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Phänomenologie zur Einführung

Ferdinand Fellmann

Phänomenologie zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Weimar †

Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg

© 2006 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: René Magritte, La condition
humaine II, © VG Bild-Kunst, Bonn 2006
Veröffentlichung der E-Book-Ausgabe März 2016
ISBN 978-3-96060-014-5
Basierend auf Printausgabe:
ISBN 978-3-88506-744-3
3., vollständig überarbeitete Aufl. 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung: Annäherungen an die phänomenologische Philosophie

Historische Distanz

Verhältnis zu den Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie

Phenomenology still matters

1. Die Idee der Phänomenologie: Strukturwissenschaft des Bewusstseins

Phänomenologie als Disziplin

Phänomenologie als Methode

Phänomenologie als Anspruch

Struktur: Ein verdeckter Leitbegriff der phänomenologischen Forschung

Phänomenologie als Strukturwissenschaft

Die Grundfrage der Lesbarkeit

Suche nach ›wirklicher Wirklichkeit‹

2. Die Anfänge: Der Kampf um den wahren Positivismus

Psychologie der Repräsentation

Bedeutung

Intentionalität

Bewusstseinsakte

»Sehen-als«

»Wahrer Positivismus«

3. Phänomenologische Reduktion: Die Faszination der Möglichkeiten

Transzendentalismus

Konstitutionstheorie

Evidenz

Reduktionslehre

»Möglichkeitssinn«

Transzendentale Reduktion

Stärken und Schwächen der Reduktionslehre

4. Phänomenologie des emotionalen Lebens

Neuidealistische Herkunft der Wertlehre

Apriorismus des Emotionalen

Phänomenologie des Wertfühlens

Kritik an Kants Ethik

Wert und Person

Philosophische Anthropologie

5. Von den möglichen Welten zum In-der-Welt-sein

Existenzial der Angst

Vom Erkenntnisproblem zur Seinsfrage

Fundamentalontologie und dialektische Theologie

Die Wirklichkeit als »Seiendes«

Die Welt als »Sein«

Das Leben als »Dasein«

Hermeneutik der Faktizität

Zeitlichkeit und Nichts

Kritik an Heideggers Denkstil

Heidegger als Zivilisationskritiker

6. Phänomenologie der Freiheit

Vom Sein zum Nichts

Imagination und Negation

Freiheit in der Situation

Wahrnehmung und Verhalten

Fungierende Intentionalität

Phänomenologie aus jüdischer und protestantischer Sicht

7. Lebenswelt und Technisierung

Herkunft des Begriffs

Umwelt als Reich des Selbstverständlichen

Illegitimität der Neuzeit

»Wissenschaft von der Lebenswelt«

Karrieren des Begriffs

Phänomenologische Technikkritik

Lebenswelt im Singular oder Plural?

Wissenschaft von der Lebenswelt als Kulturphilosophie

8. Die Zukunft der Phänomenologie: Eine allgemeine Theorie der Medien

Medium der Phänomenalität

Medium und Milieu

Heterophänomenologie

»Das Medium ist die Botschaft«

Phantasie als Lebenselement des phänomenalen Bewusstseins

Im Medium der Gefühle

Dasein zwischen Ereignis und Erzählung

Phänomenologie und Literatur

Mediale Erweiterung des menschlichen Körpers

Mediale Dekonstruktion

Allgemeine Medientheorie

Phänomenales Bewusstsein und Virtual Reality

Phänomenologie als Rettung der Wirklichkeit

Epilog

Literatur

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Dieter Thomä
Cornelia Vismann

