Cover

Impressum

www.beltz.de

© 2007 Beltz I Der KinderbuchVerlag

in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Erstmals erschienen 1982

Alle Rechte vorbehalten

Neue Rechtschreibung

ISBN 978-3-407-74830-0

77152_KJB_Abb_018.jpg

Die Vorgeschichte

oder: Wie Kittsburgh zu einem Affen kam

Pinky saß auf seiner Mülltonne und träumte.

Die Mülltonne war kakelbunt angemalt und stand auf dem Dach des Hauses. Pinky hatte sie gefunden. Nun ja, nicht richtig gefunden, aber auch nicht richtig gestohlen. Sie lag eines Morgens mitten auf der Straße. Pinky stellte sie erst einmal auf den Bürgersteig. Nicht dass er besonders ordentlich war, aber er liebte Autos, und der Gedanke, dass eines zu schnell um die Ecke biegen und mit der Mülltonne zusammenstoßen könnte, gefiel ihm gar nicht. Als die Mülltonne am späten Nachmittag immer noch auf dem Bürgersteig herumstand, rollte er sie auf den Hof und stellte sie zwischen das Gerümpel, das dort überall herumlag. Er wartete zwei Tage, dann schleppte er sie auf das Dach, schrubbte sie aus, bemalte sie und erklärte sie zu seinem Thron.

Da hockte er nun, sechs Stockwerke über der Stadt, an einen Schornstein gelehnt, ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen und träumte seinen Lieblingstraum: Ganz Kittsburgh war im Centralpark zusammengelaufen, die Kapelle spielte einen Tusch, der Bürgermeister hob die Hand, ein Raunen lief durch die Menge, das Tuch fiel und gab das neue Denkmal frei. Und da stand er, Pinky, in Marmor auf einem Sockel, an dem geschrieben stand: »Die Stadt Kittsburgh ihrem großen Sohn«.

An dieser Stelle wechselte Pinkys Traum von Mal zu Mal. Einmal wurde ihm ein Denkmal gesetzt, weil er ein berühmter Jazztrompeter geworden war, dann ein Astronaut, dann wieder ein Erfinder ... am liebsten aber träumte Pinky, er wäre der berühmteste Detektiv der USA; daher auch sein Spitzname: nach dem großen Pinkerton, der im vorigen Jahrhundert die weltberühmte Detektivagentur gegründet hatte.

Von der Straße gellte Monsters Pfiff. Pinky schob den Kopf über die Dachbrüstung. Monster fuchtelte aufgeregt mit den Armen und gab das Zeichen: Supersuper! Pinky sprang, so schnell er konnte, die rostigen Stufen der Feuerleiter an der Außenwand des alten Backsteinhauses hinunter.

»Ein Zirkus, ein Zirkus!« Monster gestikulierte aufgeregt mit den Armen. Sie liefen durch den Centralpark, dann den Washington-Boulevard hinunter, hätten beinahe einen Polizisten umgerannt, der mit weit aufgerissenem Mund gähnte, als gäbe es nichts Langweiligeres, als am Washington-Boulevard mit seinen vielen Geschäften Streife zu gehen. Dann liefen sie durch die 53. Straße und noch nie war sie ihnen so lang vorgekommen wie heute. Endlich erreichten sie die Festwiese. Die Zirkuswagen standen im Halbkreis, wie eine Wagenburg in einem Indianerfilm, und in ihrer Mitte lagen bereits die Bahnen des Zeltes; gerade wurden die Zeltmasten abgeladen.

Ein kleiner Wanderzirkus! Für Pinky und Monster aber war es wie ein Wunder aus einer anderen Welt: kein Fernsehen, kein Kintopp, wo man nie wusste, war es nun Schein oder Wirklichkeit, hier gab es richtige Löwen, Pferde, zwei Elefanten und — Affen.

Pinky und Monster liebten Tiere. Die beiden trieben sich oft in dem kleinen Gehege herum, das sich hochtrabend »Kittsburgh-Zoo« nannte, aber nur ein paar Käfige mit Vögeln, ein halbes Dutzend Pfauen, Präriehunde, zwei Elche und einen alten Bisonbullen beherbergte. Zugegeben, nicht gerade prächtig, aber für zwei zwölfjährige Jungen, die in den dunklen Zimmern von »Potters Kinderheim« lebten, war es ein Paradies. Und kostenlos!

Im Zirkus hingegen wollte man schon für den billigsten Stehplatz fünfzig Cent. Woher nehmen? Ihnen fiel nicht einmal ein, wo sie es hätten stehlen können. Und verdienen? Seit es so viele Arbeitslose in Kittsburgh gab, nahmen die Erwachsenen den Jungen sogar die kleinen Gelegenheitsarbeiten als Autowäscher oder Zeitungsausträger weg. Auch auf der Festwiese standen ein paar Dutzend Männer und hofften, dass sie vielleicht einen Dollar verdienen könnten. Doch die Leute vom Zirkus schienen keine Hilfe zu brauchen.

Sie sahen ein Mädchen, das zwischen den Wagen mit einem halben Dutzend Bällen jonglierte.

»Du bist doch bestimmt vom Zirkus?«, erkundigte sich Pinky.

»Bin ich.« Das Mädchen sah die beiden nicht an, es hatte nur Augen für seine Bälle.

»Trittst du auch auf?«, wollte Monster wissen.

»Klar. Jeden Nachmittag und jeden Abend.«

»Mit den Bällen, was? Das kannst du auch prima!«

»Ihr solltet mich mal sehen, wenn ich das auf dem Elefanten mache.«

»Auf ‘nem richtigen Elefanten?«, rief Pinky.

