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Politische Philosophie zur Einführung

Elif Özmen

Politische Philosophie zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Ina Kerner, Berlin
Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
www.junius-verlag.de

© 2013 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: Bildausschnitt aus
Ambrosio Lorenzetti: Allegorie
der guten und schlechten Regierung,
Palazzo Pubblico Siena
Veröffentlichung der E-Book-Ausgabe März 2016
ISBN 978-3-96060-016-9
Basierend auf Printausgabe:
ISBN 978-3-88506-069-7
1. Aufl. 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Ina Kerner
Dieter Thomä

Inhalt

1.Einleitung: Perspektiven der politischen Philosophie

1.1 Was ist politische Philosophie?

1.2 Begründung als Grundproblem

2.Philosophiehistorische Bruchlinien

2.1 Das Gute und die Gemeinschaft

2.2 Freiheit und politische Gerechtigkeit

2.3 Gleichheit und soziale Gerechtigkeit

2.4 Demokratie und Menschenrechte

3.Paradigmen der politischen Philosophie der Gegenwart

3.1 Liberalismus (John Rawls)

3.2 Deliberative Demokratie (Jürgen Habermas)

3.3 Der Capability-Ansatz (Martha Nussbaum)

4.Aktuelle Debatten und Kontroversen

4.1 Der Einzelne und die Gemeinschaft

4.2 Die Anderen

4.3 Statt eines Fazits: Eine kurze Apologie der freiheitlichen Demokratie

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Über die Autorin

1.Einleitung: Perspektiven der politischen Philosophie

Politische Philosophie beginnt mit der Frage, was das überhaupt ist, eine politische Philosophie bzw. eine Philosophie der Politik. Was dieser zugerechnet werden soll, wie der Raum des Politischen begründet und ausgestattet wird – mit welchen Subjekten, Objekten und Modalitäten –, welche Ausdehnung und welche Grenzen er hat, welche Begriffs- und Themenfelder ihm zugeordnet werden, kurz: welche konzeptuellen Perspektiven man einnimmt, das erst bestimmt den Begriff und die Inhalte der Politik. Nun gilt zwar auch für andere Disziplinen, dass das, was einer wissenschaftlichen Betätigung den Namen gibt, zugleich (immer wieder) der Gegenstand ist, den sie sich selbst bestimmen muss. Aber für die politische Philosophie ist das alles andere als trivial. Sowohl aus historischer wie aus systematischer Perspektive bestätigt sich: Das Politische auf einen Begriff zu bringen ist Teil der philosophischen Tätigkeit selbst.

So ist in der zeitgenössischen politischen Philosophie, wie auch ihren empirischen Schwesterfächern Politikwissenschaft und Soziologie, weitgehend anerkannt, dass es eine vernünftige Vielfalt von Politik-Begriffen, verschiedenen, auch konkurrierenden Fragestellungen, Theorietypen, Schulen und Forschungsansätzen gibt. Positiv gewendet erscheinen dieser Pluralismus und die damit verbundene methodische und inhaltliche Offenheit als der angemessene Ausdruck der Komplexität und Wichtigkeit des Gegenstandes. Für ein Einführungsbuch in die politische Philosophie haben Pluralismus und Diversität aber auch eine »negative« Seite: Es kann sich immer nur um eine an ausgewählten Problemlagen und Interpretationen orientierte, eine Sichtweise herausstellende Darstellung handeln. Auch die Problembestimmung, die Themenauswahl und der Aufbau des vorliegenden Buches sind einer bestimmten Perspektive auf die politische Philosophie geschuldet. Beispielsweise werden die historischen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen politischer Ordnungen vernachlässigt. Des Weiteren wird, was manche Leser/-in beklagen wird, die Ideengeschichte der politischen Philosophie nur in systematischer Absicht gewürdigt, d.h. insofern die Klassiker für die ausgewählten Problemlagen und Debatten wirkungsmächtige und ergiebige Positionen darstellen. Aus der Vielfalt zeitgenössischer Positionen werden diejenigen hervorgehoben, die als paradigmatisch gelten können, da sie eigenständige normative Gegenstandsbestimmungen verfolgen. Schließlich entsprechen die aktuellen Kontroversen, die am Ende dieses Buches verhandelt werden, denjenigen Kontexten der politischen Philosophie, die sich im Lichte dieser ausgewählten Paradigmen erhellen.

