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Historische Anthropologie zur Einführung

Jakob Tanner

Historische Anthropologie
zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat

Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Frankfurt a.M.†

Für Simone

Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg

© 2004 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: Nicolay Diulgheroff,
L’uomo razionale (1928)
Veröffentlichung der E-Book-Ausgabe März 2016
ISBN 978-3-96060-009-1
Basierend auf Printausgabe:
ISBN 978-3-88506-601-9
3., unveränderte Auflage 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

1.Einleitung: Anthropologisches Tohuwabohu

1.1 Menschenfresser im Cyberspace

1.2 Definitionen und Systematiken

1.3 Fragen und Thesen

1.4 Zielsetzung und Aufbau

2.Vom Staunen in der Aufklärung zum Krisenbewusstsein um 1900

2.1 Geschichtswissenschaft versus Wissenschaft vom Menschen

Exkurs: »M. Machine« Julien Offray de La Mettrie

2.2 Anthropologie und Rassenklassifikation

Exkurs: Foucaults Kritik am »anthropologischen Schlaf«

2.3 Krise der Geschichtswissenschaft im Fin de siècle

2.4 Physische und philosophische Anthropologie

3.Geschichtswissenschaft und Anthropologie im 20. Jahrhundert

3.1 Innovationen aus Frankreich: Die Historiker der Annales

3.2 Historisch-anthropologische Annäherungen in den USA und in Europa

3.3 Tendenzen und Debatten in Deutschland

3.4 Hors-texte? Feldforschung im Archiv und Spurensuche im Forschungsfeld

4.Probleme und Perspektiven der Historischen Anthropologie

4.1 Der »konkrete Mensch« als Fiktion?

4.2 Mikrohistorie und Handlungstheorien

4.3 Mikro- versus Makroperspektive und »les jeux d’échelles«

4.4 Alltag, Gewohnheiten, Wiederholungsstrukturen: Beständigkeit und Wandel

4.5 Leibliche Erfahrung und Techniken des Körpers

5.Der Anthropos im Lichte naturwissenschaftlicher Forschung

5.1 Feststellungen über das »noch nicht festgestellte Tier«

5.2 Soziobiologische Reduktionen und evolutionstheoretische Generalisierungen

5.3 Kultur im Gehirn: neurowissenschaftliche Einblicke

5.4 Begrenzte Rationalität und Alltagsheuristiken

5.5 Probleme und Chancen des interdisziplinären Dialogs

6.Geschichte und symmetrische Anthropologie

6.1 Zirkularität und Wechselwirkungen

6.2 Arbeit und Medien: das tool making animal als zoon symbolicon

Exkurs: Schrift als Medium und menschliche Praxis

6.3 Informationstheorie, kybernetische Anthropologie, Technik

6.4. Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens

7.Epilog: Der »rationale Mensch«

Dank

Literaturhinweise

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Dieter Thomä
Cornelia Vismann

1. Einleitung: Anthropologisches Tohuwabohu

»Dagegen gleicht der gute Historiker
dem Menschenfresser im Märchen.
Seine Beute weiß er dort,
wo er Menschenfleisch wittert.«1
(Marc Bloch)

1.1 Menschenfresser im Cyberspace

Der Historiker als »Menschenfresser«, der sich auf die Jagd begibt, weil das Menschliche das Objekt seiner Begierde und der Stoff seiner Geschichten ist: Mit diesem Bild hat der Historiker Marc Bloch in seiner zu Beginn der 1940er Jahre verfassten Apologie der Geschichte sein Handwerk beschrieben. Ihm ging es vor allem um »den Menschen […] in der Zeit«2. Dies könnte eine knappe Definition von »Historischer Anthropologie« sein – doch Bloch verwendet den Begriff nicht. Als das Buch 1949 durch seinen Kollegen und Freund Lucien Febvre posthum3 veröffentlicht wurde, befand sich das Substantiv »Anthropologie« noch immer weit weg vom Adjektiv »historisch«. Heute hingegen ist der Begriff »Historische Anthropologie« fest etabliert. Jene Vertreter der französischen Geschichtsschreibung, die in den 1950er und 1960er Jahren das Erkenntnisinteresse von Bloch und Febvre teilten, spielten bei der Prägung dieses neuen Wortes eine entscheidende Rolle. Aus gegenwärtiger Perspektive lässt sich feststellen, dass der Blick, den Bloch auf den »Beruf des Historikers« wirft, ihn als einen der Pioniere dieses interdisziplinären Ansatzes ausweist.

