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Argumentationstheorie zur Einführung

Josef Kopperschmidt

Argumentationstheorie
zur Einführung

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Junius Verlag GmbH

© 2000 by Junius Verlag GmbH

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Inhalt

Vorbemerkung

1.Zum Interesse an Argumentation: Was kann man von einer Argumentationstheorie erwarten?

2.Zur Funktion der Argumentation: Warum argumentiert man?

3.Zum Verfahren der Argumentation: Wie argumentiert man?

4.Zum Prinzip der Argumentation: Wie vernünftig ist das Argumentieren?

5.Zu den Voraussetzungen der Argumentation: Wann argumentiert man?

6.Zur Typologie der Argumentation: Wie lassen sich Argumente systematisieren?

7.Zur Didaktik, Analyse und Kritik der Argumentation: Wie kann Argumentationstheorie praktisch werden?

8.Zur Ethik der Argumentation: Was ist am Argumentieren ethisch interessant?

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Über den Autor

Vorbemerkung

»Wenn ich meine Vernunft unterwerfen soll, brauche ich vernünftige Gründe« – sagt der savoyische Vikar in Rousseaus berühmter Profession de foi du vicaire savoyard im 4. Buch seines Émile (1762). Lässt sich also gegen Vernunft nur Vernunft aufbieten, soll es vernünftig zugehen? Und ist die Frage, ob es vernünftig zugeht, nur damit zu bejahen, dass es »vernünftige Gründe« sind, die gegen Vernunft aufgeboten werden?

Man mag das Tautologie, Paradoxie, Dialektik oder wie immer schelten – doch auch jenseits einer obsoleten, weil historisch hinreichend diskreditierten Vernunftvergötterung muss gefragt werden: Was hätten wir denn außer Vernunft, woran sich Vernunftkritik sinnvollerweise adressieren ließe? Und woher ließen sich denn Kriterien einer Vernunftkritik gewinnen, wenn nicht aus der Vernunft selbst, deren Kritik sie betreibt, weil »Selbstkritik der Vernunft deren eigenste Moral« ist (Th. W. Adorno)? Und was hätte denn die Kraft, Vernunft wirksam zu beeinflussen, außer Vernunftgründe, die wir »Argumente« nennen werden?

Oder gibt es das gar nicht mehr, die Vernunft? Hat sie sich nicht längst zur »arbeitsteiligen Rationalität« (Norbert Bolz) pluralisiert? Es kann ja schwerlich die gleiche Vernunft sein, die Luhmann locker verabschiedet (»Nie wieder Vernunft!«) und auf deren »Sieg« Brecht seinen Galilei (im Leben des Galilei) hoffen ließ!

Darüber wird in dieser Einführung zu reden sein. Doch auch wovon auf den folgenden Seiten nicht die Rede sein wird, soll vorweg geklärt sein: Es wird weder die wohlfeile Mär erzählt über Menschen, die von Kopf bis Fuß auf Argumente eingestellt seien, noch von einer Gesellschaft geträumt, in der das Argumentieren als unterhaltsamer und gelegentlich karrierefördernder Sport geschätzt wird. In der Regel sind Menschen weit mehr an ihren eigenen Meinungen und deren faktischer Geltung interessiert als an dem argumentativen Legitimitätsnachweis ihrer Meinungen. Argumentieren ist nämlich eine viel zu anstrengende und riskante Sache, als dass man sie betreiben würde, wenn man nicht müsste. Und wann muss man argumentieren?

Auch darüber wird zu reden sein; ebenso darüber, warum das Argumentieren so anstrengend ist, warum es so selten befriedigend gelingt, wie es überhaupt funktioniert usw. Solche Fragen erwartet man selbstredend nicht in einem Crashkurs in Argumentation. Genau das kann und will die hier vorgelegte Einführung auch nicht sein: Sie bietet kein Programm, wie man argumentativ fit werden kann.

