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Philosophie der internationalen Politik zur Einführung

Frank Dietrich/Véronique Zanetti

Philosophie der internationalen Politik
zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Ina Kerner, Berlin
Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2014 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Veröffentlichung der E-Book-Ausgabe März 2016
ISBN 978-3-96060-010-7
Basierend auf Printausgabe:
ISBN 978-3-88506-081-9
1. Aufl. 2014

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Ina Kerner
Dieter Thomä

Inhalt

1.Einleitung

2.Krieg, humanitäre Intervention und Terrorismus

2.1 Was ist Krieg?

2.2 Die Rechtfertigung des Krieges

2.3 Die Lehre des gerechten Krieges: historischer Rückblick

2.4 Die Rechtfertigungsprinzipien der Lehre des gerechten Krieges

2.5 Die humanitäre Intervention

2.6 Terrorismus

3.Sezession

3.1 Einführung

3.2 Völkerrechtliche Bestimmungen

3.3 Ethische Fragen

3.4 Gerechtigkeitstheorien

3.5 Nationale Theorien

3.6 Plebiszitäre Theorien

4.Migration

4.1 Einführung

4.2 Völkerrecht

4.3 Ethische Fragen

4.4 Egalitarismus

4.5 Utilitarismus

4.6 Libertarismus

4.7 Nationale Selbstbestimmung

4.8 Freiheit der Assoziation

5.Weltarmut und Hunger

5.1 Problemlage

5.2 Eine Frage der Moral oder der Politik?

5.3 Individuelle Moral oder politische Gerechtigkeit?

5.4 Institutionelle Gerechtigkeit

5.5 Moralischer Kosmopolitismus

6.Klimawandel

6.1 Einführung

6.2 Internationale Klimapolitik

6.3 Ethische Fragen und Anreizprobleme

6.4 Die Kosten des Klimawandels

6.5 Die Verteilung zukünftiger Emissionsrechte

6.6 Pragmatismus versus Gerechtigkeit

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Über die Autoren

1. Einleitung

Die internationalen Beziehungen haben sich erst in jüngerer Zeit zu einem vollwertigen Gegenstand der politischen Philosophie entwickelt. Zwar kann die philosophische Theorie des Krieges – das Nachdenken über den Grund und die Rechtfertigung des Krieges sowie die Grenzen der moralisch erlaubten Mittel im Krieg – auf eine sehr lange Tradition zurückblicken. Bereits Alberico Gentili, Hugo Grotius und Emer de Vattel haben sich ausführlich mit der Frage des gerechten Krieges befasst. Ferner hat Kant in seiner Friedensschrift die Möglichkeit einer dauerhaften Konfliktbeilegung untersucht und eine wichtige Alternative zum Modell der staatlichen Souveränität als einzigem Garanten einer Rechtsordnung aufgezeigt. Dennoch beschränkte sich die Reflexion auf den Gegenstandsbereich des zwischenstaatlichen Krieges. Gefangen im Nationalstaatsparadigma, interessierte sich die politische Philosophie primär für die Beziehungen zwischen Staaten. Andere Herausforderungen der internationalen Politik, wie etwa die enormen Wohlstandsunterschiede zwischen verschiedenen Weltregionen oder die Existenz separatistischer Bestrebungen, sind aber von den klassischen Autoren nicht oder nur randständig behandelt worden.

Eine breite Diskussion zu unterschiedlichen Facetten der internationalen Beziehungen ist in der politischen Philosophie erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden. Wolfgang Kersting führt ihre Anfänge auf die Zeit des Vietnam-Krieges und die Gründung der Zeitschrift Philosophy and Public Affairs als Ort der Auseinandersetzung über die Rechtfertigung des Vietnam-Krieges zurück (vgl. Kersting 1998: 10). Seit den 1980er Jahren haben sich über Fragen der militärischen Gewalt hinaus umfangreiche Debatten zu weiteren Problembereichen, wie z. B. der Migration, der globalen Armut und der Sezession, entwickelt. Immer mehr an Bedeutung gewinnt zudem die philosophische Auseinandersetzung mit dem Klimawandel, der eine Vielzahl schwieriger ethischer Fragen aufwirft.