Dasselbe gilt für Lucien Febvre. Bereits 1930 hatte dieser die Jagd-Metapher für sein Historikermetier verwendet, zielte damit aber nicht direkt auf den Menschen, sondern auf die sprachlichen Ausdrucksmittel, die diesem zur Verfügung stehen. Die Jagdgründe stellen sich hier als semantisches Dickicht dar. Doch die Pirsch lohnt sich, denn »die Geschichte eines Wortes zu schreiben ist nie verlorene Mühe«. Allerdings hält sich Febvre an das Großwild, an die Schlüsselworter einer Sprache, deren Vergangenheit »kein Wild für die bloße Gelehrtenjagd« sei, »sondern Wild für den Historiker«4. Heute lässt sich im world wide web nach Begriffen jagen. Die Suche unter dem Stichwort »Historische Anthropologie« führt auf vielfältige, aber auch verwirrende Spuren.5

Der Weg zur menschlichen Kultur führt zunächst über Knochen. Die erste Position auf der angezeigten Liste verweist auf die Arbeitsgruppe Historische Anthropologie, eine Abteilung des Medizinhistorischen Instituts der Universität Bern.6 Laut Einführungstext wurden hier »seit 1974 […] alle im Kanton Bern ausgegrabenen menschlichen Skelettreste untersucht«. Dies geschieht »in enger Zusammenarbeit mit dem Archäologischen Dienst des Kantons Bern und mit verschiedenen Spezialisten vor allem aus dem Bereich der Medizin und der Historischen Wissenschaften. Der Schwerpunkt unserer Forschung liegt beim Menschen der jüngeren Zeitepochen«, worunter die spätrömische Zeit, das Früh- und Spätmittelalter sowie die Frühe Neuzeit subsumiert werden. Historische Anthropologie also als Methode, die es ermöglicht, aus unscheinbaren Knochenrelikten historische Tatsachen – buchstäbliche, nämlich auf Genen basierende Genealogien und Verwandtschaftsbeziehungen, aber auch Ernährungsweisen, Krankheiten, Verletzungen, Todesursachen – herauszupräparieren, und zwar mit den avancierten naturwissenschaftlichen Untersuchungstechniken.

Der link auf der zweiten Position führt zur Arbeitsstelle Historische Anthropologie an der Universität Erfurt, die durch die Historiker Hans Medick und Alf Lüdtke gegründet wurde und von ihnen geleitet wird.7 Hier werden »Impulse der historischkulturwissenschaftlichen Grundlagenforschung in die Lehre und in das Zusammenwirken der unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Fachdisziplinen« umgesetzt. Die Arbeitsstelle orientiert sich an der interpretativen Sozial- und Kulturanthropologie sowie an der Alltags- und Mikrogeschichte.8 Die »historisch-anthropologischen Ansätze […] nötigen zur Überprüfung von Geschichtsinterpretationen, die historische Veränderungsmacht primär an umfassende historische Prozesse und herausgehobene Ereignisse rückbinden. Sie überwinden damit die Konzentration auf Staaten und Kriege, ›große Männer‹ und ›große Strukturen‹, wie sie jahrzehntelang die Geschichtswissenschaft bestimmt hat. […] So kommen soziale Beziehungen und Konflikte, Herrschaft und Politik sowie kulturell-ökonomische Verhältnisse als soziale Praktiken in den Blick.« Neben der Erforschung zu bisher wenig behandelten Themen wie etwa »Geschichte von Person und Selbst, von Gewalt und Krieg oder auch von Arbeit und Umwelt« nennt die Arbeitsstelle als ihre hauptsächliche Zielsetzung, einen »Beitrag zur verstärkten methodisch-kritischen Reflexion einer interkulturellen Geschichtswissenschaft« leisten zu wollen. Historische Anthropologie ist hier der Blick durch ein mikroanalytisches Vergrößerungsglas, das die Komplexität gesellschaftlicher Phänomene und menschlichen Lebens einsichtig macht und damit neue Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen der Geschichtswissenschaft anregt. Institute und Abteilungen für Historische Anthropologie gibt es auch an den Universitäten Freiburg i.Br. (Jochen Martin), Konstanz (Rudolf Schlögel) und Klagenfurt (Gert Dressel).

Dagegen ist das Interdisziplinäre Zentrum für Historische Anthropologie der Freien Universität Berlin weniger geschichtswissenschaftlich als vielmehr philosophisch ausgerichtet. Die Zeitschrift dieses Zentrums, Paragrana, ist »dedicated to the continuing study of phenomena and structures of human conduct after the collapse of an obliging abstract anthropological norm«. Freilich sind die Trümmer dieses »Kollapses« noch immer merkwürdig präsent in den Themen von Publikationen, die zwischen kultureller Totalrelativierung und partieller Re-Universalisierung oszillieren. Zwar wird immer wieder festgehalten, es gebe »keinen definitiven Begriff vom Menschen« mehr.9 Andererseits aber veröffentlicht das Zentrum Beiträge, in denen konstatiert wird, »außerhalb der Übertreibungen des linguistischen Relativismus« habe »auch die Sprachwissenschaft […] die Annahme einer universellen geistigen und körperlichen Ausstattung des Menschen […] eigentlich immer akzeptiert«10. Das sind Positionen, die einander diametral gegenüberstehen, was – durchaus postmodern – kein Problem verursacht, weil Historische Anthropologie »keine geschlossene Theorie und keinen festen Standpunkt mehr zulässt«11.