»Mensch, bist du doof! Denkst du, wir haben welche aus Pappe?«

»Wir würden uns das gerne mal ansehen«, sagte Monster, »es gibt da nur ein Problem.«

Das Mädchen ließ einen Ball nach dem anderen in seine Arme fallen, dann musterte es die beiden von Kopf bis Fuß.

»Ihr habt kein Geld?«

»So ist es«, sagte Monster. »Wir sind aus ‘nem Waisenhaus.«

Das Mädchen überlegte. »Ich will mal sehen, was ich für euch tun kann«, sagte es. »Seid morgen um halb vier am Eingang und fragt nach mir. Ich bin Cindy.«

»Machen wir!«, riefen Pinky und Monster wie aus einem Mund. Sie lungerten noch bis zum Einbruch der Dunkelheit am Zirkusgelände herum und sahen zu, wie das Zelt aufgebaut und der Eingang geschmückt wurde. Dann flammten lange bunte Lichterketten auf und Musik dröhnte aus den Lautsprechern zur Stadt hinüber.

Weil sie zehn Minuten zu spät ins Heim kamen, schickte Potter sie ohne Abendbrot ins Bett und am nächsten Tag mussten sie zur Strafe die Treppe scheuern. In ihrer Wut schrubbten sie die abgetretenen Stufen so blank, dass die Blindschleiche, wie sie Missis Potter nannten, sie ausnahmsweise einmal lobte und jedem einen Apfel als Belohnung gab. Erst als sie hineinbeißen wollten, stellten sie fest, dass die Äpfel schon Faulstellen hatten. Und Ausgang bekamen sie auch nicht. Potter befahl ihnen, den Dachboden aufzuräumen.

»Können wir dann gehen?«, fragte Pinky.

Potter nickte vergnügt. »Dann dürft ihr gehen.« Er dachte sicher, dass die beiden mindestens zwei Tage dafür benötigten, er hatte ja keine Ahnung, dass der Dachboden längst aufgeräumt war. Pinky und Monster hatten schon vor ein paar Wochen das Gerümpel auf die Straße geschleppt und zwei Häuserblocks weiter auf einem Ruinengrundstück abgelegt. Die verbliebenen alten Möbel hatten sie an der einen Wand aufgetürmt und den Boden nicht nur gefegt, sondern sogar gescheuert. Seitdem nutzten sie den Boden als Baseballplatz.

Potter passte auf, dass sie auch tatsächlich nach oben gingen. Sie setzten sich auf das Dach und ließen sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Als die Uhr der St.-Josephs-Kirche drei schlug, kletterten sie über die Dachbrüstung und sprangen die Feuerleiter hinunter. Zu schnell. Das Dröhnen der Treppe alarmierte Potter. Als Pinky gerade am zweiten Stock vorbeifegte, schoss Potters Arm aus dem Fenster und packte Pinky am Fußgelenk. Er konnte sich noch an dem Geländer festhalten, sonst wäre er kopfüber hingestürzt. Monster konnte seinen Schwung nicht mehr abbremsen und prallte hart auf Pinky auf. Potter zog ihn am Fuß zum Fenster herein und schnauzte: »Kommt mal rein, aber dalli!« Potter baute sich vor den beiden auf, stemmte die Fäuste in die Seite und blickte sie drohend an. »Also abhauen wolltet ihr! Das setzt acht Tage Ausgangssperre und vier Wochen Fernsehverbot.«

»Warum«, maulte Monster, »wir haben doch ...«

»Schnauze, Bastard!«, brüllte Potter. »Jetzt rede ich.« Aber dann sagte er kein einziges Wort, sondern starrte sie nur an. »Ich warte auf eine Erklärung«, knurrte er endlich. »Wird’s bald?«

»Sie haben erlaubt, dass wir gehen können, wenn der Boden aufgeräumt ist«, sagte Pinky. »Wir sind fertig.«

»Na, das wollen wir uns mal ansehen!« Potter packte mit der linken Hand Pinky am Ohr und mit der rechten Hand Monster, so schob er die beiden vor sich die Treppe hinauf. Als er den Bodenraum sah, ließ er sie los, schüttelte den Kopf und kaute auf seinem Schnurrbart.

»Wie habt ihr denn das so schnell geschafft?«, fragte er.

Monster sagte gar nichts, er rieb sich wütend sein Ohr, bei ihm griff Potter immer doppelt hart zu. Pinky zuckte nur mit den Schultern.

»Dürfen wir gehen?«, fragte er.

»Erst mal nach unten!«, kommandierte Potter. Vor der Tür des Heimes blieb er stehen. »Da ihr so fixe Jungens seid«, sagte er, »könnt ihr schnell mal zum Gemeindehaus gehen, da sind zwei Bündel Kleidung für uns abzuholen.«

»So ein gemeiner Schuft«, schrie Monster, kaum dass sich die Tür hinter Potter geschlossen hatte. »Ade, Cindy, ade, Zirkus! Wir brauchen doch fast eine Viertelstunde bis zum Gemeindehaus, die ganze Straße runter und die Siebzehnte wieder zurück, und mit den Bündeln dauert es noch länger!«

»Nehmen wir die Luftlinie«, sagte Pinky und rannte die Treppe hinauf. »Wir werden doch nicht wegen ein paar abgelegter Hosen auf den Zirkus verzichten. Schlimm genug, dass wir in Secondhand-Klamotten rumlaufen müssen.«

»Wir sind ja nur Secondhand-Guys1«, fluchte Monster.

Sie waren schon oft über die Dächer gelaufen und kannten fast jeden Fußbreit hier oben. Doch es war ganz etwas anderes, freihändig herumzuturnen, als mit dicken Kleiderbündeln auf dem Buckel über die schmalen Simse und um die Schornsteine herum zu balancieren, sechs Stockwerke über dem Boden, zumal sie dabei noch über einen Spalt zwischen zwei Häusern springen mussten, der gut anderthalb Meter breit war.