Die Philosophie der internationalen Politik betrachtet ihren Gegenstandsbereich unter normativen Gesichtspunkten, d. h., sie fragt, wie die »Weltordnung« gestaltet werden soll und welche moralischen Rechte und Pflichten Staaten und andere internationale Akteure gegeneinander haben. In ihrem Fokus stehen u. a. die Rechtfertigung staatlicher Souveränität, die Zulässigkeit von Gewaltanwendung, die Legitimation von Grenzen sowie mögliche Hilfspflichten gegenüber anderen Staaten und ihren Bürgern. Die Darstellung der vorliegenden Einführung folgt einer im normativen Individualismus begründeten philosophischen Perspektive der internationalen Beziehungen. Im Zentrum steht die liberale Ansicht, dass Individuen fundamentale Freiheitsrechte haben, die von politischen Institutionen konkretisiert und geschützt werden sollen. Folglich müssen auch die Regelungen, die im internationalen Bereich getroffen werden, immer nach den Auswirkungen, die sie auf die Individuen haben, beurteilt werden.

Die aktuellen Entwicklungen, insbesondere die Globalisierungstendenzen der Wirtschaft, der Politik und des Rechts, bilden einen unverzichtbaren Hintergrund für die normative Analyse. Von besonderer Bedeutung sind die zahlreichen völkerrechtlichen Konventionen, die in den vergangenen Jahrzehnten verabschiedet wurden, um die Rechte von Personen und Gruppen zu schützen. Ihre Zahl sowie die Zahl der Staaten, die sie ratifiziert haben, zeigt, welche enormen Fortschritte das internationale Recht seit dem letzten Weltkrieg gemacht hat. Zu einer nüchternen Bestandsaufnahme der faktischen Verhältnisse gehört aber auch die Feststellung, dass in der Praxis viele völkerrechtliche Bestimmungen nicht oder nur unzureichend befolgt werden.

Aufgrund ihrer normativen Ausrichtung steht die Philosophie der internationalen Politik in scharfem Gegensatz zur Position der sogenannten Realisten, die in der Politikwissenschaft immer noch sehr verbreitet ist. Aus Sicht der Realisten kann die Moral kaum oder gar keine Anwendung auf die Sphäre der Beziehungen zwischen Staaten finden. Diese Auffassung hat eine lange Tradition: Sie geht auf Thukydides zurück und fand bei Machiavelli, Hobbes und Spinoza ihre klassischen Vertreter, bevor sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in den USA und in England eine Renaissance erlebte. Auch wenn die Autoren im Einzelnen sehr unterschiedliche Positionen verteidigt haben, gilt für den Realismus allgemein die These, dass Politik und Moral nichts miteinander zu tun haben. Die Trennung gehe direkt aus dem Wesen der Moral hervor, die Typen von individuellen Handlungen vorschreibe und deshalb für die Regulierung kollektiver Handlungen unzuständig sei.