In Hinsicht auf die Schwerpunkte, die dieses Buch setzt, werden in dem ersten, einführenden Kapitel verschiedene Gegenstandsbestimmungen und Begründungsfragen präsentiert, die sich zum Teil durchaus unterscheiden oder ausschließen, zum Teil aber überschneiden bzw. kombinieren lassen. Diese holzschnittartige Skizze prägnanter Definitionselemente und Problemstellungen schärft, so die Hoffnung, das Bewusstsein für den Pluralismus der politischen Philosophie. Zugleich verschafft sie einen Überblick über die ideengeschichtlichen und systematischen Probleme, Debatten und Positionen, die in den nachfolgenden Kapiteln vertieft werden. Die Versuche, den Gegenstand der politischen Philosophie über ein bestimmtes Kriterium (ein Sachgebiet, ein Verfahren, den Begriff des Politischen) zu bestimmen, stehen am Beginn der Ausführungen, deren philosophiehistorische Einbettung im zweiten Kapitel stattfindet. Es folgen Gegenstandsbestimmungen, denen eine reduktive Strategie gemeinsam ist, also der Versuch, »Politik« durch einen anderen Begriff (»Staat«, »Macht«, »Herrschaft«) zu ersetzen. Schließlich werden genuin normative Gegenstandsbestimmungen skizziert (Kritische Theorie, der distributive, essentialistische und legitimatorische Ansatz), die die Paradigmen der zeitgenössischen politischen Philosophie, welche im dritten Kapitel ausführlich dargestellt werden, prägen.

An diese konzeptionelle Übersicht schließt eine allgemeinere Reflexion an: Insofern sich politische Philosophie mit normativen Fragestellungen beschäftigt, stellt sie sich vielfältigen Begründungsfragen. Soll es das Politische überhaupt geben und wenn ja, in welcher Form? Welche politischen Handlungsweisen sind in welchem Ausmaß legitim? Wie können politische Autorität und politische Verpflichtungen gerechtfertigt werden? Welche Akteure, Handlungen oder Zwecke sollen aus welchen Gründen überhaupt als »politisch« gelten? Mit den Ausführungen zum Problem der Begründung als einem Grundproblem der politischen Philosophie – einige zeitgenössische Debatten werden im vierten Kapitel aufgegriffen – wird eine gewisse Bündelung der verschiedenen Perspektiven unter einer zentralen Fragestellung angestrebt. Damit ist auch das Leitmotiv für das vorliegende Buch benannt.

1.1 Was ist politische Philosophie?

In der Alltagssprache hat der Ausdruck »politisch« ganz verschiedene Verwendungsweisen. So können kollektive Organisationsstrukturen, vor allem Staaten und deren Bündnisse, oder spezifische Handlungsformen als »politisch« bezeichnet werden, etwa die Gesetzgebung, parlamentarische Versammlungen und Beratungen, Wahlen, Demonstrationen bis hin zu Revolutionen. Ein weiteres Begriffsfeld beschreibt ein persönliches Verhalten oder einen Charakterzug als »politisch« oder eben »unpolitisch«. Auch als Urteilsform findet »politisch« im Unterschied zu »privat« oder zu »sachlich« Anwendung. In dieser Bedeutungsvielfalt klingen verschiedene Perspektiven der politischen Philosophie nach, die unsere Vorstellungen von dem, was überhaupt »politisch« genannt werden kann, nachhaltig geprägt haben und denen im Folgenden nachgegangen wird.