»Ich springe zuerst«, sagte Monster, »du wirfst mir dann die Bündel hinüber, aber pass auf, dass sie nicht auf dem Hof landen.«

Pinky traute sich gar nicht, einen Blick nach unten zu werfen. Er bereute schon lange, dass er diese tollkühne Idee gehabt hatte.

Zehn vor halb vier warfen sie keuchend die Bündel vor Potter auf den Boden, der riss Mund und Augen auf und starrte sie an wie ein Weltwunder. Pinky und Monster warteten nicht, bis er die Sprache wiederfand, sie stürzten davon.

Der Eingang zum Zirkus war mit Besuchern verstopft, und als sie sich endlich bis zur Kasse durchgedrängelt hatten, schüttelte die Kassiererin den Kopf.

»Cindy ist längst in der Garderobe«, erklärte sie, »die muss sich doch umziehen und schminken.«

Ohne Eintrittskarten wollte die Frau sie nicht durchlassen, und als sie sich von hinten auf das Gelände schleichen wollten, mussten sie feststellen, dass inzwischen ein Holzzaun den Zirkus lückenlos einschloss. Monster warf sich ins Gras und trommelte wütend mit den Fäusten auf den Boden. Pinky setzte sich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Versuchen wir es eben morgen wieder, morgen klappt es bestimmt«, tröstete er seinen Freund, dabei war ihm selbst zum Heulen.

77152_KJB_Abb_015.jpg

Am nächsten Tag waren sie bereits um halb vier am Eingang, doch Cindy ließ sich nicht blicken. Sie warteten und warteten. Halb Kittsburgh schien in den Zirkus zu gehen, nur sie mussten draußen bleiben. Schließlich gab Pinky es auf.

»Ich bleibe«, erklärte Monster, »vielleicht kommt sie doch noch.«

»Die hat uns längst vergessen«, sagte Pinky und trollte sich.

Als er durch den Centralpark lief, schnappte er ein paar Worte auf: ... »Millionen« ... »Gangster« ... »Verbrecher« ...

Pinky schlug einen Haken, der Detektiv in ihm war erwacht. Er huschte ins Gebüsch und schlich sich an die Bank, von der die Worte gekommen waren. Den einen der beiden alten Männer, die dort saßen, kannte Pinky. Jeder in Kittsburgh kannte ihn: Jonathan W. Morgan, der Besitzer des größten Warenhauses, mehrerer Dutzend Läden, Restaurants und riesiger Ländereien rund um die Stadt. Man vermutete, er sei der reichste und mächtigste Mann von Kittsburgh. Und der geizigste.

»Stimmt’s nicht«, sagte er gerade, »wäre es nicht ein Verbrechen, meine Millionen derart aufs Spiel zu setzen?«

Pinky lauschte und mit der Zeit konnte er sich einen Reim auf die Geschichte machen: Morgan hatte Angst, seine beiden Söhne würden sich nach seinem Tod bis aufs Messer befehden, um den anderen um sein Erbteil zu bringen.

»Du weißt doch«, sagte Morgan, »was für Gangster die beiden sind.« Aber er sagte es nicht ohne Bewunderung, er war stolz auf seine Söhne.

»Schreib doch in deinem Testament, was jeder bekommen soll«, schlug der andere Mann vor.

»Bist du verrückt? Dann erfährt doch auch das Finanzamt, wie viel ich wirklich besitze, und meine Söhne müssen riesige Steuern bezahlen.«

»Am Ende sogar noch die Steuern, die du nie bezahlt hast«, meinte der andere und kicherte.

»Wenn ich nur wüsste, wie ich die beiden dazu bringen kann, ehrlich miteinander zu teilen. Ich gäbe sonst was dafür.«

»Was?«, fragte Pinky laut. Die beiden Männer fuhren herum.

»Hast du uns belauscht, verdammter Bengel?«, schrie Morgan. Wütend schüttelte er den Kopf. »Da setzen wir uns extra in diesen verdammten Park, damit uns niemand zuhören kann, und nun das!«

»Ich hab nur zufällig Ihr Gespräch gehört«, beschwichtigte Pinky. »Ich weiß eine Lösung für Ihr Problem. Was geben Sie mir dafür?«

»Einen Dollar.«

Pinky grinste. Wenn Morgan so dumm war, nicht selbst auf die Lösung zu kommen, sollte er auch dafür zahlen. Mindestens hundert Dollar. Oder tausend? Aber dann fiel Pinky ein, dass er gar nichts mit Geld anfangen könnte. Höchstens verstecken. Und dann immer die Angst haben, dass ein anderer es fände und einfach einsteckte. Wer würde einem Waisenkind, das so arm war, dass es auf Kosten der Stadt in »Potters Kinderheim« untergebracht werden musste, glauben, er hätte das Geld nicht gestohlen? Und selbst wenn Morgan bestätigte, es Pinky gegeben zu haben, war es verloren. Dann müsste er es bei Potter abliefern.

»Freien Eintritt zum Zirkus«, sagte Pinky kurz entschlossen, »für mich und meinen Freund, solange der Zirkus in Kittsburgh bleibt.«

Morgan nickte.

Viel zu schnell, überlegte Pinky und er fügte hastig hinzu: »Und einen Affen für den Zoo.«

Morgan lachte. Pinky schien ihm zu gefallen. »Aber nur, wenn du wirklich eine Lösung weißt«, sagte er, »und wenn du schweigen kannst. Zu keinem Menschen ein Wort!«

Pinky versprach es.