Einleitung: Annäherungen an die phänomenologische Philosophie

»Phänomenologie« ist der Name, den Edmund Husserl (1859-1939) seiner Forschungsrichtung gegeben hat, die zu den Hauptströmungen der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts gehört. Phänomenologisches Philosophieren umfasst neben ihrem Gründer eine Reihe von bedeutenden Denkern wie Max Scheler, Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre, Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida, um nur die bekanntesten zu nennen. Alle nehmen ihren Ausgangpunkt von Husserls Schriften, die zu seinen Lebzeiten nur zu einem kleinen Teil in Buchform erschienen sind. Der weitaus größte Teil liegt in Form von Forschungsmanuskripten vor, die im Husserl-Archiv an der Universität von Louvain aufbewahrt und seit 1950 in der Reihe »Husserliana« (Hua) veröffentlicht werden. Bemerkenswert daran ist, dass Husserls im streng akademischen Stil verfasste Schriften eine unversiegbare Quelle für unakademische Geistesströmungen wie z.B. den Existentialismus geworden sind. Auch marxistische Denker hat er zur Auseinandersetzung animiert. Die Breitenwirkung weist darauf hin, dass die Phänomenologie mehr ist als ein System oder eine Schule; sie ist eine Denk-, sogar eine Lebensform, die auch dort wirksam ist, wo ihr Name nicht genannt wird. Daher hat man schon früh von »phänomenologischer Bewegung« gesprochen, eine Bezeichnung, die den Universalitätsanspruch des phänomenologischen Geistes treffend kennzeichnet. Über die Fachgrenzen hinaus hat die Phänomenologie insbesondere in der Literaturwissenschaft, auch in der literarischen Prosa selbst, die Sichtweise der Welt geprägt.

Der Name »Phänomenologie« lässt an Hegels Phänomenologie des Geistes denken, in der Sache aber hat Husserls phänomenologische Philosophie wenig mit der Systemphilosophie des Deutschen Idealismus zu tun. Husserl bewegt sich in der Tradition der philosophischen Psychologie des 19. Jahrhunderts, die, dem Empirismus und Positivismus verpflichtet, vom »Satz der Phänomenalität« ausgeht. Dieser Satz ist eine Umformulierung von Karl Leonhard Reinholds »Satz des Bewußtseins« und besagt: Alle Erfahrung steht unter der Bedingung, Tatsache eines Bewusstseins zu sein. Phänomenologie geht demnach immer vom subjektiven Erleben aus, von den »Gegebenheitsweisen« der Erfahrungsgegenstände. Anders als der transzendentale Idealismus Kants betrachtet Husserl die Welt der Erscheinungen, wie sie dem Menschen in der natürlichen Erfahrung noch vor ihrer begrifflichen Codierung gegeben sind. Damit werden die Gegenstände ihrer Festigkeit, ihres An-sich-seins beraubt und auf Erfahrungsprozesse zurückgeführt, deren Gesetze zu erforschen Hauptaufgabe der Phänomenologie ist.

Wegen eines möglichen phänomenalistischen oder sogar fiktionalistischen Missverständnisses haben Kritiker schon früh die Bezeichnung der Bewusstseinsinhalte als »Phänomene« für unzweckmäßig erachtet. Aber das hat Husserl nicht von seinem Sprachgebrauch abbringen können. Er fasst Phänomenalität nicht subjektivistisch im Sinne George Berkeleys auf, er stellt »Phänomen« also nicht als trügerischen Schein der Wirklichkeit gegenüber. Den Phänomenen ist ein Wahrheitsbezug wesentlich, der sich für Husserl aus der unhintergehbaren Evidenz des Selbstbewusstseins ergibt. Bei aller Hochschätzung der sinnlichen Anschauung vertritt er zugleich einen strengen Rationalismus cartesischer Prägung, der auch dem Apriorismus Kants nahe steht. Allerdings hat der Phänomenbegriff bei Husserls Schülern, insbesondere bei Martin Heidegger, abweichende Interpretationen erfahren. Aber selbst als die Bezeichnung »Phänomenologie« aufgegeben wurde, hat sich die Grundauffassung der phänomenologischen Forschung, dass nur die Anschauung wahre Erkenntnis rechtfertigen kann, bis heute gehalten.