Aus Sicht der Realisten stellt die Macht die entscheidende Kategorie der Politik dar. Das liege zum einen im Wesen des Menschen, der nicht nur vom Selbsterhaltungstrieb, sondern auch von dem Drang, andere zu beherrschen, getrieben sei. Zum anderen liege es daran, dass sich die Beziehung zwischen den Staaten in einem weitgehend rechtsfreien Raum abspiele. Unter der Bedingung der Anarchie sei die klügste politische Strategie die Konzentration auf das nationale Interesse. Der moralische Idealismus in der Politik sei eine gefährliche Utopie, die die innere und äußere Sicherheit der Staaten aufs Spiel setze. Er ignoriere die real existierenden Spannungen und Unberechenbarkeiten von Interessenkonflikten und das Bestehen ungleicher Machtverteilung. In Abwesenheit einer geltenden überstaatlichen Herrschafts- und Rechtsordnung sei jeder Staatsmann gut beraten, primär die Interessen seines Landes zu vertreten und diese nicht durch unrealistische Erwartungen oder durch das Befolgen moralischer Standards zu verspielen. Denn nach Auffassung der Realisten sind die Politiker ihren Bürgern gegenüber verpflichtet, in der Außenpolitik Verantwortung zu übernehmen und Klugheitsstrategien zu verfolgen, die mit moralischen Prinzipien nicht (oder nur zufällig) kompatibel sind. So betrachtet, ist die realistische Position keine moral-skeptische Position, denn sie ist mit der Ansicht verträglich, dass die Staatsvertreter ihren Bürgern durch eine besondere verantwortungsethische Pflicht verbunden sind, die sie gegenüber anderen Weltbürgern oder Staaten nicht haben. Die Realisten sind bloß der Auffassung, dass die Sicherheit des eigenen Staates und seine strategischen Interessen eine klare Priorität vor dem Interesse fremder Staaten haben und dass, wenn diese Interessen in Konflikt geraten, es unverantwortlich wäre, sich in politischen Entscheidungen von den Regeln der Moral leiten zu lassen.

Diese Problematik, die schon seit dem Ersten Weltkrieg den theoretischen Diskurs über die internationale Politik entzweit hat, scheint auf den ersten Blick eine seit Jahrzehnten währende Aktualisierung durch die Debatte um eine ›ideale‹ vs. ›nichtideale‹ Theorie zu erfahren. Im Zentrum dieser Debatte steht eine methodologische Überlegung über die Tauglichkeit von moralischen Idealen in der Gerechtigkeitstheorie. Sie wird vor allem um John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (1971) geführt. Seit dem Erscheinen dieses Standardwerks orientiert sich die politische Philosophie überwiegend an einer idealen Theorie. Die ideale Theorie ruft angesichts von tief greifenden gesellschaftlichen Konflikten die Streitenden dazu auf, sich an die Verfahren zu halten, über die sie sich idealiter – als Freie, Gleiche und Vernünftige – verständigt haben. Die Kritiker warnen vor solchen Idealisierungen. Es reiche nicht, sich auf apriorische Voraussetzungen oder auf Lehnstuhlintuitionen darüber zu verlassen, welche politischen Institutionen tragfähig sind und welche wünschenswert wären. Wenn die politische Philosophie die Umsetzbarkeit ihrer Prinzipien ernst nehme, so müsse sie von den existierenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen ausgehen und ihre normativen Vorschläge am Machbaren messen. In der Politik, sagt Raymond Geuss, ein dezidierter Kritiker einer von Idealen geleiteten politischen Philosophie, gehe es vorwiegend um Handlungen und Handlungskontexte und nicht um Überzeugungen über Prinzipien:

»First, political philosophy must be realist. That means, roughly speaking, that it must start from and be concerned in the first instance not with how people ought ideally (or ought ›rationally‹) to act, what they ought to desire, or value, the kind of people they ought to be, etc., but, rather, with the way the social, economic, political, etc., institutions actually operate in some society at some given time, and what really does move human beings to act in given circumstances« (Geuss 2008: 9).

Nach Auffassung der Vertreter eines nicht-idealen Theorieansatzes soll die Philosophie der internationalen Beziehungen, wie der Titel von Friedrich Kratochwils Aufsatz das programmatisch ankündigt (vgl. v. Kratochwil 1998), Kants vernunftrechtlichen Legitimierungsansatz vergessen und ihn durch Humes empiriesensitive, kontextbezogene und realitätszentrierte politische Philosophie ersetzen.