»Raus mit der Sprache.«

»Erst den Zirkus bezahlen«, forderte Pinky, »und den Affen.«

»Vertraust du mir nicht?«

»Wer wird schon einem reichen Mann trauen«, antwortete Pinky.

Morgan grinste. »Erst die Ware, dann das Geld«, sagte er.

»Bei Ihnen im Warenhaus geht es umgekehrt«, erwiderte Pinky. »Ich bin doch nicht dumm. Wenn ich es Ihnen jetzt sage, bekomme ich nie etwas. Erst zahlen!«

»Du bist ein harter Geschäftsmann, was?« Morgan kniff die Augen zusammen und musterte Pinky.

Sie gingen zum Zirkus, doch Morgan kaufte keine Eintrittskarten. Er ließ den Direktor kommen, sagte ihm nur, wer er war, und ließ sich zwei Dauerfreikarten geben. Pinky streckte die Hand aus, aber Morgan steckte die Karten in die Tasche. Dann gingen sie zum Rathaus. Der Bürgermeister machte ein ziemlich dummes Gesicht, als Morgan ihm einen Scheck gab: »Eine Spende für den Zoo. Aber es muss ein Affe dafür gekauft werden.«

Dann schickte Morgan den Bürgermeister hinaus, hielt Pinky die Eintrittskarten hin: »So, nun raus mit der Sprache!«

Pinky musste ihm die Lösung ins Ohr flüstern. Morgan schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin! Natürlich.« Er sah Pinky erstaunt an. »Das ist ja eine Tausend-Dollar-Antwort.«

Tausend Dollar bekam immer der Sieger im Fernsehquiz. Pinky hätte sich vor Wut in den Hintern beißen können, dass er nicht mehr verlangt hätte, zum Beispiel jeden Tag zwei Paar Würstchen und Cola gratis in einem von Morgans Selbstbedienungsrestaurants. Und Eis! So viel er und Monster verdrücken konnten. Wenigstens ein einziges Mal.

Morgan grinste nur, als Pinky ihn jetzt noch darum bat. »Ich gebe nie mehr, als ich unbedingt muss«, sagte er.

Pinky kochte vor Wut und beruhigte sich erst wieder, als er auf seiner Mülltonne saß und über die Dächer der Stadt blickte. Wer außer mir, dachte er, hat schon Freikarten für alle Vorstellungen? Jeder fängt klein an. Auch Pinkerton hat einmal ganz klein anfangen müssen. Wenn er erst einmal ein berühmter Detektiv war, dann sollten die Reichen schon bluten, wenn sie seine Hilfe brauchten.

Nur den Morgans würde er nie wieder helfen, mochten sie bieten, so viel sie wollten. Nie wieder.

Als er dann mit Monster im Zirkus saß und die Pferde und Löwen, die Affen und Clowns sah, war er doch sehr zufrieden, zumal er sich sagen konnte, dass er klüger gewesen war als der gerissene Morgan. Schlimm war nur, dass er mit niemandem darüber sprechen durfte, nicht einmal mit Monster. Dem hatte Pinky erklärt, dass er einem alten Mann im Centralpark geholfen und dafür die Freikarten bekommen hätte.

Cindy hatte sie nicht vergessen. Als sie die Manege betrat, erblickte sie Pinky und Monster und winkte ihnen zu. Es war ein toller Anblick, wie sie sich auf den Rüssel des Elefanten setzte, von ihm auf den Rücken gehoben wurde und dann dort oben mit ihren Bällen jonglierte, während der Elefant im Kreis herummarschierte. Pinky und Monster klatschten noch, als Cindy schon aus dem Zelt verschwunden war und die Ponys hereinkamen. Nach der Vorstellung fing Cindy die beiden ab.

»Wo wart ihr denn?«, sagte sie. »Ich habe auf euch gewartet.«

»Wir sind nur ein paar Minuten zu spät gekommen«, erklärte Monster. »Wir waren ganz schön traurig, das kannst du uns glauben.«

»Na, ihr seid ja auch ohne meine Hilfe reingekommen«, sagte sie, »und sitzt sogar in der Loge.«

»Und das jeden Tag.« Monster lächelte sie an. »Ich werde keine deiner Vorstellungen versäumen.«

Zehn Tage lang hockten sie jeden Nachmittag im Zirkus, und auf den allerbesten Plätzen dazu: in der Direktionsloge, ganz vorne an der Manege. Wenn die Raubtiere vorgeführt wurden, saß ein Löwe direkt vor ihrer Nase auf seinem Podest. Es roch herrlich nach Wildnis, und wenn der Löwe brüllte, kroch ihnen ein kalter Schauer über den Rücken. Zweimal gingen sie sogar in die Abendvorstellung.

Da sie nur zwei Jungen im Heim waren, hatte Potters Frau das Jungenschlafzimmer kurzerhand mit Beschlag belegt und zu ihrem Näh- und Bügelzimmer erklärt. Nur wenn einmal jemand von der Stadtverwaltung kam, um das Heim zu besichtigen, wurden schnell zwei Betten in dem Zimmer aufgestellt, und Pinky und Monster wurden verwarnt, ja nicht zu verraten, dass sie eigentlich in der kleinen Kammer schlafen mussten. Doch die Kammer hatte auch einen Vorteil: das Fenster. Es war so klein, dass Potter gar nicht auf die Idee kam, jemand könne dort hinausgelangen. Für Pinky und Monster aber war das kein Problem. Das Fenster lag so günstig, dass sie mit einem Schwung auf die Feuerleiter hangeln und sich heimlich aus dem Staub machen konnten, sobald die Potters das Haus verließen.

Leider geht das Gute immer viel zu schnell zu Ende. Zur letzten Vorstellung brachte Monster einen dicken Strauß Feldblumen mit, den er unten am Fluss gepflückt, hatte, und warf ihn Cindy zu, als sie sich beim Publikum für den Beifall bedankte. Sie warf Monster einen Handkuss zurück.