Historische Distanz

Eine Annäherung an die phänomenologische Philosophie ist paradoxerweise nur möglich, wenn man die historische Distanz reflektiert, die den Umgang mit Husserls Texten nicht leicht macht. Der heutige Leser fühlt sich in die geistige Welt eines sich selbst genügenden Gelehrten versetzt. Das liegt zunächst an der eigenwilligen Terminologie, besonders aber am emphatischen Stil, der sachliche Erörterungen immer mit dem Selbstverständnis des Philosophen in Verbindung bringt. Husserls Überzeugung, dass er ohne die Lösung letzter Fragen »wahr und wahrhaftig nicht leben« könne (Hua II, VIII), gibt seinen Ausführungen eine existentielle Dringlichkeit, die auf seine Zeitgenossen große Faszination ausgeübt hat. Heideggers Schriften haben diesen Eindruck noch verstärkt. Transatlantischen Beobachtern dagegen kam der Freiburger Stil schon früh als »Pomposität und Wichtigtuerei« vor. Wer sich der Phänomenologie annähern will, kommt daher nicht umhin, sich mit einer ziemlich scholastisch anmutenden Terminologie vertraut zu machen. Zum Glück gibt es inzwischen ein vortreffliches Hilfsmittel: das von dem Wiener Phänomenologen Helmuth Vetter herausgegebene Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe (2005), in dem die Termini erklärt und die Stellen in den Originaltexten angegeben werden.

Auch an die Problemstellungen muss sich der Leser gewöhnen. Husserls Denken ist von der Forderung nach absoluten Evidenzen geprägt. Diese findet er in der »Intuition« als einer rein anschaulichen Erkenntnisform. Nur sie erfülle die Forderung der »Radikalität«, d.h. der durch Begriffe nicht hintergehbaren Gegebenheit. In zahlreichen Darstellungen der Phänomenologie als »Erste Philosophie« oder als »strenge Wissenschaft« gehört »radikal« zu den am häufigsten gebrauchten Ausdrücken. Damit bezeichnet Husserl einen absoluten Anfang des Denkens, den er auch »Urstiftung« nennt. Er ist der Meinung, dass es ohne eine derartige Grundlegung keinen sachlichen Fortschritt des Philosophierens geben könne. Philosophie hat so für ihn den Status einer »Grundwissenschaft«, einer universalen Wissenschaftslehre, so wie sie gegenüber Kant von Fichte vertreten wurde. Hypothesenbildung wird dagegen als bloße Kunstlehre abgetan. Husserls Ideal ist eine in der Anschauung fundierte »Logik der Wahrheit«, die der orientierungspraktisch ausgerichteten »Logik der Konsequenz« den Rang abläuft.

Vergleicht man diese Grundeinstellung mit dem gegenwärtigen Denken, so könnte die Differenz kaum größer sein. Philosophie hat heutzutage ihre Geltungsansprüche deutlich zurückgefahren. Statt nach Ursprüngen zu suchen, dominiert die pragmatische Orientierung an den Folgen. Damit verliert auch die Wahrheit ihren Absolutheitsanspruch. Diese Entwicklung ergibt sich daraus, dass sich der wissenschaftliche Wissenszuwachs zu einem Prozess verselbständigt hat, der von der Klärung seiner Voraussetzungen weitgehend abgekoppelt ist. In der modernen Wissensgesellschaft geht es daher eher um die Fragen, was Wissen ist und wie wir mit dem Wissen umgehen sollen. Folglich wird die Grenze zwischen philosophischer und fachwissenschaftlicher Rationalität nicht mehr so streng gezogen; apriorische Erkenntnisse und empirische Analysen durchdringen einander.

Angesichts der modernen Denkformenverschiebung verwundert es nicht, dass die Phänomenologie in den letzten Jahrzehnten an Zustimmung verloren hat. Verglichen mit der Ausstrahlung, die sie zu Husserls Lebzeiten hatte, führt sie heute ein eher bescheidenes akademisches Randdasein. So wurde beispielsweise in den ersten fünfzehn Jahren nach der Wende kein Lehrstuhl an den Universitäten der neuen Bundesländer mit einem Phänomenologen besetzt. Lohnt sich unter diesen Umständen überhaupt noch eine Beschäftigung mit der Phänomenologie? Verspricht sie Antworten auf Fragen, die den philosophischen Geist gegenwärtig bewegen? Um hierauf eine positive Antwort zu geben, kommt man nicht umhin, Husserls Texte streckenweise gegen den Strich zu lesen. Das ist auch deshalb nötig, weil die Enkelgeneration sein Erbe vornehmlich akademisch verwaltet hat und sich vom Bann seiner Terminologie kaum lösen konnte. Erst wenn es gelingt, die zeitbedingte Hülle zu sprengen, treten auch die ursprünglichen und unvergänglichen Einsichten hervor, die eine Beschäftigung mit der Phänomenologie heute mehr denn je lohnenswert erscheinen lassen.