Selbst wenn angenommen werden darf, dass eine reflektierte Argumentationstheorie der eigenen Argumentationspraxis nicht schaden dürfte, das Ziel dieser Einführung ist ein ganz anderes: Sie will primär Respekt vor einer gesellschaftlichen Kulturleistung wecken, die Gewalt durch »die sanfte Gewalt der Vernunft« (Brecht) nicht nur zu zähmen, sondern zu ersetzen versucht, um so das gesellschaftliche Zusammenleben zu zivilisieren. Diese Kulturleistung ist zu fragil, als dass man sie nicht durch ständiges Bewusstmachen ihrer komplexen Voraussetzungen pflegen und vor sozialtechnologischer Rabulistik ebenso schützen müsste wie vor der »schicken Bitterkeit« (Peter Sloterdijk) derer, die sie längst zum Nachlass Alteuropas zählen.

Orientiert an dieser Zielsetzung, versucht die hier vorgelegte Einführung, die grundlegenden und allgemeinen Aspekte des Argumentierens zu erfassen, diese Aspekte systematisch zu erläutern und möglichst beispielhaft zu illustrieren, die Komplexität des Argumentierens als soziokulturelles Artefakt durch die Vielfalt disziplinärer Problemzugänge bewusst zu machen und die jeweils verwendeten Beschreibungssprachen grundbegrifflich zu präzisieren wie deren Theorieabhängigkeit zu klären.

Argumentationstheorie soll in dieser Einführung als eine geschichtsträchtige Reflexionsanstrengung vorgestellt werden, die nicht mehr disziplinär spezifizierbar ist, mögen die jeweiligen Theoriezugänge auch disziplinär inspiriert und instrumentiert sein und bleiben. Argumentationstheorie, wie sie hier verstanden wird, ist der Name eines transdisziplinären Forschungsprojekts, das nach den Bedingungen gewaltfreier Verständigung fragt. Ein solches Interesse muss sich nicht blind stellen für die Gefahr, dass diese Bedingungen selbst wieder Chancen für subtile, weil unmerklich gewordene Gewalt eröffnen können.

1. Zum Interesse an Argumentation: Was kann man von einer Argumentationstheorie erwarten?

Dass es heute ein breit gestreutes Interesse an Argumentation gibt, dürfte weithin unstrittig sein.1 Deshalb soll dieses Interesse im folgenden Einleitungskapitel auch nur beispielhaft belegt und etwas systematisiert werden, um dann der wichtigeren Frage nachzugehen, nämlich wie dieses aktuelle Interesse an Argumentation eigentlich erklärbar ist und wie es sich in die Geschichte argumentationstheoretischer Reflexionstradition einordnen lässt.

Natürlich muss man nicht so direkt auf den Markt schielen wie Gerry Spence, dessen Argumentationsanleitung How To Argue And Win Every Time (1995; deutsch: Argumentiere und gewinne, 1997) bereits im Titel mit einem reißerischen Gebrauchswertversprechen für sich wirbt. Doch ohne jede Berücksichtigung verwendungspraktischer Erwartungen dürften es heute selbst argumentationstheoretische Glanzstücke (wie etwa die Argumentationstopik, s. Kap. 6) schwer haben, in der einschlägigen Ratgeberliteratur auch nur Erwähnung zu finden.2 Das ist freilich kein Grund zum Lamentieren; denn auch historisch verdankt sich das Interesse an Argumentation weniger der uneigennützigen Suche nach methodischer Wahrheitssicherung als dem durch und durch pragmatischen Bedürfnis nach sozialer Selbstbehauptung.3 Dieses Interesse wurde sozioevolutionär in gleichem Maße dringlich, wie andere als kommunikative Strategien sozialer Selbstbehauptung gesellschaftlich delegitimiert oder gar institutionell ausgeschlossen wurden. Und eines der sowohl strategisch effizientesten wie gesellschaftlich akzeptiertesten, weil »sanftesten« Mittel solcher sozialen Selbstbehauptung durch Kommunikation war und ist fraglos das Argumentieren. (H-EA, 12)