Die Ähnlichkeit zwischen dem klassischen politischen Realismus und dem methodologischen Realismus der nicht-idealen Theoretiker betrifft allerdings nur die gemeinsame Skepsis gegenüber einer Orientierung an abstrakten moralischen Prinzipien. Vertreter der nicht-idealen Theorie teilen nämlich mit den Realisten weder die pessimistischen anthropologischen Prämissen noch die daraus sich ergebende Forderung, Politik und Ethik strikt zu trennen. Beiden Positionen kann gleichwohl der Vorwurf des Konservativismus gemacht werden: Argumentiert man nämlich unter Berufung auf den ›Ist-Zustand‹, um das Ideal unter den herrschenden Bedingungen als nicht realisierbar zu disqualifizieren, läuft man Gefahr, Frieden mit der schlechten Wirklichkeit zu machen und unerträgliche Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Aus der Rücksicht auf die ›bestehenden Verhältnisse‹ folgt nicht notwendig, dass man auf ein moralisches Ideal als kritischen Bewertungsmaßstab verzichten muss.

Die vorliegende Einführung verfolgt das Ziel, einen Überblick über die zentralen Fragestellungen der Philosophie der internationalen Politik zu geben. Am Anfang steht das Thema der Kriegsrechtfertigung, das den Blick der politischen Philosophie schon früh auf zwischenstaatliche Probleme gelenkt und für die Entwicklung einer eigenständigen Teildisziplin eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Neben der klassischen Lehre des gerechten Krieges gilt die Aufmerksamkeit im Weiteren auch den Diskussionen, die aktuell über die Legitimation humanitärer Intervention und den internationalen Terrorismus geführt werden (Kap. 2). Auch die separatistischen Bestrebungen, die im Mittelpunkt des folgenden Kapitels stehen, führen häufig zu Spannungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen. Die eigentliche theoretische Bedeutung des Themas der Sezession liegt aber nicht in der Kriegsrechtfertigung, sondern in der Frage nach den Grundlagen und Grenzen des Rechts auf politische Selbstbestimmung (Kap. 3). Wie die Sezession verweist auch das Phänomen der globalen Migration, das es anschließend zu erörtern gilt, auf die moralische Relevanz staatlicher Grenzen. Im Kontext der Migration ist freilich nicht die Frage einschlägig, unter welchen Bedingungen unabhängige Staaten gegründet und neue Grenzen etabliert werden dürfen. Zu untersuchen ist vielmehr, ob und ggf. inwieweit die Staaten berechtigt sind, ihre Grenzen zu schließen und Fremden den Zutritt zu ihrem Territorium zu verwehren (Kap. 4). Eine wichtige Ursache für die globale Migration liegt in der sehr ungleichen Verteilung von Wohlstand und der materiellen Not, unter der erhebliche Teile der Weltbevölkerung leiden. Das folgende Kapitel wendet sich dem Problembereich der Weltarmut und des Hungers zu, der Gegenstand umfangreicher Debatten zur globalen Gerechtigkeit ist. Angesichts des enormen Elends, in dem gegenwärtig eine sehr große Zahl von Menschen lebt, steht die Möglichkeit, globale Hilfspflichten zu begründen, im Zentrum der Kontroverse (Kap. 5). Gegen die Veränderungen der natürlichen Lebensbedingungen, die der – abschließend zu erörternde – Klimawandel mit sich bringt, sind die Entwicklungsländer besonders schlecht gewappnet. In der Folge drohen eine weitere Verschärfung der Armutsproblematik und eine Zunahme der Migrationsströme in reichere Weltgegenden. In der ethischen Debatte über den Klimawandel stellen die historische Verantwortung für die Freisetzung von Treibhausgasen und die gerechte Verteilung zukünftiger Emissionsrechte zentrale Streitpunkte dar (Kap. 6).1

Die Auswahl der vorstehend skizzierten Themengebiete hat sich in erster Linie an ihrer Bedeutung für die internationale Politik und den in der Philosophie geführten Diskussionen orientiert. Der vorliegende Einführungstext erhebt keinen Anspruch auf vollständige Darstellung aller relevanten Probleme; aus Platzgründen konnte nur ein Teil der normativen Fragen, die sich im Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen stellen, erörtert werden.2 Die folgenden Kapitel sind als eigenständige Einführungen in Teilaspekte der Philosophie der internationalen Politik konzipiert, die unabhängig voneinander gelesen werden können. Über die bereits genannten Anknüpfungspunkte weisen die hier behandelten Themenbereiche eine Vielzahl weiterer inhaltlicher Bezüge auf. Da die einzelnen Kapitel nicht aufeinander aufbauen, kann der Leser bzw. die Leserin die Reihenfolge der Lektüre an seine bzw. ihre jeweiligen Interessen anpassen.

