrhythmus’ hören. Eines Rhythmus’, der viel weiter zurückgeht als die Erinnerung an meinen Vater oder meinen Großvater. Es ist der Herzschlag, der seit dem ersten Schöpfungsmorgen pocht, ein Puls, der seit Jahrtausenden zu spüren ist.

»Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun« (2. Mose 20,9.10).

An und aus. On und off. Das gehört zu einer Lebenskunst, die wir verloren haben und wiedergewinnen müssen; davon bin ich immer mehr überzeugt. Es geht nicht um eine Balance. Was das Leben und unseren Lebensstil angeht, sind meiner Meinung nach wenige Sachen so »daneben« wie der Ausdruck »Balance«, schlimmer noch: »Life-Work-Balance«. Das hört sich für mich wie die Beschreibung eines »perfekten Lebens« an. Aber wer will das denn?

Ich schreibe, weil wir für unser Leben Verantwortung übernehmen müssen, indem wir uns um die Ruhe sorgen. Ich gehöre zu denen, die viel zu tun haben und denen das gefällt. Ich mag die fehlende Balance, wenn sich Dinge tun, wenn etwas los ist. Aber ich habe auch zu ahnen begonnen, dass mindestens ebenso viel passiert, wenn wir nichts tun. Und das regelmäßig.

WENN MAN DIESEN Gedanken – »Auch wenn ich nichts tue, geschieht etwas« – wie ein Raster über verschiedene Situationen legt, stellt man schnell fest, dass es erstaunlich oft passt. Solange man eine Sache verkrampft im Griff hat, verhindert man ihre Entwicklung. Egal, ob es dabei um einen Namen geht, der einem nicht mehr einfällt, um ein Paar Handschuhe, die man verlegt hat, um ein echtes Problem oder eine berufliche Herausforderung.

Aber es gilt auch für die Liebe. Lieben bedeutet, nicht festzuhalten, die Hände zu öffnen. Lieben bedeutet loszulassen und zu sehen, was passiert. Nichtstun ist eine Brücke zu neuen Möglichkeiten. Das, was passiert, während man nichts tut, passiert nicht, wenn man aufs Nichtstun verzichtet.

Ich bin überzeugt, es hat mit dem Vertrauen zu tun, das wir den Kräften entgegenbringen, die größer sind als unsere eigenen. Mit dem Vertrauen, dass Ruhen letztlich und zutiefst zum lebendigen Menschsein gehört.

~

An und aus. On und off. Das gehört zu einer Lebenskunst, die wir verloren haben und wiedergewinnen müssen; davon bin ich immer mehr überzeugt.

Kapitel 2

Sich zurückziehen (um nicht verloren zu gehen)

DEN GRÖßTEN TEIL dieses Buchs habe ich in einem Ruhe-Frühling geschrieben, einer Sabbatzeit. Das hört sich nach einem Widerspruch an: schreiben, wo es doch ums Ausruhen geht. Aber so, wie ich es verstehe, ist es logisch: Ruhen heißt nicht in erster Linie, nichts zu tun. Ruhen heißt, das zu tun, was einem Spaß macht und wobei man sich wohlfühlt. Und vor allem bedeutet es, etwas ganz anderes zu tun als sonst.

Aber wer kann sich heute so etwas leisten? Seit das regelmäßige Ausruhen vom Aussterben bedroht ist, wirkt jemand, der erzählt, dass er gewöhnlich mittags ein Nickerchen macht, als gehörte er ins Museum. Dass man manchmal den ganzen Tag »nichts Gescheites« tut, ist eine Mitteilung, mit der man vorsichtig umgehen sollte. Empfindliche Menschen sollten vor ihr geschützt werden; sie könnten von dieser Nachricht einen Ausschlag bekommen.

Nur was man messen kann, zählt. Ich höre Leute damit angeben, wie wenig Schlaf sie brauchen, und sage mir: Wie schade für sie! Der Schlaf ist doch das Beste, was es gibt. So ausgeruht zu sein, dass man darauf verzichten kann, etwas zu tun – außer einzuschlafen –, ist wohl das Zweitbeste.

Ich habe durch ganz unwissenschaftliche Forschung herausgefunden, dass ich ein völlig durchschnittlich beanspruchter Mensch bin. Nicht so gejagt wie die, die ihren Job zu ihrem Leben gemacht haben und davon berichten, dass sie »24/7 gefordert« sind. (Kaum ein Ausdruck ist übrigens so krank wie dieser. Völlig klar, dass jemand, der sein Leben so beschreibt, auf dem Weg zum Crash ist.) Ich bin auch nicht jemand, der es nie schafft, im Garten zu buddeln oder lange Waldspaziergänge zu machen. Ich befinde mich wohl irgendwo dazwischen.