So jedenfalls hat es die Rhetorik immer gesehen, die sich seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. für die verschiedenen kommunikativen Strategien sozialer Selbstbehauptung allgemein und argumentativer im Besonderen theoretisch interessiert hat und die daher nicht nur in die Genealogie der modernen Argumentationstheorie gehört, sondern deren historische Mutterdisziplin darstellt. Dass argumentieren lernen siegen lernen heiße, dieses marktorientierte Credo eines Gerry Spence hätte jedenfalls die antiken Rhetoriker so wenig irritiert wie die Sophisten, für die – anders als für Platon und seine Anhänger – Theoriearbeit in der sozialen Praxis von Nutzen sein sollte. Deshalb scheuten sich die Sophisten auch nicht, Wissen und Redenkönnen als lehrbare, also käufliche Güter zu behandeln. Es war Habermas, der seinerzeit den Begriff »Interesse« theoretisch wieder hoffähig gemacht hat, indem er ihm in der Tradition Nietzsches nicht erst im Verwendungszusammenhang von Erkenntnis, sondern bereits in deren Konstitutionszusammenhang einen Platz zugewiesen hat. (H-TW, 146 ff.; H-EI) Seitdem dürfte es weniger provokativ sein, auch der Theoriearbeit ein praktisches Interesse zuzubilligen, in dem sich das Interesse an Theorie in ein »erkenntnisleitendes Interesse« der Theorie transformiert.

Dieses praktische Erkenntnisinteresse der Argumentationstheorie ist freilich bloß die explizite Anerkennung ihres Involviertseins in Praxis, wie es für alle sozialwissenschaftlichen Erkenntnisinteressen typisch und spezifisch ist. Sie können sich nämlich ihre Erkenntnisobjekte nicht aus einer distanzierten Beobachterperspektive theoretisch zugänglich machen, weil Sinn-Ereignisse – anders als sinnfreie Geschehnisse – ohne sinnverstehende Vorleistungen sich schlechterdings jedem Zugang entziehen. Auf die Argumentationstheorie angewandt, meint dieser intrinsische Praxisbezug: Argumentationstheorie ist nicht möglich ohne eine (zumindest virtuelle) Teilnahme an der Argumentationspraxis, deren Theorie sie sein will.

Als theoretisch zugänglich gemachte aber bleibt Argumentationspraxis schwerlich, was sie war, weder individuell noch kollektiv. Sie verändert sich tendenziell in dem Maße, wie sie ihre eigene Praxis reflexiv einholt. Solch reflexive Selbsteinholung der Praxis ist aber nicht nur affirmativ instrumentalisierbar, sondern kann auch kritisch handhabbar sein. Das bedeutet: Die Argumentationspraxis muss durch ihre theoretisch angeleitete Selbstaufklärung nicht notwendig bloß strategisch effizienter werden; die Argumentationspraxis kann auch durch Verbreitung und Vertiefung argumentativer Kompetenzen ihre sektoralen Anwendungsgrenzen verschieben, und sie kann darüber hinaus das argumentative Anspruchsniveau und Rationalitätsprofil diskursiver Auseinandersetzung dadurch erhöhen, dass sie sich ihrer eigenen Prozesslogik, Voraussetzungshaftigkeit und normativen Infrastruktur reflexiv bewusst wird. Solch kritischen Ambitionen kann sich freilich eine Argumentationstheorie nur dann erfolgreich andienen, wenn sie sich als Theorie ihre Eigenständigkeit gegenüber der Praxis zu bewahren vermag und der Praxis – statt ihr bloß die eigene Melodie nachzusingen – auch als kritische Instanz entgegenzutreten wagt, indem sie Praxis an deren impliziten Selbstansprüchen regulativ misst. Die erkennbar dialektische Beziehung zwischen Theorie und Praxis der Argumentation legt es nahe, Argumentationstheorie weder als eine bloß reproduktive noch bloß spekulative, sondern als rekonstruktive Theorie zu definieren4: Argumentationstheorie rekonstruiert so gesehen eine (wahrscheinlich transkulturelle und ubiquitäre) vortheoretische Praxis (H-EA, 60 f.) bzw. argumentationspraktische Kompetenz, die in dem Maße nicht unverändert bleiben dürfte, wie sich tendenziell die Chance ihres reflexiven Vollzugs bzw. ihrer reflexiven Beanspruchung erweitert.