Für ihre hilfreichen Kommentare danken wir ganz besonders Alexander Bagattini, Manfred Frank, Joachim Wündisch und Alexa Zellentin. Ferner sind wir Katharina Bremer und Petra Schiebel und Laura Wackers, die mit ihrer Korrekturarbeit einen wichtigen Beitrag zur Fertigstellung des Manuskripts geleistet haben, zu Dank verpflichtet.

Frank Dietrich
Véronique Zanetti

2. Krieg, humanitäre Intervention und Terrorismus

2.1 Was ist Krieg?

Das klassische Völkerrecht spricht von »Krieg« hauptsächlich bei Konflikten zwischen Staaten. Ein Kriegszustand ist dann eingetreten, wenn ein Staat gegen einen anderen Staat oder gegen eine von anderen Staaten offiziell anerkannte kriegführende Partei kämpft. Dieses Verständnis hat sich allerdings erst im Zuge der staatlichen Monopolisierung der Gewalt gegen Ende des 18. Jahrhunderts durchgesetzt. In seinem berühmten Buch Le droit des gens ou principes de la loi naturelle (1758)3 schreibt Emer de Vattel: »Der öffentliche Krieg ist der Krieg, der zwischen den Nationen oder den Souveränen stattfindet, der im Namen der öffentlichen Gewalt und auf ihren Befehl geführt wird […]. Der private Krieg zwischen Personen gehört zum Naturrecht im eigentlichen Sinne.« Die Einführung stehender Heere unter staatlicher Kontrolle war ein wesentlicher Schritt in der Entwicklung moderner Kriege. Sie ermöglichte die Zentralisierung ihrer Finanzierung, die Unterscheidung zwischen den Sphären staatlicher und nicht-staatlicher Aktivitäten, zwischen Innen- und Außenpolitik und vor allem zwischen Zivilisten und Militärs (vgl. Kaldor 2000; Zanetti 2011).

Die Begriffsgeschichte von »Krieg« kennt allerdings nicht nur zwischenstaatliche bewaffnete Konflikte. Theoretiker des Naturzustandes wie Hobbes oder Locke haben den Ausdruck in einem sehr weiten Sinne verwendet. Ihnen zufolge herrscht schon dann ein Kriegszustand, wenn sich die Individuen in einem gesetzlosen Zustand gegenseitig bedrohen. Wer »durch Wort oder Tat«, schreibt zum Beispiel Locke (1977: 209), »einen nicht in Leidenschaft und Übereilung gefassten, sondern in ruhiger Überlegung geplanten Anschlag auf das Leben eines anderen kundgibt, versetzt sich dem gegenüber, gegen den er eine solche Absicht erklärt hat, in den Kriegszustand«. Denn Krieg besteht nicht nur, so Hobbes, »in Schlachten oder Kampfhandlungen, sondern in einem Zeitraum, in dem der Wille zum Kampf genügend bekannt ist« (1966: 96).