Dass ich zu den häufig »besetzten« Menschen gehöre, macht mich nicht stolz. (Im Schwedischen verwendet man für »beansprucht« und »besetzt« dasselbe Wort. Eine Toilette oder ein Umkleideraum können besetzt sein, ein Mensch aber auch. Anm. d. Übers.) Wer »besetzt« ist, bezahlt dafür einen Preis, und den kann man bei den Menschen ablesen, die ihm am nächsten stehen. Beim (Un-)Vermögen, Nähe zu geben, erreichbar zu sein, helfen zu können.

Ich finde es selbst traurig, aber ich glaube, dass ich als eine ziemlich gestresste Person wahrgenommen werde. Und man muss kein Prophet sein, um feststellen zu können, dass ich nicht der Einzige bin, der so wirkt.

Man sagt, es sei Unsinn, ein und dieselbe Sache wieder und wieder zu tun und dabei unterschiedliche Resultate zu erwarten. Um also zu vermeiden, dass die nächsten zehn Jahre im Prinzip genauso verlaufen wie die vergangenen zehn, habe ich vor anderthalb Jahren eine Auszeit von zweieinhalb Monaten geplant. Ein sogenanntes Sabbatical.

Nach Wikipedia ist ein Sabbatical eine arbeitsfreie Zeit von etwa zwei Monaten bis zu einem Jahr Länge, eine Unterbrechung des Berufslebens mit dem Ziel, etwas anderes zu erreichen. In der modernen Gesellschaft, heißt es bei Wiki, werde ein Sabbatical oft eingesetzt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Ein Buch zu schreiben oder eine große Reise zu machen, sind die Beispiele, die angeführt werden. Das ist so logisch wie bezeichnend. Es muss etwas abwerfen!

Wenn man so denkt, hat man jedoch den entscheidenden Punkt verfehlt: dass ein Sabbatical zu nichts führen muss. Trotzdem schreibe ich dieses Buch. So zwiespältig ist die Angelegenheit. So zwiegespalten bin ich.

Meine Auszeit hat genau die Mindestdauer, um bei Wikipedia als Sabbatical durchzugehen. Ich will Zeit für Ruhe haben und gleichzeitig versuchen, gute Gründe für die Ruhe zu sammeln. Nicht, um sie zu rechtfertigen; das hat sie nicht nötig. Aber ich merke, dass das Nichtstun und das schlechte Gewissen sich so eng verbunden haben, dass ich für das Nichtstun Entschuldigungen suche.

Ich habe früher schon einmal eine ähnliche Unterbrechung erlebt, vor exakt 25 Jahren. Nach einigen Jahren Dienst in der kirchlichen Welt zog ich von unserer Wohnung in der Göteborger Stadtmitte in ein rotes Backsteinhaus, das ein wenig an ein viktorianisches Schloss erinnerte und im Süden von London lag. Ich wohnte in einem Fünfbettzimmer, zusammen mit jungen Theologiestudenten aus allen Ecken Europas. Wir studierten Homiletik und Exegese, es war Winter und grässlich kalt. Der Wind blies ungehindert durch die kleinen einfachverglasten Fenster, und in der ersten Zeit widmete ich die Abend- und die frühen Morgenstunden dem Heimweh.

Ich lernte eine Menge in diesen Monaten. Das Meiste habe ich wieder vergessen. Ich weiß noch nicht einmal mehr, welche Kurse ich belegte. Bis heute lebendig ist dagegen die Erinnerung an den Perspektivwechsel, daran, wie sich mein Blick auf das daheim Zurückgelassene veränderte. Ich hatte alle laufenden Projekte liegen gelassen, alles, was mich bis über die Ohren beschäftigt hatte, und bekam die Chance, es aus der Distanz zu betrachten: Ich sah Brüche in dem, was ich selbst mit geschaffen hatte, sah, wie wir dabei waren, ein Haus zu bauen, ohne ein Fundament gelegt zu haben, aktiv waren, ohne von einer Idee getragen zu sein. Solange ich mittendrin war, in alles eingebunden, hatte ich das nicht erkannt.