An diesem Abend vernahm Pinky ein jämmerliches Schluchzen aus dem oberen Bett. Pinky brauchte nicht zu fragen, warum Monster weinte: Er hatte sich in Cindy verliebt und er würde sie nie wiedersehen.

Um ihn zu trösten, erzählte Pinky, wofür er die Freikarten bekommen hatte. Monster hörte auf zu schluchzen.

»Und«, fragte er, »was hast du dem alten Mann gesagt, wie er das Problem lösen kann?«

»Ist doch ganz einfach«, antwortete Pinky. »Wenn er seine Söhne zwingen will, ehrlich zu teilen, muss er in seinem Testament nur verfügen, dass der eine Sohn das Erbe aufteilen soll und der andere sich zuerst seinen Teil aussuchen darf.«

»Klasse«, sagte Monster, »das machen wir beide jetzt auch immer so!«

Als Pinky nun Monster auch noch verriet, dass zu der Belohnung ein Affe gehörte und der alte Mann im Centralpark niemand anders als Jonathan W. Morgan gewesen war, sprach Monster eine ganze Woche nicht mehr mit ihm, weil er »ein solch verdammtes Lügenmaul« nicht zum Freund haben wollte.

Der 1. Fall

Das Gespenst der Ashtons

Pinky saß auf seiner Mülltonne und träumte.

Er war nackt, Turnhose und Hemd hingen an einem Haken am Schornstein. Es war erst zehn Uhr vormittags, doch die Hitze drückte schon wie ein feuchtes, wattiges Tuch auf die Stadt, schmutziger Dunst hüllte die Kirchtürme ein und die fetten Schwaden aus den Fabrikschornsteinen fielen wie nasse Säcke zu Boden. Selbst von Pinkys kakelbuntem Tonnenthron auf dem Dach war nur ein kleiner Teil von Kittsburgh zu sehen.

Pinky träumte, er käme gerade vom Mars zurück und die ganze Stadt hätte sich eingefunden, um den berühmten Astronauten zu begrüßen. Es war ein Triumphzug, wie ihn Kittsburgh noch nie gesehen hatte; an allen Ecken tönten Jazztrompeten, Orchester und Chöre; Kinder streuten Blumen, aus den Fenstern regnete es Konfetti und von allen Seiten wurden ihm riesige Eiswaffeln entgegengestreckt.

Pinky seufzte. Er war ein Idiot gewesen, von Morgan nicht auch noch Freieis zu verlangen. Sommerferien ohne Eis! Und nirgends eine Chance in Sicht, ein paar Cents zu verdienen.

Ein gellender Pfiff riss Pinky aus seinen Gedanken. Monster stand auf dem Dach. Er hopste mit grotesken Schritten heran, bemüht, seine nackten Füße nicht an dem rostigen, schartigen Blech zu verletzen. Dicke Schweißtropfen liefen ihm über Gesicht, Hals und Brust; er schien die sechs Treppen im Galopp heraufgerannt zu sein.

»Ko-komm runter, Pi-pinky!« Monster stotterte vor Aufregung. »Da unten wartet ein irrer Typ in einem irren Straßenkreuzer, der will dich sprechen.«

77152_KJB_Abb_002.jpg

Pinky lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen. Er ließ sich doch nicht verklapsen. Ein Straßenkreuzer, der vor der vergammelten Fassade ihrer Mietskaserne hielt und ausgerechnet auf einen Sprössling von Potters Waisenhaus wartete! Monster rüttelte ihn hoch.

»Mann, ehrlich. Guck doch runter!«

Pinky angelte nach seinen Baseballschuhen, zog den linken Schuh auf den rechten Fuß und den rechten Schuh auf den linken Fuß, dann drückten sie zwar, aber die großen Zehen guckten nicht so aus den Löchern heraus und verbrannten sich nicht an dem heißen Blech des Dachs. Er blickte erst gemächlich nach der einen, dann nach der anderen Seite, bevor er sich in Richtung Straße bewegte, um — ganz zufällig, versteht sich — einen Blick hinunterzuwerfen.

Da stand tatsächlich ein riesiger Straßenkreuzer, vielleicht sogar ein »Monza«, dicht umringt von zerlumpten, halb nackten Kindern, die bestimmt noch nie einen solchen Wagen aus der Nähe gesehen hatten. Pinky war im Nu hellwach. Wenn er auch nicht glaubte, dass der Typ da ausgerechnet auf ihn wartete, so konnte er sich doch nicht den Anblick eines solchen Superschlittens entgehen lassen. Wenn er irgendetwas noch mehr liebte als Tiere, dann Straßenkreuzer.

»Glaubst du mir nun?« Monster hielt Pinky Hemd und Hose hin. »Was will’n der von dir?«

»Was weiß ich?«

»Ist vielleicht ‘ne Art Superman, der sich der unterdrückten Waisenkinder annimmt! Wenn er dich einlädt, nimmst du mich doch mit, was?« Monster grinste von Ohr zu Ohr. »Stell dir vor, Pinky, mit dem Schlitten durch Kittsburgh gondeln, am Hotel ›Majestic‹ vorfahren und rein in die stinkfeine Bude, so wie wir sind. Der Portier muss die Tür vor uns aufreißen und strammstehen, und an der Eisbar sagt Superman: ›Bestellt euch, was ihr wollt.‹«

»Erst mal sehen, wie wir ungeschoren an Skunk vorbeikommen«, erwiderte Pinky. Skunk2 war ihr neuer Spitzname für Potter. Sie peilten die Lage an der Feuerleiter: Im zweiten Stock waren alle Fenster geöffnet. Also schlichen sie die Treppe hinab. Die ausgetretenen Stufen knarrten. Die Tür mit dem großen Emailleschild »Potters Kinderheim — eine gottesfürchtige und gottgefällige Zuflucht für Waisenkinder« stand einen Spalt offen. Durch die Ritze quoll ein Schwall wüster Flüche, die wohl kaum Gottes Wohlgefallen erregt hätten. Pinky und Monster hielten die Luft an; als sie eine Treppe tiefer angelangt waren, mussten sie losprusten. Aber Potter fluchte noch immer so laut, dass er sie nicht hören konnte.