In diesem weiten Sinne lässt sich zum Beispiel die Definition des Krieges von Clausewitz (1991: 303) verstehen als »Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen«. Der Krieg wird als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln verstanden, indem ein Widersacher zu einer Handlung gezwungen wird, die er ansonsten nicht ausgeführt hätte, oder indem Gewalt gegen ihn eingesetzt wird, sofern die Verhandlungsmittel der Diplomatie versagt haben. Diese weite Verwendung des Begriffs läuft allerdings Gefahr, die besondere Intensität der kriegerischen Gewalt und ihre Grausamkeit zu verharmlosen und zu viele Phänomene darunter zu fassen. Andererseits ist auch eine zu starke Eingrenzung des Begriffsumfangs nicht unproblematisch. Sie erlaubt nämlich nicht, gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen größeren Gruppen oder andere Formen von Waffengewalt wie Guerillakriege, Bürgerkriege oder Sezessionskriege ebenfalls als »Kriege« zu bezeichnen. Das ist vor allem deshalb ein Problem, weil diese Geschehnisse nicht nach dem Kriegsrecht und nach Kriegskonventionen behandelt werden können bzw. nach den vier Genfer Abkommen von 1949 und den entsprechenden Zusatzprotokollen von 1977, die den Schutz von Verwundeten, Kriegsgefangenen und Zivilpersonen festlegen.4 Bedenkt man aber, dass ungefähr achtzig Prozent der Opfer aller bewaffneten Konflikte, die seit 1945 stattgefunden haben, Opfer innerer Auseinandersetzungen sind, lässt sich gut einschätzen, wie ungeeignet diese Beschränkung des gesetzlichen Anwendungsbereiches auf zwischenstaatliche Gewaltformen ist.

Der enge Begriff wird außerdem einem Typ von Gewalttätigkeit nicht gerecht, der seit dem Ende des Kalten Kriegs ständig zunimmt und den man in der Literatur öfter unter der Rubrik »neue Kriege« fasst. Gemeint ist eine besondere Form dramatisch sich zuspitzender innerstaatlicher Konflikte, die sich besonders in prekären oder zerfallen(d)en Staaten beobachten lassen (vgl. Kaldor 2000; Münkler 2003; Malowitz 2008; Langewiesche 2010). Kurz und in groben Zügen kann man den Unterschied zu den klassischen Kriegen wie folgt charakterisieren: Während die konventionellen Kriege die Macht eines Staates oder eines Staatenbündnisses bekämpfen, mobilisieren die neuen Kriege eine Mischung aus staatlichen, parastaatlichen und privaten Akteuren gegeneinander. Diese unterschiedlichen Akteure bilden eine Vielzahl von Interessengruppen, die sich von einem Frieden wenig finanziellen Profit versprechen und für die das Ende des Konflikts kein erwünschtes Ziel ist. So entwickelt sich mit dem Effekt der Machtverzettelung, der allgemeinen Korruption und des Klientelismus eine Kriegswirtschaft, die sich aus privater Ausbeutung natürlicher Ressourcen sowie dem Verkauf von Waffen, Drogen oder Personen nährt.

Obwohl der Begriff »neue Kriege« in die politische Sprache eingegangen ist, bestreiten Historiker, dass das Phänomen historisch neu ist.5 Neu daran sei höchstens die Bedrohungsdimension, die durch die Bedingungen der Globalisierung entstanden ist. Nicht ihre Charakterisierung als »neu«, sondern das Verständnis ihrer Eigentümlichkeit ist allerdings für das infrage stehende Thema relevant, denn die neuen Kriege stellen die Lehre des gerechten Krieges bei der Anwendung ihrer Rechtfertigungsgründe vor besondere Herausforderungen, wie später gezeigt wird.

Um den unterschiedlichen Formen von bewaffneter Gewalt Rechnung zu tragen, wird im Folgenden ein mittlerer Weg zwischen dem weiten und dem engen Begriff gewählt und der »Krieg« als eine mit Waffen ausgetragene Auseinandersetzung zwischen größeren Gruppen, Völkern oder Staaten definiert. Der Krieg wird als bestehender, angekündigter und sich über einen gewissen Zeitraum erstreckender bewaffneter Konflikt zwischen politischen Gruppen oder Staaten verstanden.