Je nach dem Kontextualisierungsgrad der Argumentationspraxis, die für die Rekonstruktionsarbeit gewählt wird, lassen sich Argumentationstheorien wie folgt unterscheiden: Allgemein sollen Argumentationstheorien heißen, die sich 1. für die elementare Funktion des Argumentierens im Kontext sozialen Zusammenlebens interessieren sowie für die Fragen allgemeiner Art, nämlich: wie argumentiert wird, was Argumentieren erfolgreich macht, welches Prinzip dem Argumentieren zugrunde liegt und was es als vernünftig ausweist (Kap. 2 bis 4), die sich 2. für die komplexen Voraussetzungen interessieren, die erfüllt sein müssen, damit überhaupt argumentiert werden kann, sowie für die verschiedenen Typologisierungen, nach denen sich Argumente ordnen lassen (Kap. 5 und 6), die sich 3. für die Chancen der bereichsspezifischen Konkretionen ihrer allgemeinen Fragestellungen interessieren sowie Konzepte fördern, die der Erweiterung argumentativer Kompetenzen dienen bzw. der Methodisierung von Analyse und Kritik faktischer Argumentationen (Kap. 7), und die sich 4. sowohl für die soziale Macht interessieren, die Argumentierenkönnen auch darstellt, wie für die normativen Implikationen des Argumentierens und für die Chance, sie als eigensinnige Ressource von Normen zu nutzen (Kap. 8).

Erkennbar listet dieser Interessenkatalog einer allgemeinen Argumentationstheorie genau die Themen auf, an denen sich auch die Gliederung der einzelnen Kapitel auf den folgenden Seiten orientiert. Daran ist ablesbar, dass die hier vorgelegte Einführung nur eine Einführung in die allgemeine Argumentationstheorie sein kann und will. Von ihr lassen sich Argumentationstheorien unterscheiden, die sektoral heißen sollen, weil sie die o.g. Fragen mit Blick auf bestimmte Praxisbereiche des Argumentierens spezifizieren und konkretisieren. Ein besonders attraktiver Praxisbereich ist natürlich wegen der zentralen Rolle, die das Argumentieren in ihm schon immer spielte, die forensische Praxis; entsprechend hochgradig elaboriert ist heute unter den sektoralen Argumentationstheorien auch die juristische Argumentation.5 Obwohl sich sektorale Argumentationstheorien auch »angewandte« nennen ließen, sei dieser Begriff hier für solche Theorien reserviert, die das argumentationstheoretische Wissen so aufbereiten, dass es in Form von Argumentationsdidaktiken für die explizite Verbesserung argumentativer Fähigkeiten bzw. in Form von Analysemodellen für die Methodisierung der Argumentationsanalyse bzw. -kritik genutzt werden kann.

Schließlich wären neben den bisher genannten Theorien, die alle das Interesse an einer systematischen Rekonstruktion von Argumentationspraxis verbindet, noch Theorien zu erwähnen, die sich mit Argumentationsforschung unter historischem Interesse beschäftigen. Historisch kann das Interesse sowohl mit Blick auf die Geschichtlichkeit argumentativer Plausibilitätsressourcen und argumentativer Muster sein wie mit Blick auf die geschichtliche Verortung des argumentationstheoretischen Interesses selbst.