Es war tatsächlich ein »Monza« und der Mann war ein irrer Typ: ein Muskelprotz, wie man ihn sonst nur im Fernsehen oder auf Reklamebildern zu sehen bekommt.

»Das ist Pinky«, sagte Monster und zeigte mit dem Daumen auf seinen Freund.

Der Blonde nickte. »Okay, Pinky, ich warte am Lincoln, beeil dich. Aber komm allein.« Fast lautlos fuhr der »Monza« an.

Pinky war es recht. Sicher, es wäre eine Supershow gewesen, sich in den Schlitten zu schwingen und huldvoll mit der Hand zu winken. Doch Potter würde das erfahren und ihn dann ins Gebet nehmen, um herauszubekommen, warum ein Mann, der sich solch einen Wagen leisten konnte, ausgerechnet einen seiner Schützlinge abholte.

Pinky hatte schon eine Vermutung. Bestimmt sollte er Morgan noch einmal helfen. Aber der würde auf Granit beißen. Und wie er den abfahren lassen würde. Für Sie, Mister Morgan? Einmal und nie wieder. Und wenn der ihm Berge von Eis versprach. Oder vielleicht doch?

Pinky rannte zum Lincoln-Denkmal. Er betrachtete vergnügt die Blumenrabatte gegenüber der Statue, wo, dessen war er ganz sicher, eines Tages sein Denkmal stehen würde. Vielleicht nicht für den kühnen Astronauten, aber für den berühmten Detektiv Pinky.

Der Blonde sagte kein Wort. Er zeigte nur stumm auf den Platz neben sich, und bevor Pinky es sich hatte bequem machen können, schoss der »Monza« davon, raus aus der Stadt, in eine Gegend, in der Pinky noch nie gewesen war: große, teuer eingezäunte Grundstücke, zwischen deren Büschen und Bäumen vornehme Villen aufblitzten.

Plötzlich bog der Wagen scharf rechts ein, raste auf ein hohes stählernes Tor zu, das sich automatisch öffnete und hinter ihnen sogleich wieder schloss, fuhr durch einen gepflegten Park und hielt federnd vor einem Haus im Stil der alten Landsitze. Der Blonde winkte Pinky, ihm zu folgen.

Sie stürmten durch eine geräumige, mit Palmen und anderem Grünzeug vollgestellte Halle, dann eine breite Treppe hinauf. Pinky hatte keine Zeit, sich richtig umzusehen, aber er verspürte die angenehme Kühle des Raumes. Sie landeten in einer Art Büro. Hinter dem Schreibtisch saß ein doppelbäuchiger Mann mit Glatze und Goldrandbrille.

»Hier ist er«, sagte der Blonde und verschwand wieder.

Der Glatzkopf stand auf, ging um Pinky herum und musterte ihn von allen Seiten.

»Da hätten wir also unseren Wunderknaben«, knurrte er. »Willst du ‘ne Cola?« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern goss ein Glas voll, stellte es auf den Tisch und wies mit seinem dicken Zeigefinger auf einen Klubsessel. »Du also hast dem alten Morgan geholfen.«

Pinky blickte unschuldsvoll, als könne er gar nicht verstehen, wovon der andere sprach.

»Freut mich, dass du das Maul halten kannst«, sagte der Glatzkopf. »Aber ich weiß Bescheid. Von Morgan selbst. Zirkuskarten und Affe. Genügt das?« Pinky nickte.

»Schon mal was vom Gespenst der Ashtons gehört?«

Pinky überlegte, in welchem Comic oder Fernsehspiel davon die Rede gewesen sein könnte, doch ihm fiel nichts ein.

»Die Bedingungen sind klar«, sagte der Glatzkopf. »Kein Wort zu irgendjemand, okay?«

»Die Hölle soll mich verschlingen, wenn ich meine Klienten verrate«, antwortete Pinky.

Der Glatzkopf grinste.

»Du bist hier im Haus von Abraham Ashton, dem die große Kleiderfabrik in Kittsburgh-Süd gehört und die Kette der ‘ABC-Drugstores’ und noch einiges mehr zwischen hier und New York.«

Und ob Pinky die »ABC-Drugstores« kannte. Sie sollten das beste Eis der Welt haben, hieß es. Pinky schmeckte es schon auf der Zunge.