Ein weiterer link verweist auf das Ludwig-Boltzmann-Institut für Historische Anthropologie in Wien, das sich als »Forschungsstelle und Forum zur Diskussion von Forschungsergebnissen über den Menschen« versteht und »Aussagen über die conditio humana als biologischen und als kulturellen Phänomenkomplex« anvisiert; ferner taucht das Institut für Zoologie und Anthropologie der Universität Göttingen auf, das eine auf die »Analyse menschlicher DNA aus bodengelagertem Skelettmaterial« und »DNA-Analysen an historischen nichtmenschlichen organischen Überlieferungsformen wie z.B. Pergament, Leder, Topfinhalte oder Felsbilder« spezialisierte Abteilung Historische Anthropologie und Humanökologie unterhält.

Offenbar ist »Historische Anthropologie« ein schillernder Begriff, der ein zerklüftetes Feld und auseinander driftende Forschungszugänge abdeckt. Mit dem Historiker André Burguière lässt sich verallgemeinernd sagen, dass er nicht einen spezifischen Zweig der historischen Forschung bezeichnet, sondern einen »Anziehungspunkt für neue Methoden und neue Fragestellungen«12.

1.2 Definitionen und Systematiken

Auch der Begriff der Anthropologie ist Teil eines verzweigten semantischen Netzwerkes und entsprechend vieldeutig. Bestehende Klassifizierungsraster bieten eine Orientierung. Jochen Martin schlägt ein zweistufiges System vor und unterscheidet systematische von historischen Anthropologien. Für die systematischen schlägt er folgende Klassifikation vor: a) biologisch-medizinische, b) philosophische und c) strukturale Anthropologie. Die »Historische Anthropologie« wird, weil sie in den unübersichtlichen Bereich der Geschichte integriert ist, nicht mehr weiter unterteilt.13

Bei dieser Gliederung fällt zweierlei auf: Erstens wird die »physische Anthropologie«, die in Europa eine zentrale Rolle spielte, nicht speziell genannt, sondern der biologisch-medizinischen Variante subsumiert, die sich unter anderem mit der physischen Konstitution des Menschen befasst. Und zweitens fehlt die Ethnologie. Sie weist zwar eine gemeinsame Schnittfläche mit der strukturalen Anthropologie auf, lässt sich aber nicht auf diese reduzieren. Mit seiner Systematik versucht Martin, die in kontinentaleuropäischen Ländern stark verankerte Zweiteilung zu überwinden, in der sich die physische Anthropologie auf der einen und die Völkerkunde bzw. Ethnologie auf der anderen Seite zum Teil bis heute gegenüberstehen.

Im Unterschied zu deutschen und französischen Klassifikationsvorschlägen gilt die Historische Anthropologie im angelsächsischen Raum nicht als eigene Richtung. Die International Encyclopedia of Social Sciences von 1968 listet unter dem Stichwort »Anthropologie« die verschiedenen disziplinären Fragmentierungen auf, welche aus dem vielfältigen Bemühen um die Erforschung des Menschen und der Menschheit resultierten, und nennt nacheinander fünf Bereiche: die deskriptiv und historisch orientierte cultural anthropology (Franz Boas, Marshall D. Sahlins, Clifford Geertz), die strukturfunktionalistisch ausgerichtete social anthropology (Bronislaw Malinowski, A.R. Radcliffe-Brown), die physische Anthropologie, die Linguistik und die Archäologie. Dies entspricht der in den USA üblichen Disziplineneinteilung als four field approach; ein Feld fehlt hier, weil die social anthropology nicht selbständig aufgeführt wird, sondern unter die cultural anthropology fällt. Die grundlegende, »truly fundamental division« innerhalb der Anthropologie sei allerdings, so die Schlussfolgerung der Enzylopädie, jene zwischen »physical anthropology« und dem »sociocultural study of man«14. Damit ist wieder die oben erwähnte Bifurkation angesprochen, die in Kontinentaleuropa zentral war, wo sich die beiden Richtungen der physischen Anthropologie und der Ethnologie – institutionell völlig getrennt und vom disziplinären Selbstverständnis her weit auseinander liegend – durchgesetzt hatten. Es ist diese Unterscheidung, die bereits Immanuel Kant im ausgehenden 18. Jahrhundert im Auge hatte, als er die »pragmatische Menschenkenntnis« von der »physiologischen« unterschied.15

Auf der »pragmatischen« Seite, die den Menschen in seinen vielfältigen kulturellen Ausdrucksformen untersucht und am historischen Wandel interessiert ist, situiert sich das Konzept einer Historischen Anthropologie, wie es in Frankreich schon seit den 1950er Jahren im Umkreis der Zeitschrift Annales diskutiert wurde. Dabei war anfänglich noch die Vorstellung leitend, diese sei speziell für »körpernahe« und die biologische Reproduktion betreffende Themen zuständig, was Roger Chartier zu der despektierlichen Bemerkung veranlasste, Historische Anthropologie laufe darauf hinaus, »anthropologischen Gegenständen eine historische Behandlung angedeihen zu lassen«16. Die italienische Mikrogeschichte und die deutsche Alltagsgeschichte, die seit den ausgehenden 1970er Jahren an Profil und Interesse gewannen, ließen sich demgegenüber von sozial- und kulturanthropologischen Ansätzen inspirieren und lösten sich von der traditionellen Vorstellung ab, es gebe spezifische anthropologische Untersuchungsgegenstände. Daraus entwickelte sich eine Historische Anthropologie, die von einem weiten Kulturbegriff ausgeht, sich eher in der Nähe einer »historischen Kulturanalyse«17 ansiedelt und starke Affinitäten zu cultural studies18, zur microstoria19, zu gender studies20 sowie zur postcolonial theory21 aufweist. Alle diese Ansätze schlagen nicht nur neue historische Sicht- und Interpretationsweisen vor, sondern erschließen auch neue, einander vielfältig überschneidende Forschungsbereiche. Vor allem Letztere, die postcolonial theory, sensibilisiert die Anthropologie darauf, dass sie als wissenschaftliches Unternehmen selber in einem kolonialistischen Zusammenhang entstanden ist.22