Wie aber erklärt sich das aktuelle theoretische Interesse an dem Thema »Argumentation«, das nicht nur zu einer disziplinär breit gestreuten Theoriearbeit und einer entsprechenden Vielzahl sektoraler Argumentationstheorien geführt hat6, sondern auch die Entwicklung einer eigenen, ebenso interdisziplinär organisierten wie philosophisch ambitionierten Argumentationsforschung ermöglicht hat, deren Selbstbewusstsein unvergleichbar ist mit der historischen Schattenexistenz traditioneller Argumentationslehren? Ich möchte vier Gründe nennen, die mir besonders wichtig erscheinen:

1. Argumentationstheorie ist heute zu einem Forum für Fragen geworden, die traditionell in die Vernunftphilosophie gehören. Und das ist kein Zufall! Doch diese avancierte Stellung verdankt die Argumentationstheorie weniger eigenen Verdiensten als dem Erfolg der Vernunftkritik. Die war nämlich so durchschlagend, dass die »Endewelle ohne Ende«7 jetzt endlich auch die Vernunft erreicht hat, sodass durchaus nach dem »Ende der Vernunft« gefragt werden darf.8 Selbst wenn die Antwort positiv ausfallen sollte, ist damit aber das Reden über das »Ende der Vernunft« noch lange nicht am Ende, sondern eigentlich erst recht in Gang gekommen, weil sich die Frage aufdrängt, wie es denn zu diesem Ende gekommen ist. Würde man dieser Frage nachgehen, dürfte man bald auf einen traditionsreichen (mittlerweile auch geschlechtsspezifisch differenzierten) Diskurs über das Reden über das »Ende der Vernunft« stoßen, der seinerseits wieder garantiert, dass das »Ende der Vernunft« nicht das Ende des vernünftigen Redens über dieses Ende impliziert. Wiewohl dieser Diskurs hier nicht nachgezeichnet werden kann, muss doch wenigstens kurz angegeben werden, unter welchen Bedingungen das Reden über das »Ende der Vernunft« Sinn macht und wie dieses Reden mit dem behaupteten aktuellen Interesse an Argumentationstheorie substanziell zusammenhängt.

Eine wichtige Rolle in diesem Reden über Vernunft und ihr Ende stellt fraglos Max Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft dar.9 Darin schlägt er eine begriffliche Differenzierung zwischen zwei ganz verschiedenen Vernunftverständnissen vor. Er empfiehlt, zwischen einer »objektiven« und einer »subjektiven Vernunft« zu unterscheiden, d.h. zwischen einer Vernunft, die »ein der Wirklichkeit innewohnendes Prinzip ist«, und einer Vernunft, die bloß »ein subjektives Vermögen des Geistes« meint. Vernunft im ersten Sinne entspricht fraglos dem Vernunftbegriff der philosophischen Tradition bis Hegel. Dieses Vernunftverständnis schloss subjektive Vernünftigkeit zwar nicht aus, nötigte ihr aber eine derivative Legitimation ab. Das heißt: Der »Grad der Vernünftigkeit« des Menschen bemaß sich am Grad seiner »Harmonie« bzw. Übereinstimmung mit der »objektiven« bzw. »umfassenden« Vernunft. Vernünftigkeit meinte subjektive Teilhabe an Vernunft, nicht Ursprung von Vernunft. Für dieses Vernunftverständnis bot die traditionelle Sprache u.a. die Metapher des Schauens (griech. »theoria«; lat. »contemplatio«) an: Schauen meint nämlich – anders als Beobachten – ein rezeptives Verhalten, insofern es Subjekte nötigt, sich ihre theoretischen und praktischen Orientierungen außerhalb ihrer selbst zu suchen. Sie können das am besten, wenn sie – um es in der Sprache des berühmtesten philosophischen Gleichnisses für den Aufklärungsprozess zu sagen – die Höhle (der Meinungen) verlassen und sich dem Sonnenlicht der Vernunft aussetzen.