Verhältnis zu den Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie

Was in der Phänomenologie an fruchtbaren Gedanken steckt, lässt sich am ehesten im Vergleich mit gegenwärtigen Hauptströmungen der Philosophie verdeutlichen. Alle gehen auf Distanz zur »transzendentalen Letztbegründung«, aber das schließt nicht aus, dass es unterschwellige Verbindungen gibt, die nicht nur sachlich, sondern auch historisch belegbar sind. Selbst bei sprachanalytischen Denkern, die sich explizit gegen Husserl wenden, wie beispielsweise Gilbert Ryle (1900-1976), ist der phänomenologische Ansatz nie ganz verschwunden, er hat im Hintergrund immer gewirkt. Insofern überrascht es nicht, dass in allerneuester Zeit auf verschiedenen Seiten eine Rückwendung zur Phänomenologie zu beobachten ist, die freilich nur dann weiterführt, wenn die Phänomenologie selbst neue Wege beschreitet.

Unter den Konkurrenten ist an erster Stelle der Neukantianismus zu nennen, der vermittelt durch Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923/29) im akademischen Betrieb nach wie vor eine bedeutende Stelle einnimmt. Der Neukantianismus versteht Erkenntnis als endgültige Überwindung der positivistischen Orientierung am Gegebenen und sieht daher in der Phänomenologie einen Rückfall in den Empirismus. Diese Einschätzung übersieht, dass die Konkurrenz zwischen Phänomenologie und Neukantianismus eher die zweier feindlicher Brüder ist, da Husserl durch seinen Ausgangspunkt vom cartesischen Cogito auf der Linie der rationalistischen Subjektphilosophie liegt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Husserl selbst sich von seinen positivistischen Anfängen entfernt und dem transzendentalen Idealismus der Neukantianer angenähert hat. Umgekehrt hat das Schulhaupt des südwestdeutschen Kantianismus, Heinrich Rickert (1863-1936), in seinen späten Jahren eine deutliche Wende zum intuitionistischen Denken vollzogen. Hier gibt es also Affinitäten, die auch heute noch Perspektiven für eine wechselseitige Durchdringung beider Denkströmungen eröffnen.

Ähnlich liegen die Dinge im Verhältnis zur Hermeneutik, der anderen dominierenden Strömung der deutschen Gegenwartsphilosophie, die mit dem Namen Hans-Georg Gadamer (1900-2002) verbunden ist und als deren Begründer Wilhelm Dilthey (1833-1911) gilt. Husserl hat sich polemisch von Diltheys Historismus distanziert, aber schon Heidegger hat in Sein und Zeit (1927) Diltheys Begriff der Geschichtlichkeit in die phänomenologische Daseinsanalyse integriert, die nun »Hermeneutik der Faktizität« heißt. Als treuer Schüler Heideggers distanziert sich auch Gadamer vom cartesischen Methodenideal Husserls und von der rein erkenntnistheoretischen Fragestellung. Sein Begriff der Wahrheit orientiert sich an der ästhetischen Erfahrung, die im Kunstwerk den rein subjektiven Standpunkt immer schon überwunden hat. Das gilt auch für die Sprache als dem bevorzugten Medium der hermeneutischen Erfahrung.

Trotz der Entfernung der philosophischen Hermeneutik von Husserls Konzentration auf das gegenständliche Erkennen bleiben doch Gemeinsamkeiten, die Gadamer dazu bewogen haben, in Wahrheit und Methode (1960) dem späten Husserl eine systematisch bedeutsame Stelle einzuräumen. Husserls Leistung liege in der Dynamisierung der platonischen Ideen sowie in der damit verbundenen Ausweitung des Erlebens auf die Intersubjektivität und ihre lebensweltlichen Erscheinungsformen. In diesem Sinne können auch moderne, mehr pragmatisch ausgerichtete Weiterentwicklungen der Hermeneutik, wie sie etwa Matthias Jung in seiner Hermeneutik zur Einführung (2001) vertritt, von der Begegnung mit der Phänomenologie durchaus profitieren.