2.2 Die Rechtfertigung des Krieges

Das Nachdenken über den Grund, die Rechtfertigung des Kriegs oder seine Ablehnung lassen sich in drei grundsätzliche Stellungnahmen unterteilen: die Lehre des gerechten Krieges, die Theorie des politischen Realismus und den Pazifismus.6 Die erste geht davon aus, dass Kriege unter bestimmten Bedingungen erlaubt oder sogar erwünscht sind, und bemüht sich, die moralischen Bedingungen zu systematisieren und philosophisch plausibel zu machen. Im Gegensatz dazu lehnt der politische Realismus einen moralischen Diskurs über die Legitimität von Kriegen entschieden ab. Er interpretiert die zwischenstaatlichen Beziehungen als einen Zustand der Anarchie. In einem Zustand, in dem keine allseits anerkannten Normen und Gesetze gelten, verfolgen die einzelnen Staaten primär das Ziel, ihre Sicherheit und die Sicherheit ihrer Bevölkerung zu garantieren. Ohne übernationale Macht, die imstande wäre, die Anwendung internationaler Konventionen zu kontrollieren und wirksame Sanktionen zur Sicherung gegen eigenmächtige Einsätze zu ergreifen, sind moralische Normen der Kriegsberechtigung und der Kriegführung nicht nur gegenstandslos; sie stellen sogar gefährliche Idealisierungen dar, die die Stellung des eigenen Staates im ständigen Kampf um Macht zwischen Nationen schwächen. Da das politische Handeln der Staaten primär der Durchsetzung der jeweiligen Interessen dient, erfordern bewaffnete Interventionen keine moralische Legitimation. Krieg ist eine rein politische Aktion in der vorrangigen Absicht, staatliche Unabhängigkeit zu schützen. Der politische Realismus, der vor allem zwischen 1930 und 1960 von Hans Morgenthau, Arnold Wolfers und Robert Niebuhr entwickelt wurde, gilt immer noch als eine sehr einflussreiche Tendenz der politikwissenschaftlichen Theorie der internationalen Beziehungen.

Der Pazifismus teilt die realistische Ablehnung der Orientierung an moralischen Normen bei der Betrachtung internationaler Beziehungen nicht. Kriege seien nicht deshalb gerechtfertigt, weil sie sich in einem moralfreien Raum abspielen. Nach pazifistischer Ansicht ist zwar die Frage berechtigt, ob Gewaltanwendung legitim sein kann. Kriege sind jedoch für den radikalen Pazifisten in keinem Fall zu rechtfertigen.

Für die Philosophie der internationalen Beziehungen ist die Lehre des gerechten Krieges – auch in ihrer Aktualisierung durch die Ethik der humanitären Intervention – besonders interessant, da sie den Krieg nicht von Vornherein aus dem moralischen Diskurs ausschließt, weil er entweder ein Instrument der (nicht-moralischen) Politik sei oder weil er nie gerechtfertigt stattfinden könne. Sie ist der Meinung, dass Kriege unter bestimmten Bedingungen moralisch gerechtfertigt sind, muss sich aber mit dem Dilemma auseinandersetzen, dass die Inkaufnahme des Todes von Unschuldigen zur Verteidigung des Staates oder des Schutzes der Bürger vor massiven Verbrechen eine nicht wegzudenkende Provokation bleibt.7 Aus diesem Grund werden im Folgenden zunächst die Kriterien des gerechten Krieges und dann, spezifischer, die Kriterien einer Ethik der humanitären Intervention näher untersucht.