Ein solch objektiver (oder materialer oder ontologischer) Vernunftbegriff ist heute nur noch durch historische Reflexionsanstrengung rekonstruierbar, was seine zeitaktuelle Fremdheit annonciert. Horkheimer hat schon Recht: Die Geschichte der Vernunft bzw. ihres Verständnisses ist die Geschichte der Subjektivierung der Vernunft. Vernunft gibt es (für uns), wenn überhaupt, nicht draußen in der Welt oder in der Geschichte, zumindest nicht als ein subjektunabhängiges Prinzip. Wenn es sie dort gibt, dann nur, weil Menschen dort wieder finden, was sie vorher in die Welt bzw. in die Geschichte hineingebracht haben, eben Vernunft. Vernunft gibt es mithin eigentlich nur als Vernünftigkeit im Sinne eines subjektiven »Vermögens« (Horkheimer), einer subjektiven »Fähigkeit« (Schnädelbach) oder einer »Disposition sprach- und handlungsfähiger Subjekte« (Habermas); »alles übrige«, so Schnädelbach, »ist schlechte Metaphysik«.

Das mag so sein; doch solch forscher Bescheid erschwert es, überhaupt Verständnis für Horkheimers Unbehagen am Subjektivierungsprozess der Vernunft aufzubringen, der ja nicht nur ein Prozess der Entmythologisierung bzw. der Dezentrierung einer ebenso monistischen wie logozentrischen Vernunft war. (S-RE, 42 ff.) Wäre es so, dann wären Habermas’ Anstrengungen nicht so recht nachvollziehbar, die dem horkheimerschen Unbehagen an diesem Prozessverlauf ja seine defätistische Anfälligkeit nehmen wollen, wie sie sich besonders eindrucksvoll und einflussreich in der von Horkheimer und Adorno verfassten Dialektik der Aufklärung artikuliert.10 Habermas hat daher versucht, die fraglos korrekte Diagnose einer Subjektivierung der Vernunft anders als Horkheimer zu lesen, nämlich nicht bloß pejorativ als »Formalisierung«, »Funktionalisierung«, »Instrumentalisierung« der Vernunft, also nicht als subjektivistische Schwächung ihres objektiven Gehalts. Stattdessen schlug er eine nichtobjektivistische Transformation dessen vor, was Horkheimer am Vernunftanspruch »objektiv« nannte.

Habermas bedient sich bei der Skizzierung seines Transformationsprogramms eines intuitiven Vorverständnisses, das wir immer schon aktivieren, wenn wir etwas als vernünftig qualifizieren. Mit dieser Qualifikation verbinden wir nämlich in der Regel ein Verhalten, das sich auf Gründe einlässt und für Kritik zugänglich ist. (H-TK I, 251 ff.) Ein solches Verhalten setzt zwar eine bestimmte »Disposition« von Subjekten voraus, doch ist es mit ihr nicht hinreichend definiert; denn sich auf Gründe einzulassen und für Kritik zugänglich zu sein heißt ja, sich auf ein Verfahren einzulassen, in dem Gründe vorgebracht und kritisch geprüft werden. »Vernünftig« nennen wir demnach erst ein Verhalten, das subjektive Ansprüche einer intersubjektiven Prüfung aussetzt und ihnen damit implizit einen transsubjektiven Gehalt attestiert, der seine Berechtigung verfahrensmäßig müsste nachweisen können. Habermas redet gelegentlich von diesem verfahrensmäßigen Nachweis etwas missverständlich, wenn er von »objektiver Beurteilung« (H-TK I, 44) spricht; gemeint ist ebendies: Die Subjektivierung der Vernunft nötigt mit der fälligen Verabschiedung subjektunabhängiger nicht auch zugleich zur Verabschiedung subjekttranszendierender Vernunftansprüche, wohl aber zur Klärung ihrer nichtobjektivistischen bzw. postmetaphysischen Einlösungschance. Habermas’ Vorschlag für eine solche nichtobjektivistische und postmetaphysische Einlösungschance lässt sich mit seinen eigenen Worten konzeptionell als »Verfahrensrationalität« charakterisieren (H-ND, 42 ff., 153 ff.; H-TK I, 42 ff.): Verfahrensrationalität ist nach Habermas die angemessene Antwort auf die vernunftgeschichtlich fällige Subjektivierung der Vernunft, die deren subjektivistischen Fallen zu entgehen vermag. Sie entgeht ihnen, indem sie den traditionellen Objektivitätsanspruch der Vernunft gleichsam prozeduralisiert, sodass er verfahrensmäßig einlösbar wird. Es macht daher Sinn, ein solchermaßen transformiertes Vernunftverständnis auch »prozedural« oder »formal« zu nennen. (H-PD, 137; H-ND, 42 ff., 153 ff.)