In Deutschland wurde vergleichsweise früh schon von Historischer Anthropologie gesprochen. Als Thomas Nipperdey (1967), Reinhart Koselleck (1971), Oskar Köhler (1974) und Wolf Lepenies (1975) für eine solche Bezeichnung plädierten23, wurde der Vorschlag allerdings kaum verstanden und fand zunächst nur wenig Resonanz. Lepenies schrieb in seinem Plädoyer für die Intensivierung des Kontakts zwischen den beiden Disziplinen: »Traditionellerweise werden Anthropologie und Geschichte einander gegenübergestellt – ihre gegenwärtige Annäherung in der doppelten Form einer Historisierung der Anthropologie wie einer Anthropologisierung der Geschichte muß daher auf den ersten Blick irritieren.«24 Tatsächlich erschien die Bezeichnung »Historische Anthropologie« auch in den 1970er Jahren noch vielen als ein Oxymoron. Zudem handelte es sich aus der Sicht der selbstbewusst aufstrebenden Sozialgeschichte beim Rekurs auf »den Menschen« um ein problematisches und ideologieanfälliges Konzept. Von dieser Richtung konnte nicht mit Entgegenkommen gerechnet werden. Abwehrreflexe gegen den Begriff »Historische Anthropologie« waren ebenso auf Seiten der Alltagsgeschichte zu registrieren, obwohl hier keine Berührungsängste gegenüber anthropologisch-ethnologischen Fragestellungen vorhanden waren. Im Gegenteil forderte z.B. Hans Medick 1984 den Einbezug »ethnologischer Erkenntnisweisen« in die Geschichte und verstand dies als »Herausforderung für die Sozialgeschichte«25. Gleich dreimal grenzte er sich jedoch in seinem programmatischen Aufsatz gegen »die historische Anthropologie deutscher Provenienz«26 ab, die er auf einem Holzweg sah, suche sie doch nach »epochen-, gesellschafts- und kulturübergreifenden Verhaltensweisen«. Medick beklagte vor allem die anhaltende »traditionelle Arbeitsteilung von Anthropologie und Geschichte«, in der »dem Historiker […] die Erforschung großer Veränderungen zugewiesen, dem ›historischen Anthropologen‹ aber die Untersuchung ›elementarer menschlicher Verhaltensweisen‹, gerade auch in ihrer Resistenz und Widerspenstigkeit gegen solche Veränderungen« aufgetragen werde.27

In einer wissenschaftlichen Arbeitsteilung, welche die Natur zum Forschungsgegenstand der Anthropologen, die Kultur aber zu jenem der Historiker erklärte, sahen allerdings auch schon Nipperdey, Koselleck, Köhler und Lepenies ein Auslaufmodell. So war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Bezeichnung »Historische Anthropologie« vom Oxymoron zum Pleonasmus wandelte. Zu Beginn der 1990er Jahre waren die wichtigsten Widerstände gegen die Verwendung dieses Begriffs gefallen. Nun schien Anthropologie anders denn als historische gar nicht mehr denkbar. Die 1993 erfolgte Gründung der Zeitschrift Historische Anthropologie, in der sich Vertreter der Alltagsgeschichte, einer kulturgeschichtlich erweiterten Sozialgeschichte und der Historischen Kulturforschung zusammenfanden, war ein Indiz dieses Wandels. Dieser war das Resultat dreier Umwege: erstens über die französischen Annales-Historiker, in deren Umfeld der Begriff anthropologie historique seit den 1950er Jahren auftauchte, zweitens über die britische social anthropology und die amerikanische cultural anthropology, in der die Debatte über eine Historisierung der Anthropologie zu Beginn der 1960er Jahre vehement aufbrach, und drittens über die Volkskunde, die sich seit den 1960er Jahren auch in Deutschland zunehmend als »Europäische Ethnologie« und später als »Ethnologie industrieller Gesellschaften« verstand und sich einem kulturalistischen Paradigma annäherte.28 Durch die Impulse aus diesen drei Richtungen wurden Bedeutung und Ausrichtung des Konzepts substanziell verändert. Es kam – wie Richard van Dülmen schrieb – zu einer Themenausweitung ohne Grenzen, »insofern alle Gegenstände, Phänomene und Handlungen Rückschlüsse auf das Handeln und Denken von Menschen erlauben«29.