Die modernen Wissenschaftstheorien mit ihren falsifikationistischen Modellen der Hypothesen- und Paradigmenbildung können mit Husserls Apriorismus der Anschauung wenig anfangen. Aber im Hinblick auf die Einschätzung der natürlichen Erfahrung als Ausgangspunkt wissenschaftlicher Theorien gibt es doch Gemeinsamkeiten. So hält Karl R. Popper (1902-1994) trotz seiner Rekonstruktion des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses »von oben« die lebensweltliche Problemstellung für die treibende Kraft in der Logik der Forschung. Noch stärker tritt die Affinität zur Phänomenologie in der konstruktiven Wissenschaftstheorie der »Erlanger Schule« hervor, die beim schrittweisen und zirkelfreien Aufbau von Wissenschaft den phänomenologischen Ansatz bei der natürlichen Erfahrung aufnimmt. Wenn sie auch an die Stelle der Konstitutionslehre Husserls das Prinzip der pragmatisch-operationalen Konstruktion setzt, so kommt ihr begründungstheoretischer Methodologismus nicht ganz ohne intuitionistische Elemente aus. Selbst der »radikale Konstruktivismus«, der mit Ernst von Glasersfeld und Heinz von Foerster in den 1980er Jahren seinen modischen Höhepunkt erreichte, ist nicht so radikal, wie er sich gibt. Konstrukt und Phänomen lassen sich gerade in evolutionsbiologischen Beschreibungen nicht trennen. Auch der in der Literaturwissenschaft durch Siegfried J. Schmidt propagierte Konstruktivismus hat sich in jüngster Zeit der Narrativität als selbständiger Form der Sinnbildung angenommen und damit Anschluss an die phänomenologische Daseinsanalyse Heideggers gefunden.

Komplizierter ist das Verhältnis der Sozialphilosophie zur Phänomenologie. Husserl selbst hatte keinen Draht zu Problemen der Vergesellschaftung, und auch der Geist der Dialektik blieb ihm fremd. Max Weber und Marx finden in seinem Werk kaum Erwähnung. Das hat aber Vertreter der Sozialwissenschaften nicht davon abgehalten, den Aufbau der gesellschaftlichen Welt im Anschluss an Husserls Konstitutionslehre zu rekonstruieren. Alfred Schütz (1899-1959) hat an der New School for Social Research in New York eine phänomenologische Variante der verstehenden Soziologie des Alltags entwickelt. Diese Richtung ist zwar von Seiten des dialektischen Materialismus scharf kritisiert worden. Auch die Frankfurter Schule, insbesondere Theodor W. Adorno, hat in den 1950er Jahren eine scharfe Grenze zwischen der »Kritischen Theorie« und der phänomenologischen Wissenssoziologie gezogen. Das konnte aber nicht verhindern, dass es später Annäherungen von beiden Seiten gab. Jürgen Habermas, der sich in seiner Vorlesung Erkenntnis und Interesse (1965) noch deutlich von Husserls Ideal der reinen Theorie absetzt, hat die Wende zur Lebenswelt später als Brücke zur Theorie kommunikativen Handelns benutzt.

Schließlich ist das Verhältnis des sprachanalytischen Denkens zur Phänomenologie zu nennen. Prominente Vertreter der analytischen Philosophie in Deutschland wie Ernst Tugendhat haben die Phänomenologie als »Mentalismus« zurückgewiesen und ihre Brauchbarkeit für das Verständnis der sprachlichen Welterschließung vehement bestritten. Aber auch hier ist die Grenze keineswegs so undurchdringlich, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Immerhin haben historische Untersuchungen gezeigt, dass es einen gemeinsamen Ursprung von Sprachphilosophie und Phänomenologie gibt, der von beiden Richtungen vergessen oder besser verdrängt worden ist. Immerhin geht es hier wie dort um die Frage, was Bedeutungen sind und wie sie entstehen. Allerdings sind die orthodoxen Vertreter beider Seiten immer noch weit von der Einsicht entfernt, dass Sprachanalyse und Phänomenologie sich gegenseitig ergänzen. Das haben progressive Sprachanalytiker mittlerweile eingesehen. Die lange Zeit verpönte Phänomenologie erfährt im Rahmen einer postanalytischen »Philosophie des Geistes« eine deutliche Aufwertung. Das phänomenale Bewusstsein mit seinen Qualitäten, die in der Philosophie des Geistes »Qualia« genannt werden, aber auch Darstellungsformen wie Beschreibung und Erzählung werden wieder als Gegenstände philosophischer Reflexion anerkannt und in Erwägung gezogen.