2.3 Die Lehre des gerechten Krieges: historischer Rückblick

Für die Frühchristen war die Frage, ob die Führung eines bewaffneten Konflikts in Einklang mit der pazifistischen Lehre Jesu gebracht werden könne, von entscheidender Bedeutung. Viele urchristliche Gemeinden hatten jede Beteiligung am römischen Soldatendienst abgelehnt und sich die Lehre der Bergpredigt (Matth. 7, 13 f.) zu eigen gemacht. Christen sollen keine Waffen tragen und sich allein Jesu Gebot der Nächsten- und Feindesliebe verpflichtet fühlen.8 In seinem Werk De civitate Dei vertrat Augustinus (354–430) eine bedingte Rechtfertigung der Kriegführung. Für Augustinus gab es keinen Zweifel, dass man zugleich Gott dienen und als Soldat kämpfen kann, wenn durch den Krieg ein Unrecht geahndet und der Frieden gefördert wird. Dahin weist ja auch Jesu Rat, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist (Matth. 22, 21). Moralisch erlaubt ist ein Krieg dann, wenn eine Notwendigkeit zu kämpfen besteht – wenn es keine Alternative zum Kampf gibt – und wenn er aus einem gerechten Grund (causa iusta) geführt und durch eine richtige Intention motiviert wird (recta intentio), d. h. ohne Rachgier oder Eroberungswunsch und mit der Absicht, einen gerechten Frieden zu erzielen.

Fast neunhundert Jahre später übernimmt Thomas von Aquin (1225/6–1274) in seiner Summa theologica die Lehre Augustins und gibt ihr durch die drei Bedingungen der rechten Autorität, des rechten Grundes und der rechten Absicht ihre kanonische Fassung. Für Thomas von Aquin besitzt allein der Fürst die legitime Autorität, einen Krieg zu erklären, denn er hat das Gewaltmonopol und sorgt für die öffentliche Ordnung. Allerdings ist nach Ansicht Augustins und Thomas von Aquins der Krieg nicht allein dann gerecht, wenn er in Reaktion auf ein Unrecht geführt wird; ein Angriffskrieg, vor allem dann, wenn er gegen Heiden und mit guten Absichten (»für die Wahrheit des Glaubens […] und zur Verteidigung der Christenheit«, Summa theologica II: 40/2) geführt wird, gilt als gerechtfertigt.

In der Spätscholastik wurde diese letzte Form der Rechtfertigung unter dem Einfluss von Gelehrten aus der Schule von Salamanca und unter dem Eindruck der spanischen Eroberung neuer Weltreiche sowie der Begegnung mit ihrer heidnischen Bevölkerung infrage gestellt (Hinsch/Janssen 2006: 55). Für den Dominikanermönch Francisco de Vitoria (1483-1546) ist klar: »Ein Grund des gerechten Krieges ist nicht die Verschiedenheit der Religion« (de Vitoria 1952: 129), womit er gezielt gegen die Kriegsrechtfertigungen der spanischen Conquista Stellung bezog. Der einzig gerechte Grund zur Kriegführung bleibt das erlittene Unrecht (Vitoria 1952: 131). Mit Vitoria erfährt die Lehre des gerechten Kriegs eine neue und wichtige Wendung. Er erkannte, dass zur Feststellung eines Unrechts das Urteil der Herrschaft allein nicht ausreichend ist und dass man sich über die Gerechtigkeit irren kann, womit eine Seite des Konflikts in ihrer »unüberwindlichen Unwissenheit« dafür entschuldigt sei, dass ihr Kampf unerlaubt geschieht (Vitoria 1952: 147). Ein Krieg kann nämlich laut Vitoria subjektiv – aber nicht objektiv – von beiden Seiten gerecht geführt werden, weil nicht auszuschließen ist, dass eine Seite sich in einem Irrtum über die Gerechtigkeit ihrer Sache befindet. Und »wenn für den Untertan die Ungerechtigkeit des Krieges feststeht, darf er nicht in den Krieg ziehen […]« (Vitoria 1952: 137). Der italienische Völkerrechtler Alberico Gentili ging noch einen Schritt weiter und stellte fest, dass es nicht nur in der Natur der Kriege liege, dass sich jede Partei berechtigt sehe zu kämpfen, sondern dass die Menschen oft außerdem nicht in der Lage seien, eine adäquate Entscheidung über die Rechtslage zu fällen. Damit wurde allerdings der Doktrin des gerechten Krieges der Boden entzogen (vgl. Merker 2003).

Wie de Vitoria schließt Hugo Grotius (1583–1645) in seinem Klassiker des Völkerrechts De jure belli ac pacis