Zum Zeitpunkt, als die trotz interdisziplinärem Anspruch stark auf die Geschichtswissenschaft ausgerichtete Zeitschrift Historische Anthropologie zu erscheinen begann, war derselbe Begriff allerdings auch von anderer Seite her neu lanciert worden. Inzwischen war die Diskussion um den Zustand der universitären Wissenschaft aufgrund neuer transnationaler und -disziplinärer Impulse (Ende des Kalten Krieges sowie Formierung der Kultur- und Medienwissenschaften) wiederum in Bewegung geraten. In einer von Wolfgang Frühwald, Hans Robert Jauß, Reinhart Koselleck, Jürgen Mittelstraß und Burkhart Steinwachs 1991 veröffentlichten Denkschrift Geisteswissenschaften heute wurde vor diesem Hintergrund der »Versuch einer Grundlagenverständigung über die Geisteswissenschaften« angestrebt.30 Die Rede war von einer »Modernisierung« der Geisteswissenschaften »durch ihre Neubestimmung als Kulturwissenschaften«. Um dies zu erreichen, wurde wiederum das »Erkenntnisziel einer ›Anthropologisierung des Wissens‹« postuliert. In der Denkschrift ist auch von einer »humanwissenschaftlichen Anthropologie« die Rede, die der Erforschung der »anthropologischen Dimension« von Geschichte und Gegenwart gelte.31 Nicht nur in dieser deutschen Publikation, sondern auch in französischen Studien fungiert »Anthropologisierung« zu Beginn der 1990er Jahre als theoretischer Attraktor. So prognostizierte der Ethnologe Marc Augé, das 21. Jahrhundert werde »anthropologisch« sein.32

Das vielstimmige »neue Interesse an einer historischen Anthropologie«33 war also kaum der Effekt eines zündenden Begriffs mit klarer semantischer Kontur; es entfaltete sich eher umgekehrt proportional zur konzeptionellen Stärke des Vorschlags. Wie so häufig ergeben auch hier semantisch weiche Wörter einen starken gemeinsamen Nenner für unterschiedlichste Bestrebungen. So war es nicht erstaunlich, dass die wolkige, polyseme, zwischen verschiedenen Bedeutungspolen schwankende Bezeichnung »Anthropologie« einherging mit einer Inflation von aktualisierten alten und neuen Bindestrich-Bezeichnungen. Physische, philosophische und evolutionäre Anthropologie sowie vergleichende Anthropologie sind heute ebenso fest etablierte Disziplinen wie social anthropology und cultural anthropology.34 Auch über Technik-, Wirtschafts- und Umweltanthropologie, über eine »Anthropologie der Erkenntnis«35 sowie über eine anthropology of experience36 und eine anthropology of the senses37 wird seit Jahrzehnten und bis in die Gegenwart fächerübergreifend diskutiert. Der Begriff »negative Anthropologie« taucht – im Anschluss an ältere philosophische Traditionen – seit den 1960er Jahren in verschiedenen Analysekontexten auf und hat seine Attraktivität nicht eingebüßt.38 Die Bezeichnung psycho-analytical anthropology hielt sich hingegen weniger gut.39 Heute wird auch verstärkt über »Anthropologie der Intersubjektivität«40, »kybernetische Anthropologie«41, Medienanthropologie42, »literarische Anthropologie«43, »Bildanthropologie«44, »Anthropologie geschichtlicher Zeiterfahrung«45 und »anthropologie de la surmodernité«46 publiziert. Anthropology of gender47, anthropology of life sciences48 und »Anthropologie des Cyberspace«49 markieren wichtige Schwerpunkte in aktuellen Debatten. Es erschienen Bücher, die eine »psychiatrische Anthropologie«50 oder eine »anthropologie politique«51 vorschlagen. Auch der Zusammenhang von »Anthropologie und Politiksteuerung«52 ist ein Thema. Diese Begriffskonstruktionen verweisen alle auf historische Vorgänge, auf einen gesellschaftlichen Wandel, dessen Facetten durch einen anthropologischen Blick fokussiert werden. Anthropologie ist heute also dabei, die Wissenschaft quer durch die Disziplinen hindurch zu infiltrieren; dank des subversiven Adjektivs »historisch« gibt es mittlerweile fast keinen Forschungsbereich mehr, in dem sich die Figur des anthropos nicht diskursiv hätte reproduzieren können.

1.3 Fragen und Thesen

Der französische Philosoph Jacques Rancière erklärte: »Die Geschichte konstituiert sich als Wissenschaft dadurch, dass sie mit literarischen Verfahren philosophische Probleme löst, die sie als solche zu stellen vermeidet.«53 Schon Siegfried Kracauer hat darauf hingewiesen, dass die »formgebende Tendenz«, die durch literarische Verfahren entfaltet wird, für die Geschichtsschreibung zwar zentral ist, dass sie aber die »realistische Tendenz« nicht beherrschen dürfe. Man könne verstehen, »warum Historiker von Misstrauen gegen philosophische Spekulationen erfüllt sind, die wie zu weite Kleider locker am Gerippe der Fakten hängen, und warum sie zu Recht oder Unrecht Skrupel hegen gegen historische Schriften, deren literarische Schönheit sichtlich ins Auge fällt«54. Er spricht von einer »›richtigen‹ Balance« zwischen den Formimpulsen des Historikers und seiner »realistischen Tendenz«, die bei der Darstellung der »inhomogenen Struktur des historischen Universums«55 gesucht werden müsse. Geschichtsschreibung konzentriere sich »gewöhnlich nicht so sehr auf die letzten als auf die vorletzten Dinge«; sie versuche, philosophische Grundsatzfragen in eine Reflexion über das Zusammenspiel von Archivarbeit und historischem Erzählen zu übersetzen. Das theoretische Hauptwerk Kracauers trägt denn auch den programmatischen Titel: History. The Last Things Before The Last.