Leider ist nicht zu übersehen, dass die Annäherungsversuche an die Phänomenologie seitens der Sprachanalytiker unter einem Vorbehalt erfolgen: Den Sätzen kommt ihnen zufolge gegenüber den Erlebnissen der Primat zu, die Welt sei also unhintergehbar sprachlich erschlossen. Nur weise die Sprache als universales Bezugssystem Lücken auf, die von der Phänomenologie geschlossen werden können. Die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins bilden gleichsam »Inseln« im Meer der symbolischen Formen und Funktionen, mit denen der Mensch seine Welt konstruiert. Für die Phänomenologen ist dieses Angebot natürlich unakzeptabel. Sie müssen darauf bestehen, dass Bewusstseinszustände nicht primär propositionaler Natur sind. Auch die sinnliche Wahrnehmung liefert vorprädikativ schon Bedeutungen und hat damit eine welterschließende Funktion. Das berühmte »Sehen-als«, das Ludwig Wittgenstein an den Sprachgebrauch bindet, lässt sich auch vorsprachlich beschreiben. Sinnverstehen verläuft nach allgemeinen Erfahrungsmustern, die von der Alltagspsychologie festgehalten werden und die auch das Verstehen anderer Menschen ermöglichen. Sicherlich verleihen die symbolischen Formen der Sprache dem menschlichen Bewusstseinsleben Klarheit und Konstanz, sie können sich aber auch verselbständigen und bedürfen immer wieder der Rückbindung an die Erlebnissubjektivität, um in einem existentiellen Sinne verständlich zu bleiben. Insofern gilt: Sprachanalyse ohne Phänomenologie ist blind, Phänomenologie ohne Sprachanalyse ist taub.

Phenomenology still matters

Nach diesem kursorischen Überblick über die Stellung der Phänomenologie in den Konstellationen gegenwärtigen Philosophierens dürfte klar sein: Die Phänomenologie verwaltet die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterbelichtete, aber dadurch nicht weniger wirksame subjektive Seite der menschlichen Erfahrung. Pragmatistische und behavioristische Kritik am »cartesischen Theater« haben die Innenwelt nie ganz zum Verschwinden bringen können. Das hat übrigens Gilbert Ryle, der Autor des behavioristischen Klassikers Der Begriff des Geistes (1949), am Ende selbst eingeräumt. Daher ist es kaum verwunderlich, dass derzeit von allen Seiten Annäherungsversuche an die Phänomenologie zu beobachten sind. Um weitere Annäherungen zu erleichtern und nachhaltig zu gestalten, bemüht sich die vorliegende Einführung, die Phänomenologie zu entrümpeln und durch eine unkonventionelle Lesart die Denkformen herauszuheben, die sich an gegenwärtige Fragestellungen anschließen lassen. Was den berechtigten Einwänden, die von verschiedenen Seiten gegen phänomenologische Grundpositionen erhoben worden sind, nicht standhält, wird als bloß historisch beiseite gelassen, zumal die einschlägige Sekundärliteratur darüber detailliert Auskunft gibt. Auch sprachlich bemüht sich die Darstellung um Distanz gegenüber der Ausdrucksweise Husserls und Heideggers, die schon zu ihren Lebzeiten als akademisch verschroben bzw. pathetisch überhöht empfunden wurde und Anlass zu Parodien gab. Nur in sachlicher sowie sprachlicher Distanz lässt sich das Erbe der Phänomenologie bewahren und für unsere Zeit fruchtbar machen. Um mit Husserls programmatischem Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft (1911) zu sprechen: »Nicht von den Philosophien, sondern von den Sachen und Problemen muß der Antrieb zur Forschung ausgehen.« (Hua XXV, 61)