Noch präziser freilich wäre es, das habermassche Konzept der Verfahrensrationalität als »Begründungsrationalität«11 bzw. – im Vorgriff auf noch ausstehende terminologische Klärungen – als »Argumentationsrationalität« zu charakterisieren; denn eben das ist die habermassche Vernunfttheorie ja: eine unter dem Namen »Diskurstheorie« entfaltete Argumentationstheorie. Als vernünftig gilt ihr entsprechend nur, was sich erfolgreich, was sich mit guten Gründen oder überzeugungskräftigen Argumenten hat behaupten können, sodass es intersubjektiv konsensfähig wird. Unterstellt man die Plausibilität und modernitätsspezifische Angemessenheit eines solchen prozeduralen Vernunftbegriffs, um den philosophischen Gehalt des historischen Vernunftbegriffs nachmetaphysisch zu retten, dann dürfte auch dies plausibel sein: Vernunfttheorie muss unter solchen Bedingungen die Gestalt einer Argumentationstheorie annehmen, weil Argumentationstheorie die genuine Reflexionsinstanz ist, die klären zu können verspricht, wie eine Prozeduralisierung der Vernunft methodisierbar ist. Und noch etwas macht Argumentationstheorie als konzeptionellen Rahmen für die Selbstexplikation einer modernen Vernunfttheorie geeignet: Sowenig sich Vernunft bzw. Vernünftigkeit monologisch reklamieren lässt, ohne zugleich den originären Sinngehalt von Vernunft zu dementieren, sowenig ist Argumentieren eine monologisch durchführbare Prozedur. Argumentieren hat vielmehr immer die anderen zu Adressaten, weshalb auch nur die anderen beurteilen können, ob eine Argumentation ihrem genuinen Selbstanspruch gerecht wird, nämlich überzeugungskräftig ist.

Damit dürfte der hier behauptete intrinsische Zusammenhang zwischen heutiger Vernunft- und Argumentationstheorie in Umrissen deutlich geworden sein, aufgrund dessen der Argumentationstheorie heute eine Schlüsselrolle in der »Theorie der Rationalität« zukommt12: »Ich glaube«, schreibt Richard Rorty, »daß der Begriff ›Vernunft‹, sofern er überhaupt etwas bedeutet, die Möglichkeit sprechender Subjekte ist, einander zu überzeugen statt Gewalt anzuwenden.«13

2. Doch wie steht es bei dieser Hochschätzung der Argumentationstheorie mit der Logik als Hort der Vernunft? Folgt man Theoretikern wie Perelman, Toulmin, Habermas oder Apel, dann wäre die Logik (zumindest in ihrer Rolle als Schlusslehre bzw. Syllogistik) angemessener als »spezielle« Argumentationstheorie zu bestimmen; als »spezielle« deshalb, weil sie nur argumentative Grenz- bzw. Ausnahmefälle berücksichtigt, nämlich solche Argumentationen, die schlüssig im strikt »logischen« Sinne sein können, weil sie strikt »analytisch« sind. (T-GA, 111 ff., 129 ff.)

Analytische Argumentationen leisten freilich zunächst einmal, was alle Argumentationen zu leisten versprechen; sie begründen etwas durch Berufung auf etwas anderes14, wobei dieses »etwas« den Geltungsanspruch einer Aussage meint. So gesehen begründen Argumentationen den Geltungsanspruch einer Aussage durch die Behauptung einer Geltungsbeziehung zwischen ihr und einer anderen Aussage, von deren Anerkennung ihre eigene Anerkennung abhängig gemacht wird. Analytisch sind nun Argumentationen, wenn diese behauptete Geltungsbeziehung analytisch ist, wenn also eine Geltungsimplikation behauptet wird, aufgrund deren die Gültigkeit der einen Aussage bereits logisch in der Gültigkeit der anderen enthalten sein soll, sodass sie aus ihr auch schlüssig abgeleitet (deduziert) werden kann.