Ich reiste von England nach Hause – mit dem Schiff – und wurde ein unbequemer Mitspieler. Natürlich war ich noch derselbe Mensch, der in dem zugigen Seminar gewohnt hatte, jetzt, ein paar Wochen später, als Bewohner der Tegnérgatan, mitten in Göteborg. Ich war auch nicht nennenswert gealtert und sicher nicht reifer geworden. Trotzdem gab es einen großen Unterschied: In England hatte ich Zeit gehabt. Die Zeit, die mir bei meiner Arbeit in der Innenstadtgemeinde fehlte.

Im Nachhinein verstand ich, dass der Wunsch zu studieren für meinen Aufenthalt in England nur ein Vorwand gewesen war. Ich zählte die Punkte für meine Kurse zusammen, aber was wirklich zählte, war etwas anderes: Die Ruhe, die Auszeit, das war der Punkt. Loszulassen, nicht eingreifen zu können, gezwungen zu sein, die Dinge so zu lassen, wie sie waren, und mit diesem Zustand meinen Frieden zu schließen. So vieles hatte mich eingeholt, Sachen, die sonst einfach weitergelaufen wären, vermutlich jahrelang, vielleicht jahrzehntelang.

ALS ICH MICH diesmal, 25 Jahre später, für zweieinhalb Monate zurückziehen wollte, ging es weniger um mein Verhältnis zur Arbeit. Es ging um mein eigenes Leben.

Zuerst stellte ich mir meine neue Freiheit wie einen langen, ununterbrochen dahinfließenden Zeitstrom vor. Aber ich merkte schon bald, dass diese Vorstellung mich eher rastlos als ruhig machte. Deshalb skizzierte ich einen Wochenplan: ein bisschen reisen, lesen, nachdenken, beten, dazu Zeit für Alltägliches: Geselligkeit, Freunde; Kochen, Putzen, Waschen.

Gern wollte ich mir auch noch einen anderen Wunsch erfüllen: Ein paar Jahre zuvor war ich auf einige Gedanken gestoßen, die hinter dem jüdischen Sabbatgebot stehen. Sie hatten mich neugierig gemacht und meine Vermutung verstärkt, dass das jüdische Volk etwas bewahrt und wertschätzt, dass unsere Beschleunigungsgesellschaft vergessen hat. Etwas ganz Einfaches. Etwas ganz Kraftvolles.

Alles begann damit, dass ich das Buch des Theologen Göran Larsson las: »Zeit für Gott«1. Das führte mich zu den Klassikern der Sabbat-Literatur, Abraham Joshua Heschels »The Sabbath«2, Eviatar Zerubavels »The Seven Day Circle« und »The Sabbath World« von Judith Shulevitz3. Und schon befand ich mich mitten in einem Universum von Gedanken, Erzählungen, Anekdoten, Regeln und Deutungen, die alle auf dasselbe wiesen: einen Tag in der Woche als Schwungrad und Taktgeber für alle anderen.

Oder in meiner Version: Es braucht nur einen Tag in der Woche, um ein Leben zu retten.

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Es braucht nur einen Tag in der Woche, um ein Leben zu retten.

Kapitel 3

Was passiert beim Ruhen?

ICH HOFFE, DASS die Ruhe niemals Mode wird. Wie Brot aus Sauerteig oder Cupcakes zu backen, Kaminholz-Hacken oder eine kleine eigene Schafherde zu halten, um nur die letzten schwedischen Moden zu nennen. Das Einzige, was man von Moden wissen kann, ist, dass sie bald nicht mehr Mode sind. Moden kommen und gehen, genau wie all die Tipps für ein glücklicheres Leben oder einen Waschbrettbauch.

Die Ruhe ist uralt. Sie führt uns zu etwas, das jenseits des Räumlichen und Sichtbaren ist, sie bringt uns in Kontakt mit dem Herzschlag, der seit Urzeiten im selben Rhythmus pocht und dessen Schlag nicht aufhören wird, wenn es uns nicht mehr gibt, weil wir »die ewige Ruhe« erreicht haben, wie das Leben nach dem Tod bezeichnenderweise genannt wird. Arbeit und Ruhe, Arbeit und Ruhe, Arbeit und Ruhe. So monoton, so gewöhnlich und unspektakulär ist der Klang des guten Lebens.

Das Wort »Ruhe« ist so kurz, so schlicht und so bescheiden, dass es im Geschnatter aller Nachrichten fast untergeht. Dabei ist es doch raumgreifend. Es öffnet etwas: einen Raum, einen Windschutz, ein Versteck für die Liebe. Es ist etwas so Außergewöhnliches wie ein Weg zurück ins verlorene Paradies und etwas so Handfestes wie ein Rettungsring.