Diese pragmatische Haltung zeigt sich bei den Versuchen, Historische Anthropologie zu definieren und ihren Platz in der disziplinären Matrix der Wissenschaft zu bestimmen. Robert Darnton sprach 1984 von einem anthropological mode of history56. Peter Burke zählt 1987 fünf Kriterien auf, durch die dieser »kulturgeschichtliche« Ansatz sich unterscheide von »anderen Formen der Sozialgeschichte«: Qualitative Fallstudien, räumlich beschränkte Untersuchungsfelder, Verfahren der ›dichten Beschreibung‹, Analyse der weltbilderhaltenden Funktion trivialer Routinen bzw. Rituale sowie Bezugnahme auf anthropologische und kulturwissenschaftliche Theorietraditionen.57 Historische Anthropologie bleibe aber nichts weiter als eine Form der Geschichtsschreibung. Kritiker einer solchen Engführung haben demgegenüber betont, mit der Verbindung von Anthropologie und Geschichte böten sich nicht nur gemeinsame Forschungsgebiete, sondern darüber hinaus eine aussichtsreiche Möglichkeit, das theoretische Drehmoment interdisziplinären Arbeitens besser zu nutzen. So bemerkte der Anthropologe Bernard S. Cohn im Jahre 1980: »It is relatively simple to suggest and explore subject matters which are of joint interest to historians and anthropologists. It is much more difficult to delineate a common epistemological space which can be termed historical anthropology.«58 Unlängst hat Brian Keith Axel für einen noch weiter gehenden sozial- und geisteswissenschaftlichen Paradigmenwechsel plädiert, der die festgefügte disziplinäre Matrix der akademischen Wissenschaft aufzubrechen beabsichtigt. In der Historischen Anthropologie sieht er das Vehikel für die Erprobung ganz neuer Formen wissenschaftlicher Forschung jenseits traditioneller Modelle der Interdisziplinarität.59

In welche Richtung die Reise geht, hängt vor allem von den Fragestellungen ab, welche die Historische Anthropologie in die wissenschaftliche Forschung einbringt. Drei Grundfragen lassen sich unterscheiden: erstens jene nach dem Wandel von Menschenbildern und den sich verändernden diskursiven und medialen Bedingungen anthropozentrischer Selbstbeschreibungen; zweitens jene nach den sozialen Praktiken und symbolischen Formen, durch welche die Menschen ihr gesellschaftliches Zusammenleben organisieren und regulieren, und drittens jene nach der Geschichtlichkeit der menschlichen Natur.

Zur ersten Problematik liegt bereits eine größere Zahl kulturwissenschaftlicher Untersuchungen vor, die das Sensorium für den unerhörten Reichtum menschlicher Selbst- und Fremdbilder gestärkt haben.60 In den Formen diskursiver und visueller Selbstrepräsentation des Menschen sind sowohl Kontinuitäten als auch frappante Umbrüche zu erkennen. Dabei zeigt sich, wie sehr Menschenbilder ihre Konturen durch Demarkation erhalten. Das Wissen über den anthropos war und ist immer auch ein Nachdenken über die Grenzziehungen und Übergänge zwischen Nichtmenschlichem, Menschlichem und Numinosem. Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Maschinen, Automaten, Androiden, Cyborgs, Monstren, Tieren, Primaten, Barbaren, Menschen, Engeln, Teufeln und Göttern spielten zu unterschiedlichen Zeiten eine zentrale Rolle in den Diskursen, welche um den oder die Menschen oszillierten. Traten manchmal Vermischungen und Analogien hervor, so gab es auch Versuche einer Differentialdiagnostik des homo sapiens. Seit Beginn der Neuzeit waren Bau und Beobachtung von Automaten zur obsessiven Leidenschaft geworden. Aus Maschinen wurden neue Selbstrepräsentationen des Menschen generiert. Gleichzeitig kam nun verstärkt die Geschichtlichkeit ins Spiel. Der Vorschlag, den z.B. Giambattista Vico in seiner Scienza nuova aus dem Jahre 1725 machte: nämlich die Geschichte als Prozess der allmählichen Menschwerdung des Menschen aufzufassen und auf ein »Zeitalter der Götter« eines der »Heroen« und schließlich eines der »Menschen« folgen zu lassen61, gehorcht einer ganz anderen Logik als der mehr als ein Jahrhundert später formulierte Satz Charles Darwins: »If all men were dead, then monkeys make men. – Men make angels.«62 In den Debatten um Künstliche Intelligenz, die wiederum hundert Jahre später mit dem Aufkommen des Computers geführt wurden, verschwanden Engel und Affen zunächst aus dem Blickfeld; demgegenüber rückten nun die Unterscheidungsmerkmale zwischen Menschen und »intelligenten« Maschinen in den Vordergrund. Inzwischen kehren die Primaten in die Diskussion zurück. Gleichzeitig betonen Religionswissenschaftler, wie wichtig es gerade heute sei, erneut »der heilsamen Unterscheidung von Gott und Mensch Geltung zu verschaffen«63. Diese und viele andere Beispiele zeigen, wie variantenreich und unterschiedlich die durch Abgrenzungen gewonnenen Selbstbeschreibungsformen des Menschen im Laufe der Geschichte ausgefallen sind. (vgl. Kapitel 5.1)