Kriteriale Bestimmungen

Der Versuch, den Gegenstand der politischen Philosophie über ein Kriterium zu bestimmen, wurde philosophiehistorisch schon sehr früh unternommen. Die Etymologie des Wortes »Politik« verweist auf das altgriechische politikos für »bürgerlich« und ta politika, die »bürgerlichen Angelegenheiten«, und damit auf eine für die antike Philosophie charakteristische Gleichsetzung von Politik und Polis im Sinne von »Bürgerschaft«. Als Bestimmungskriterium wird also ein Sachgebiet benannt, die bürgerlichen Angelegenheiten, wohingegen eine die politische Philosophie seit der Neuzeit prägende Perspektive ein Verfahren anführt, das zur dauerhaften Befriedung der zwischen den Menschen zu erwartenden Konflikte geeignet ist und das den Staat und dessen Aufgaben und Handlungen zu bestimmen erlaubt. Als drittes Kriterium werden Beziehungsformen herangezogen, die eine Perspektive der politischen Philosophie begründen, die das »Politische« unterscheidet von der »Politik« als dessen vielfältige und kontingente Erscheinungsformen.

(i) Philosophie der bürgerlichen Angelegenheiten. Die Perspektive der Philosophie der bürgerlichen Angelegenheiten ist eng verbunden mit der Entstehung des Politischen bei den Griechen; hier gilt als ta politika das, was Sache aller Polis-Bürger sein kann, im Unterschied zu dem, was Sache nur des Einzelnen ist (und sich daher auch nicht öffentlich, sondern im Haus abspielt). Die Unterscheidung von »politisch« und »privat« (bzw. polis und oikos) folgt einer normativen politischen Anthropologie, der zufolge der Mensch nicht nur zum Zusammenleben und zum guten Leben befähigt, sondern auch dazu aufgefordert ist, weil sich hierin sein ureigener Wesenszweck realisiert. Als soziales und politisches Tier, als zoon politikon, vermag er das menschliche Zusammenleben unter Prinzipien zu bringen, die für die Gemeinschaft verständlich, für alle ihre Mitglieder gültig und gut sind. Politeia (der Titel des politikphilosophischen Hauptwerks Platons) bedeutet daher »Bürgerschaft« und zugleich »gerechte Verfassung«, wenn es sich um eine politische Ordnung handelt, die das Wohl und das Gute aller Bürger in den Blick nimmt. In je höherem Maße eine spezifische politische Ordnung das leistet, desto politischer ist sie. Exemplarisch findet sich dieser Gedankengang in der Politik des Aristoteles. Weil »der Staat zu den von Natur bestehenden Dingen gehört und der Mensch von Natur ein staatliches Wesen ist«1, werden die bürgerlichen Angelegenheiten am besten gefördert und realisiert in einer demokratischen Gemeinschaft von Gleichen, die sich in der politischen Tätigkeit des Regierens und Regiertwerdens abwechseln. Demgegenüber ist die Tyrannis als schlechteste aller Verfassungen für Aristoteles nicht nur der paradigmatische Fall von Ungerechtigkeit, sondern auch von Politikferne: Der Tyrann verfehlt den Sinn von ta politika, denn er »verfolgt nur seinen eigenen Vorteil«2. Politisches Handeln als die praktische Beschäftigung mit den bürgerlichen Angelegenheiten, den Angelegenheiten aller, hat einen sittlichen Gehalt. Politike techne weist über das eigene Selbst und den eigenen Nutzen hinaus; sie beruht auf Tugenden; sie ist vornehm und würdevoll. Die heute verbreitete Vorstellung, dass Politik ein »schmutziges Geschäft« mit zweifelhaften, jedenfalls nicht sonderlich vertrauenswürdigen Akteuren sei, hat aus dieser Perspektive der politischen Philosophie betrachtet keine Grundlage.