In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass das Interesse an der phänomenologischen Forschung auch bei denjenigen wiedererwacht, die sich nicht mit der Reproduktion und Interpretation der klassischen Texte Husserls und seiner Nachfolger zufrieden geben, sondern darin Antworten auf aktuelle Fragestellungen suchen. Damit wird vielleicht auch deutlich, dass alteuropäisches Philosophieren sich keineswegs auf den erkenntnistheoretischen Idealismus kantianischer Prägung beschränkt, der in Deutschland den akademischen Betrieb immer noch beherrscht. In der Phänomenologie lebt auch die empiristische Tradition weiter, so dass continental philosophy so obsolet nicht sein kann, wie von amerikanischen Philosophen, insbesondere von Richard Rorty behauptet wird. Die Frage nach den Formen des Wissens ist nicht rein sprachanalytischer Natur. Sie zielt auf Schichten der Erfahrung, die jenseits begrifflicher Klarheit und Bestimmtheit liegen. Welche Wissensformen erschließen uns die Welt, in der wir leben? So lässt sich die Unsicherheit formulieren, die im Zeitalter der Massenmedien die Menschen umtreibt. Damit aber tritt die Frage nach der Wahrheit hinter die nach der Wirklichkeit zurück. Vielleicht sind die Wirklichkeiten, in denen wir leben, nur Konstruktionen, die sich eines Tages als Illusion erweisen. Wirklichkeit ist zu einer offenen Frage geworden, zu deren Beantwortung die Sprachanalyse nicht mehr ausreicht. Hier liegt der Punkt, an dem die Phänomenologie als Theorie der Erfahrung wieder an Aktualität gewinnt.

Um die Aktualität der Phänomenologie auf eine Formel zu bringen: Eine Annäherung an die Phänomenologie lohnt sich deshalb, weil sie wie keine andere gegenwärtige Strömung den Wirklichkeitsbegriff thematisiert, der theoretisch durch die radikalen Konstruktivismen und praktisch durch die Medien zum Problem geworden ist. In diesem Sinne lässt sich Phänomenologie als moderne Realisierung des antiken Programms einer »Rettung der Phänomene« lesen. Die Rettung der Phänomene kann heute nur eine Rettung oder Rechtfertigung der Wirklichkeiten sein, die wir selbst erzeugen, die uns aber infolge ihrer Medialisierung weitgehend undurchsichtig geworden sind. Damit bekommt die Phänomenologie, die sich in Auseinandersetzung mit der philosophischen Psychologie des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat, eine neue Referenz: die Medienwissenschaften. Für sie liefert die Phänomenologie grundbegriffliche Klärungen, so dass es gute Gründe gibt, die zukünftige Gestalt der Phänomenologie als allgemeine Medienwissenschaft oder Medienphilosophie zu definieren. In dieser Perspektive bewegt sich die vorliegende Einführung in die Phänomenologie, die damit mehr sein will als eine Bestandsaufnahme einer historisch gewordenen philosophischen Strömung des vergangenen Jahrhunderts. Trotz harter Irrationalismusvorwürfe, denen die Phänomenologie ausgesetzt ist, wird sie auch im 21. Jahrhundert weiterleben, ja vielleicht erst zum Bewusstsein ihrer selbst kommen und so zur vollen Entfaltung ihrer Möglichkeiten gelangen.

1. Die Idee der Phänomenologie: Strukturwissenschaft des Bewusstseins

Phänomenologie ist nicht identisch mit Husserl. Max Scheler und Martin Heidegger, später auch die französischen Denker wie Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty haben ihr eine neue und breit wirksame Gestalt gegeben. Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass es sich letztlich immer um die Entfaltung von Ansätzen handelt, die in Husserls ursprünglichem Denken enthalten sind. Das gilt selbst für die Wertethik Max Schelers, die gern als selbständige Leistung neben Husserls erkenntnistheoretischer Fragestellung betrachtet wird. Aber Scheler teilt mit Husserl die Überzeugung von der Selbstverständlichkeit des Moralischen, die eine Sollensethik im Stile Kants überflüssig erscheinen lässt. Für beide sind in der phänomenologischen Beschreibung als Form einer integralen Rationalität Theorie und Praxis immer eins. So betrachtet Husserl Wahrheit und Verantwortung als zwei Seiten des Bewusstseins, und daher ist es berechtigt, für die Idee der Phänomenologie vom Standpunkt ihres Begründers auszugehen.