Solche analytischen Argumentationen sind erkennbar ebenso stringent, wie sie für die Argumentationspraxis wertlos sind; es gibt nämlich kaum Probleme, die sich mit ihrer Hilfe lösen ließen. Selbst das klassische Schulbeispiel für eine analytische Argumentation, an dem Generationen von Studierenden ihre logische Propädeutik exekutiert haben, selbst der berühmte Syllogismus »Sokrates ist sterblich« ist nicht ganz so analytisch, wie er sich gibt; denn er behauptet ein zukünftiges Geschehen (Sokrates ist sterblich) aufgrund der Gültigkeit eines allgemeinen Erfahrungssatzes (weil alle Menschen sterblich sind), der sich für seine Gültigkeit nur auf Daten aus der Vergangenheit berufen kann. Wollte man diesen kleinen Mangel tilgen, müsste die Argumentation, um analytischen Ansprüchen zu genügen, tautologisch werden, d.h., sie könnte als Konklusion nur »mit anderen Worten wiederholen«, was sie bereits vorausgesetzt haben muss, um ihre allgemeine Prämisse beispielhaft oder enumerativ absichern zu können. (T-GA, 135, 111 ff.) Doch wer – außer Logikern – sollte Interesse an solch tautologischer Selbstvergewisserung haben?

Die Praxis braucht nämlich etwas ganz anderes; Praxis braucht Argumentationen, die Ungewissheit durch methodisches Anschließen an geteilte Gewissheiten so weit zu reduzieren vermögen, dass sie ein auf bewährte Plausibilitätsannahmen gestütztes (!) und deshalb verantwortliches Reden und Handeln zulassen. Diese Argumentationen nennt Toulmin im Unterschied zu »analytisch«: »substanziell«. Substanzielle Argumentationen können gar nicht logisch stringent sein, weil sie sich an die Lösung von Problemen wagen, die mit den Mitteln analytischer Argumentation nicht einmal zugänglich wären. Entsprechend müssen sie ständig logische Toleranzgrenzen überschreiten. So nährte sich z.B. bei Kritikern des Kosovo-Krieges das Misstrauen gegenüber seiner gängigen menschenrechtlichen Legitimation aus Erfahrungen, die sich auf bekannte Instrumentalisierungen von Moral für die strategische Durchsetzung von Interessen bezogen. Doch so defizitär diese Argumentation unter analytischen Maßstäben auch war und so sehr sie ihren analytischen Gewissheitskredit auch überzieht, ihr substanzieller Charakter war dennoch erkennbar in der Lage, einem ernsthaften Bedenken im öffentlichen Diskurs über die legitimatorischen Grundlagen des Kosovo-Krieges argumentativ Stimme und Gewicht zu geben. Und dieses Gewicht ist durchaus methodisch überprüfbar. Das bedeutet: Auch substanzielle Argumentationen erheben Rationalitätsansprüche, die sie einlösen müssen, sollen sie Überzeugungskraft entwickeln. So lag beispielsweise die erkennbare Schwäche des beliebten argumentativen Hinweises auf Schändungsgefahr, mit dem einige Kritiker ihr Votum gegen den Eisenman-Entwurf für das Berliner Holocaust-Mahnmal begründeten, in der nicht gelingenden Verallgemeinerung eines Prinzips, das sie als verallgemeinerungsfähig voraussetzen mussten, um ihre Ablehnung argumentativ abstützen zu können. Würde nämlich Schändungsgefahr allgemein als überzeugendes Argument gegen ein öffentliches Bauvorhaben gelten, dann gäbe es in der Republik kein einziges öffentliches Gebäude.