»Ich bin Bill Sailor, verantwortlich für die persönliche Sicherheit von Mister Ashton. Vielleicht kannst du mir helfen.«

»Warum gerade ich? Warum nicht Ihr blonder Superman?«

»Mich und meine Leute kennt hier jeder. Aber auf so einen Jungen wie dich, denke ich mir, wird niemand achten. Pass auf, Kleiner: Es gibt eine Legende, dass dem Chef des Hauses Ashton kurz vor seinem Tod ein Gespenst erscheint und ihm sein bevorstehendes Ende anzeigt. Drei Mal. Zwei Mal war es schon da.« Sailor zog eine Grimasse. »Natürlich glaube ich nicht an Gespenster, aber leider denkt der Chef nicht so. Und er ist schwerkrank. Jede Aufregung kann ihn umwerfen. Das erste Mal konnte ich es vertuschen. Vorgestern Abend tanzte im Park ein eigenartiges, schillerndes Licht vor den Bäumen. Ich habe Ashton abgelenkt und schnell den Vorhang zugezogen. Gestern hat er es aber mitbekommen. Plötzlich raunten geheimnisvolle Stimmen von überall: Du musst sterben — du musst sterben — du musst sterben ... Er hat fast einen Herzschlag bekommen. Ich fürchte, das mörderische Gespenst wird heute oder morgen zum dritten Mal auftauchen.«

»Haben Sie jemanden in Verdacht?«, fragte Pinky. Er saß in seinem Sessel, als jage er schon seit Jahrzehnten Verbrecher und als sei es für ihn etwas Alltägliches, von den Reichen dieser Welt um Hilfe gebeten zu werden, das Glas lässig in der Hand, die nackten Beine übereinandergeschlagen. Er bedauerte unendlich, dass er keine Pfeife besaß, die er ab und zu aus dem Mund nehmen konnte, um bedeutungsvoll zu nicken.

»Ich schätze, es ist einer seiner drei Neffen, die auch hier im Haus wohnen«, erklärte Sailor. »Ich zeige sie dir nachher. Ich dachte, ich stelle dich offiziell als Boy an, der im Haushalt zur Hand geht. Da kannst du dich unauffällig umsehen.«

»Und was habe ich davon?«

»Anständiges Essen, neue Sachen«, Sailor pickte mit seinem Zeigefinger Löcher in die Luft in Richtung auf Pinkys ausgefranste Jeans, »so kannst du schließlich hier nicht rumlaufen, und wenn du tatsächlich ...« Sailor blickte ihn lächelnd an. »Wie viel Dollar Honorar verlangst du denn so pro Tag?«

»Kein Geld«, antwortete Pinky gelassen, »Potter, dieses Stinktier, würde es mir doch nur abnehmen. Und kein Tagegeld. Erfolgshonorar: Freies Eis für mich und meinen Freund in den ›ABC-Drugstores‹, ein ganzes Jahr lang ...«

»Okay«, sagte Sailor, »und du kannst dich einmal komplett einkleiden aus Ashtons Fabrik. Von mir aus auch dein Freund.«

»Wir sind sieben«, erklärte Pinky gelassen, »zwei Jungen und fünf Mädchen.«

»Du bist ja ein richtiger Geschäftsmann«, meinte Sailor.

»Das kostet den alten Ashton doch keinen Pfennig«, erwiderte Pinky, »das bisschen Eis fällt nebenbei ab und die Kleider werden doch als wohltätige Spende abgebucht, oder? Sein Leben sollte Ihnen mehr wert sein.«

»Wie viel?«, fragte Sailor misstrauisch.

»Einen Elefanten.«

Sailor starrte ihn mit offenem Mund an. »Bist du verrückt? Was hast du von einem Elefanten?«

»Mein Vergnügen. Und jeder andere auch, der in den Zoo kommt. Sie gehen wohl nie in den Zoo?«

Sailor schüttelte verwundert den Kopf.

»Wenn Sie nicht wollen ...« Pinky stand auf.

»Bleib sitzen«, befahl Sailor. Er blätterte im Telefonbuch, wählte eine Nummer und fragte, wie viel ein Elefant koste, dann erkundigte er sich nach den Preisen für andere Tiere. »Elefant ist nicht drin«, erklärte er schließlich, »allerhöchstens eine Giraffe. Das ist das Teuerste, worüber ich allein entscheiden kann. Vielleicht macht der Chef einen Elefanten daraus, wenn du Erfolg hast.«

Pinky willigte ein, doch er bestand darauf, dass sie einen richtigen Vertrag schlössen. Schriftlich. Sie einigten sich darauf, ihn an den Pfarrer der katholischen Gemeinde zu schicken, weil der bestimmt den Mund halten und keinen von beiden betrügen würde. Dann rief Sailor bei Potter an und erklärte, er wolle Pinky für ein oder zwei Tage als Gartenhilfe engagieren. Potter interessierte nur, wie viel Sailor zahlen wollte. Für einen Dollar pro Tag — an ihn, versteht sich — war er bereit, seinen Schützling zu verkaufen, solange der andere ihn nur haben wollte.

Pinky bekam ein Hemd, Jeans, Sandalen und Strümpfe, musste sich duschen und dann — tatsächlich arbeiten: Staub wischen, Fenster putzen und bohnern! Er fluchte, dass er hier mehr arbeiten müsse als beim Skunk. Und am Ende vielleicht noch für umsonst. Na ja, nicht ganz. Neue Jeans waren schließlich nicht zu verachten und das Essen war einfach klasse. Pinky durfte sich in der Küche über die Reste hermachen. Er hätte nie geglaubt, dass es Leute gab, die so viel übrig ließen. Wenn er einmal vom Reichsein geträumt hatte, dann, dass er so viel zu essen hatte, wie er verdrücken konnte. Nun wusste er es besser. Reichtum hieß Überfluss. Schade, dass Monster nicht da war, es hätte selbst für dessen unersättlichen Magen noch gereicht. Hier hätte er dem Spitznamen Ehre machen können, den Pinky ihm verpasst hatte: nach Krümelmonster, der Figur aus dem Fernsehen.

Am Abend stieg Pinky hundemüde zu der Bodenkammer hinauf, die man ihm als Nachtquartier zugewiesen hatte. Eigentlich wollte er wieder hinunterschleichen und sich umsehen, doch er war zu müde und schlief sofort ein.

Er träumte, dass er in seinem Büro saß, die Sekretärin fragte über die Sprechanlage, ob er einen gewissen Morgan empfangen wollte, und er antwortete: Nein, ich habe keine Zeit für diesen Herrn.