Die zweite Frage nach sozialen Praktiken und symbolischen Formen wird durch jene Richtungen der Historischen Anthropologie aufgegriffen, die in den 1980er Jahren aus der Alltagsgeschichte und der Historischen Kulturforschung hervorgingen und zunächst einen deutlichen Schwerpunkt auf der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte hatten. Hier wurde vor allem zu drei von der Historischen Sozialwissenschaft weitgehend ausgesparten Untersuchungsbereichen geforscht: Zunächst hielt sich noch die Vorstellung von »anthropologienahen« Themenfeldern, worunter vor allem »körperbezogene« Aspekte menschlichen Sozialverhaltens verstanden wurden: Geburt und Tod, Sexualverhalten, Ehe und Prostitution, Krankheiten, Umgang mit Tieren, Gewalt, Ernährung, Bekleidung etc. Dann kamen jene Bereiche ins Blickfeld, die von einer modernisierungstheoretischen Konzeption der Geschichtsschreibung als »Relikte« der Vergangenheit betrachtet und deshalb kaum einer historischen Untersuchung unterzogen wurden: Religion, Frömmigkeit, Magie, Aberglaube, Hexerei etc. Generell ist dieser Ansatz schließlich gekennzeichnet durch die Orientierung an einem »Blick von unten« und durch das Interesse an einer »Erweiterung der Ränder«; die Stichworte lauteten: Verlierer, Minoritäten, Haus und Familie, Generation, Lebensalter und Geschlecht, Eigensinn, Konflikt, Protest, Aufstand, Kriminalität etc. Seit einiger Zeit wurden auch Fragen der Inter- und Transkulturalität, des Kulturaustausches sowie des Verhältnisses von Eigenem und Fremdem wichtiger. Dabei geht es nicht nur um die Erschließung neuer Forschungsobjekte, sondern weit stärker um die Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens des Anderen sowie um die Präsenz des Fremden in der eigenen Kultur. Die Selbstbeschränkung auf Europa, welche die historische Kulturforschung noch charakterisierte, wurde im Zuge dieser Auseinandersetzung aufgebrochen.64

Die dritte Problematik der Geschichtlichkeit der menschlichen Natur ist komplexer und umstrittener. Heute gibt es eine ganze Reihe von gut dotierten Forschungseinrichtungen, die experimentell gewonnenes positives Wissen über den Menschen generieren. Dabei wird häufig von einem ontologischen Unterschied zwischen Natur und Kultur ausgegangen. Man überlässt hier die Untersuchung der verwirrenden und faszinierenden Vielfalt sozialer und kultureller Phänomene den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften und konzentriert sich auf das, was man als die Natur des Menschen, d.h. als das gegenüber kulturellem Wandel »Gegebene« betrachtet. Das gemeinsame Erkenntnisziel dieser im Einzelnen sehr unterschiedlichen Forschungszugänge besteht darin, invariante Grundmuster und Typen menschlichen Verhaltens freizulegen. Die alten Fragen, mit denen sich die philosophische Anthropologie befasste, sollen – dies ist ein vielfach formulierter Anspruch – endlich mittels naturwissenschaftlicher Methoden ein für alle Mal geklärt werden. In den aufstrebenden »Lebenswissenschaften« (im weitesten Sinne von Genomik und Molekularbiologie über Neuro- und Kognitionswissenschaften bis hin zu Soziobiologie und Humanethologie) sowie in Bereichen der experimentellen Ökonomie, Psychologie und Soziologie wird somit auf eine Enthistorisierung der Anthropologie hingearbeitet. Unter dem Einfluss naturwissenschaftlicher, experimentell gewonnener Forschungsbefunde nehmen neue Menschenbilder Gestalt an, z.B. jenes des »neuronalen Menschen«65. Bereits ist von einem neuronal turn in der Geschichtswissenschaft die Rede, der die Aufmerksamkeit der Historiker auf die faszinierende Verfasstheit des menschlichen Gehirns lenken soll.66 Gerade das Hirn bietet sich aber auch an, um von der geschichtlichen Natur des Menschen zu sprechen. Denn weit davon entfernt, durch genetische Faktoren determiniert zu sein, formt sich »die Natur« nicht nur menschlicher Gehirne, sondern des ganzen Körpers in Wechselwirkung mit den Kulturtechniken und Mediensystemen, die Menschen in ihrer kommunikativen Interaktion auf vielfältige Weise gebrauchen. Diese Kulturfaktoren sind einem starken Wandel unterworfen, was auf die genuine Historizität der menschlichen Natur schließen lässt.