Die Ruhe kann ein Augenblick sein, an dem ich noch auf dem Steg am See bleibe, oder ein langer, mehrere Wochen dauernder Urlaub. Ein Nickerchen oder eine kleine Joggingrunde, ein paar Minuten, in denen ich am Schreibtisch die Augen schließe, dasitze und mir vorstelle, dass ich eine Weile aufs Meer schaue oder auf ein wogendes Weizenfeld. Die Ruhe ist etwas, das wir wählen – um der Liebe willen und weil unser Lebenslauf nur mit Pausen gelingt.

ES GIBT EINIGE ganz alltägliche Beobachtungen, die den Erzählungen, Reiseerlebnissen, Geschichten und Überlegungen, die sich in diesem Buch finden, gemeinsam sind.

Die erste ist: Ruhen heißt loslassen.

Vieles in diesem Leben ist unerreichbar, solange man es angestrengt erreichen will. Aber dann gelingt es plötzlich, mit beeindruckender Selbstverständlichkeit – wenn man loslässt. Jeder, der Kreuzworträtsel löst, kennt das Phänomen. Wenn man das Kreuzworträtsel zur Seite legt, weil es einfach nicht zu lösen ist, und es später am Tag noch einmal zur Hand nimmt, fallen einem die fehlenden Wörter oft ohne Anstrengung ein.

Ich habe für mich entdeckt, dass die simpelste aller Regeln – »Lass es sein!« – eine glänzende Strategie für viele Dinge in unserem Leben ist. In der Liebe eröffnet sie geradezu schwindelerregende Perspektiven: Wenn man den anderen loslässt, gewinnt man ihn. Immer und immer wieder. Lieben heißt zu fallen. Ruhe bedeutet, eine Zeit lang zuzulassen, dass man die Kontrolle verliert – und das Leben auf einen zukommt.

Die zweite Beobachtung:

Die Ruhe ist vom ersten auf den letzten Platz gerutscht.

Es ist erstaunlich, dass alle Ausdrücke, die wir im Zusammenhang mit Ruhe benutzen, etwas beschreiben, das danach kommt: »sich erholen«, »sich entspannen«, »durchatmen« … Wenn man an den Beginn der Zeiten zurückgeht, zu dem Augenblick, in dem die Ruhe geschaffen wurde – ich benutze das Wort »geschaffen« ganz bewusst (mehr dazu im nächsten Kapitel) –, dann stellt man fest, dass, was den Menschen angeht, alles irdische Leben mit der Ruhe begann.

ICH VERSUCHE MANCHMAL, mir die einzelnen Schöpfungstage vorzustellen und sich vor meinem inneren Auge abspielen zu lassen, wie da aus nichts etwas hervortrat. Wie Gott das Licht rief und das Licht hervorbrach, wie er das Meer vom Land schied und den Tag von der Nacht. Mit seinem Wort rief er die Sonne und den Mond, Linden und Ulmen, Tapire und Schildkröten, Ameisen und Stechmücken. Am sechsten Tag, als alles andere geschaffen war, rief er den Menschen ins Leben. Dann machte Gott mit den Menschen einen Rundgang durch das Paradies, das er geschaffen hatte, nannte einige Spielregeln und sagte: »Und morgen früh, wenn ihr wach werdet, ist hier übrigens Feiertag.« Das sagte er zu zwei Wesen, die bis dahin noch keinen Finger gerührt hatten. Sie waren gerade erst angekommen. Verschlafen, splitternackt und nigelnagelneu standen sie da. Und das Erste, was sie »tun« sollten, war: ruhen.

Man kann daraus zwei Schlüsse ziehen. Der eine ist theologisch: Bis der Mensch auf die Bühne tritt, ist das Meiste bereits erledigt. Er muss die Welt nicht (noch einmal) schaffen. Die Welt ist schon fertig – ein Gedanke, in den man sich in Ruhe (!) vertiefen kann.

Der andere Schluss ist lebenspraktisch: Es ist klug, die Ruhe an die Stelle zu setzen, die ihr zugedacht ist: an die erste Stelle. Statt den ganzen Herbst über wie ein Verrückter zu arbeiten und an Weihnachten vor Müdigkeit mit dem Kopf in den Gänsebraten zu fallen