Da gellte ein Schrei durch das Haus.

Pinky brauchte lange, bis er wusste, wo er sich befand. Dann verhedderte er sich noch in den Hosenbeinen. Als er endlich in die Halle kam, lungerten dort schon ein Dutzend Diener und Hausmädchen herum und die drei Neffen, alle nur notdürftig bekleidet. Vor der Tür der Bibliothek standen Sailor und der Superman. Der Blonde versperrte den Zugang, und Sailor erklärte, es sei weiter nichts passiert, alle sollten wieder auf ihre Zimmer gehen. Pinky versteckte sich hinter einer der Palmen und wartete, bis die anderen sich verzogen hatten. Dann ging er zu Sailor. Der nahm ihn mit in die Bibliothek. Auf dem Fußboden lag eine rechte Hand, der Stumpf leuchtete blutig rot.

»Keine Angst«, sagte Sailor, »die Hand ist aus Kunststoff. Und dem Chef ist zum Glück das Herz nicht stehen geblieben, als das Ding durchs Fenster flog. Aber viel hat nicht gefehlt.«

Er nahm die Hand vorsichtig hoch und steckte sie in eine Plasttüte. Sie sah verdammt echt aus.

»Glauben Sie, dass Fingerabdrücke dran sind?«, fragte Pinky.

»Kaum. Wer derart raffiniert vorgeht, denkt auch an so etwas. Und auf dem Rasen vor dem Fenster sind natürlich keine Spuren zu finden.«

»Haben Sie die Polizei benachrichtigt?«

Sailor schüttelte den Kopf. »Der Chef duldet keine Polizei in seinem Haus. Und was sollten die Bullen schon finden, was wir nicht selbst herausbekommen könnten?« Er kreuzte die Arme über der Brust und sah aus dem Fenster, das immer noch offen stand. Es war eine sternklare Nacht.

»Wer wusste, dass Mister Ashton hier in der Bibliothek saß?«, erkundigte sich Pinky.

»Jeder im Haus. Der Chef liest jeden Abend bis nach Mitternacht.«

»Fremde scheiden aus?«

»Absolut. Das Tor ist nicht geöffnet worden, seit du gekommen bist, und die ganze Nacht patrouillieren drei Wachmänner mit Hunden an den Mauern entlang. Es muss einer aus dem Haus gewesen sein, aber wer? Wenn ich es nicht herausbekomme, versucht er es sicher morgen wieder, und dann ...«

»Zeigen Sie Ihrem Chef doch einfach die Hand noch mal«, schlug Pinky vor, »damit er sie sich richtig ansieht und merkt, dass hier kein Gespenst am Werke ist.«

»Ausgeschlossen. Vielleicht würde er dabei vom Schlag getroffen.«

»Sie haben den Neffen noch nicht verraten, was vorgefallen ist?«

Sailor schüttelte den Kopf.

»Warum sagen Sie es ihnen nicht? Wäre doch interessant, wie sie reagieren.«

Sailor ging zum Haustelefon, Pinky sprang auf und nahm den zweiten Hörer, sodass er mithören konnte. Zuerst rief Sailor Jonathan, den Ältesten der drei, an.

»Jemand hat Ihrem Onkel eine abgetrennte Hand ins Fenster geworfen und versucht, ihn damit so zu erschrecken, dass er einen Herzschlag bekommt und stirbt.«

»Eine abgetrennte Hand?« Das Entsetzen klang echt.

»Waren Sie die ganze Zeit auf Ihrem Zimmer?«, erkundigte sich Sailor.

Jonathan wurde wütend. »Wollen Sie etwa mich verdächtigen? Warum glauben Sie überhaupt an einen Anschlag? Haben Sie nie von dem Gespenst der Ashtons gehört?«

»Habe ich«, antwortete Sailor, »doch ich glaube nicht an Gespenster.«

Benjamin Ashton lachte, als Sailor ihn fragte, wo er gewesen sei. »Ein Alibi habe ich nicht«, erklärte er. »Ich war sogar im Park heute Abend, doch ich habe noch beide Hände. Wollen Sie sie sehen? Nun, Sie werden den Unhold schon entlarven.« Er kicherte. »Sie brauchen ja nur herauszufinden, wer sich die Rechte abgeschnitten hat — das kann doch nicht schwer sein!« Dann lachte er wieder.

David Ashton erklärte Sailor für verrückt. »Das glaube ich nur, wenn Onkel Abraham es mir selbst erzählt«, sagte er. »Ich gehe sofort zu ihm.«

»Wollen Sie ihn umbringen?«, schrie Sailor. »Sie wissen doch, dass er jetzt keine Aufregung verträgt.«

»Wollen Sie mich etwa hindern, meinen Onkel zu besuchen?«, schrie David Ashton zurück.

»Ja, das will ich, notfalls mit Gewalt.«

»Das werden Sie bereuen«, drohte David Ashton und legte auf.

Sailor sah ratlos drein. »Nun sind wir auch nicht schlauer als zuvor.«

»Wissen Sie wirklich nicht, wer es war?«, fragte Pinky. »Aber das ist doch ganz einfach!«

Sailor blickte Pinky an wie der Ochs das neue Tor.

»Rufen Sie den Pfarrer an und erklären Sie, dass der Vertrag erfüllt wurde«, forderte Pinky, »dann verrate ich es Ihnen.«

»Jetzt, mitten in der Nacht?«

Pinky grinste. »Potter sagt immer, ein guter Christ ist Tag und Nacht für seine Schäfchen zu sprechen.«

»Ich rufe ihn gleich morgen früh an«, erwiderte Sailor. »Der Pfarrer braucht seinen Schlaf.«