Was Husserls Programm an Grundvoraussetzungen beinhaltet, lässt sich nur schwer in wenigen Sätzen sagen. Die ursprüngliche Wortbedeutung von »Phänomenologie«, nämlich »Lehre von den Erscheinungen«, gibt die Idee der Phänomenologie nur unzureichend wieder. Husserl hat die Bezeichnung der empirischen Psychologie seiner Zeit entnommen. In der Psychologie wie auch in anderen empirischen Wissenschaften wird darunter die erste Stufe des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses verstanden, das Sammeln und Beschreiben von Daten, die dann induktiv zu Theorien verarbeitet werden. An dieser Grundbedeutung von Phänomenologie hält Husserl fest, sieht darin aber nicht nur eine Vorform oder Vorstufe, sondern die ganze Arbeit der Philosophie als Wissenschaft. Damit distanziert er sich deutlich von den Konstruktionen und Spekulationen der traditionellen Metaphysik – eine Auffassung wissenschaftlicher Rationalität, in der sich Husserl mit den logischen Positivisten seiner Zeit einig weiß.

Mit der generellen antimetaphysischen Tendenz ist die Idee der Phänomenologie erst in ihrer allgemeinen Form erfasst. Für ein differenziertes inhaltliches Verständnis müssen mindestens drei Bedeutungen unterschieden werden, die sich überlagern. Zunächst bezeichnet Phänomenologie eine philosophische Disziplin wie beispielsweise Logik oder Erkenntnistheorie. Sodann wird unter Phänomenologie auch eine Methode verstanden wie etwa die genetische oder kritische Methode der Erkenntnistheorie. Und schließlich verbindet Husserl mit diesem Namen den Anspruch auf eine neue philosophische Wissenschaft, die alle bisherigen Philosophien an Originalität und Sachgehalt übertreffen soll. Ein nicht gerade bescheidener Anspruch, dessen Erfüllung die Phänomenologen vor eine schwere Aufgabe stellt.

Phänomenologie als Disziplin

Am Anfang stehen Husserls Logische Untersuchungen (1900/01). Sie behandeln aber nicht Themen der formalen Logik, sondern erkenntnistheoretische Fragestellungen, also z.B. die Frage, wie sich Bewusstseinsinhalte zu gegenständlichen Bedeutungen formieren. Die phänomenologische Logik unterscheidet sich von der traditionellen Logik als Lehre vom richtigen Denken darin, dass sie den logischen Aufbau der Welt unabhängig von sprachlichen Aussagen direkt aus den unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins rekonstruiert. In den einzelnen Untersuchungen geht es um Grundformen des Anschauens und Denkens wie beispielsweise um das Verhältnis der Teile zum Ganzen (in der dritten Untersuchung). In seinem letzten von ihm selbst veröffentlichten Buch Formale und transzendentale Logik (1929) hat Husserl diesen Ansatz wieder aufgegriffen und weiter ausgebaut.

Obwohl Husserl im »Prolegomena« genannten ersten Band die Befreiung der Logik von der Psychologie zum Programm macht (Stichwort: »Psychologismus«), bewegen sich seine Untersuchungen in unübersehbarer Nähe zur Psychologie; zwar nicht zur experimentellen Psychologie, aber zur beschreibenden oder verstehenden Psychologie, wie sie von Franz Brentano (1838-1917), Carl Stumpf (1848-1936) und Theodor Lipps (1851-1914) praktiziert wurde. Trotz der Bemühungen Husserls, sich vom »Naturalismus« der empirischen Psychologie abzugrenzen, fällt es aus heutiger Sicht schwer, einen sachlichen Unterschied zur Kognitionspsychologie zu erkennen. Phänomenologie kann man demnach als Versuch lesen, die Opposition von Logik und Psychologie in einem Konzept »reiner Psychologie« (im Lager der Experimentalpsychologen um Wilhelm Wundt sprach man abschätzig von »Schreibtischpsychologie«) aufzuheben. In der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie besteht die Neigung, die Phänomenologie als Teil der Kognitionswissenschaften zu betrachten.