Eine Auseinandersetzung mit diesen drei Problemstellungen macht deutlich, dass Positionen, die entweder einseitig universalistisch oder radikal kulturrelativistisch argumentieren, kaum mehr theoretische Schubkraft zu entwickeln vermögen. Die Vorstellung einer überhistorischen »menschlichen Natur«, die auf »anthropologische Grundkonstanten« zurückgeführt werden kann, hat sich ebenso erschöpft wie ein Ansatz, der angesichts der Fülle der zu entdeckenden menschlichen Phänomene rein deskriptiv-additiv verfährt und »Kulturen« voneinander isoliert. Wenn diese Alternative nicht mehr interessant ist: Welche theoretischen Entwürfe, welche Argumentationsstrategien bieten sich dann an? Wie verfährt eine Anthropologie, die sich nicht mehr über einen »materialen Wissensbestand, der unabhängig von der Geschichte« gewonnen werden kann, definiert?67 Welche Konsequenzen sind aus der von Reinhart Koselleck formulierten Einsicht zu ziehen, auch die Frage nach »anthropologischen Bedingungen möglicher Erfahrungen« sei »in die Diachronie hineingezwungen« worden?68

Eine weiter führende Perspektive eröffnet die Symmetrisierung der historischen Anthropologie. Der Begriff der »symmetrischen Anthropologie« stammt aus der Wissenschaftsgeschichte. In Anlehnung an Michel Callon hat Bruno Latour seine inspirierende Studie Wir sind nie modern gewesen als den »Versuch einer symmetrischen Anthropologie« bezeichnet.69 Mit einem »verallgemeinernden Symmetrieprinzip« kann – so die These Latours – die »alte anthropologische Matrix« gesprengt und anthropozentrischen Kurzschlüssen entgegengewirkt werden. An der Konstitution von Erfahrungsräumen sind nicht nur die Menschen, sondern auch die Dinge beteiligt, die dem menschlichen Handeln vorausgesetzt sind und vielfach aus ihm hervorgehen. Menschen und Dinge sind überhaupt nicht mehr so einfach zu unterscheiden, wie das ein cartesianisches Menschenbild suggeriert, wonach der Körper des Menschen zwar auch ein Ding und dementsprechend mechanischen Kausalgesetzen unterworfen sei, während das für den »Geist« nicht gelte.70 Wird diese Dichotomie zurückgewiesen, so rücken Interaktionen unterschiedlicher Aktanten – menschlicher Wesen und natürlicher Objekte – ins Aufmerksamkeitsfeld. Es werden komplexe Netzwerke erkennbar, die auf der permanenten Vermischung von Natur/Kultur basieren. Kanalisationen, Verkehrs- und Kommunikationssysteme, chemische Substanzen und Elektrizität sind weder »Natur« noch »Kultur«, sondern immer schon beides. Menschen, die sich als »Kulturwesen« einer »Naturwelt« gegenüberzustehen glauben und die physikalische Ereignisse zu technisch nutzbaren »Naturkräften« bündeln, sind faktisch mit Hybriden konfrontiert. Wer das sieht, wird auch sich selbst als hybrides Wesen begreifen können.71 Das Postulat einer Symmetrisierung der Anthropologie bezieht sich über ein neues Verständnis von Institutionen, Technik und Medien hinaus auch auf das Handeln und Verstehen im Spannungsfeld von universellen Eigenschaften und kultureller Differenz. (vgl. dazu Kapitel 6)

1.4 Zielsetzung und Aufbau

Diese Einführung versteht sich weniger als Kompendium von Forschungsgebieten und -ansätzen denn als Versuch einer problemorientierten Übersicht über die Historische Anthropologie. Dabei kommen vielfach neue, noch nicht etablierte Fragen zur Sprache. Aus dem breiten Angebot bereits vorhandener Werke einführenden Charakters sollen vor allem zwei hervorgehoben werden: Richard van Dülmens Historische Anthropologie. Entwicklung – Probleme – Aufgaben (2001) und Gert Dressels Historische Anthropologie. Eine Einführung (1996). Die Feststellung, es gebe inzwischen »viel, viel Literatur« und das Forschungsgelände sei vollkommen unübersichtlich geworden72, zeugt zwar von der akademischen Normalisierung der Historischen Anthropologie: Sie ist, von den Rändern verschiedener Disziplinen herkommend, zu einem wichtigen Produktionszentrum historischer Untersuchungen geworden, das nun routiniert und mit steigendem output arbeitet. Die veränderte Lage verlangt aber nach theoretischer Reflexion und dem Versuch einer profilierteren Positionierung des Ansatzes. Hilfreich dafür sind noch immer der von Hans Süssmuth herausgegebene Sammelband Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte (1984)73 und Pier Paolo Viazzos Introduzione all’anthropologia storica (2000)74. Hingewiesen sei zudem auf einen Beitrag von Norbert Ricken: Menschen – Zur Struktur anthropologischer Reflexionen (2004).75