(ii) Philosophie der Konfliktlösung. Diese negative Konnotation, die sich auch im Bedeutungsumschlag des Ausdrucks »politisch« von »am Ganzen/allen orientiert« zu »eigennützig«, »schlau«, »verschlagen/listig« zeigt, kommt erst mit der neuzeitlichen Perspektive der Philosophie der Konfliktlösung auf. Diese bezieht sich nicht mehr auf das bürgerschaftliche Wohl und Engagement; die normative politische Anthropologie, die sich hinter der zoon-politikon-These verbirgt, und die Vorstellung von einem Sachgebiet, in dem sich Politik und Ethik verschränken, haben ihre Relevanz verloren. Stattdessen wird der Berechtigungsgrund politischer Ordnungen in einem Verfahren der Konfliktlösung gesehen, das durch den Staat bzw. den Herrscher, der jenen als body politike wortwörtlich verkörpert, geleistet wird. Nur die Monopolisierung und Institutionalisierung von bestimmten Kompetenzen der Normierung, Sanktionierung und Regelung ermöglicht die Bewältigung von Konflikten, die zwischen Individuen zu erwarten und nicht durch die ihnen zur Verfügung stehenden individuellen oder gemeinschaftlichen Mittel aufzulösen sind. Das politische Verfahren der Stabilisierung einer durch Rechtsunsicherheit, drastische Konflikte und gegebenenfalls gewalttätige Auseinandersetzungen bedrohten Gemeinschaft, ihre Befriedung mit den Mitteln von Gesetzen und Sanktionen, notfalls auch mit harter Hand, übermäßiger Macht und Gewalt, stehen im Zentrum dieser Perspektive. Man kann bezüglich des Gegenstandes, der Zwecke und Mittel der Politik zwei Theorielinien unterscheiden. Die erste, mit dem Namen von Thomas Hobbes verbundene Theorielinie separiert Politik und Moral. Jeder Mensch ist dem anderen Menschen ein grausamer Wolf, die zu erwartenden Konflikte dynamisieren sich daher zu einem kriegerischen, für alle nachteiligen Zustand. Zu dessen Befriedung erscheinen alle Mittel rechtens, die rational und effektiv sind und zu denen der Staat in der Lage ist, selbst wenn er sich damit gegen die Bürgerschaft bzw. einzelne Bürger richten sollte.3 In der zweiten Theorielinie werden Politik und Moral aufeinander bezogen. Mit Rücksicht auf moralische Prinzipien – bei John Locke sind das Individualrechte, die jedem Menschen vor aller Politik, gleichsam von Natur aus zukommen – werden die Mittel bestimmt bzw. begrenzt, die bei der Einhegung der Konflikte überhaupt ergriffen werden dürfen.4 Beiden Theorielinien ist aber die Vorstellung gemeinsam, dass Politik keine Tugend, sondern ein Verfahren, eine Technik der Konfliktlösung ist, die die Herrschaft durch Gesetze ebenso wie die Herrschaft durch Gewalt umfassen kann. Somit ist der Gegenstands- und Handlungsbereich der Politik gegenüber Fragen der persönlichen Lebensführung und individuellen Tugendhaftigkeit autonom.

(iii) Philosophie des Politischen. Für die dritte Perspektive ist die Unterscheidung der Konzeptionen der »Politik« und des »Politischen« zentral, die sich in vielen europäischen Sprachen findet, etwa le/la politique, il politico/la politica, the political/politics. Der realen (oder bloßen) Politik als dem, was faktisch als politisch praktiziert und wahrgenommen wird, wird das Politische gegenübergestellt als das, was den politischen Charakter der kontingenten Erscheinungsformen der Politik begründet. Das Politische fungiert sozusagen als übergeordnetes Bestimmungskriterium und Beurteilungsmaßstab der konkret praktizierten Politik. Das bedeutet, dass man etwa von der »Entstehung des Politischen bei den Griechen« sprechen kann, obschon klar ist, dass es bereits zuvor politische Ordnungen gegeben hat (aber eben nicht solche, die dem angelegten Maßstab entsprechen), oder von »Entpolitisierung«, ohne damit etwas über den Bestand politischer Institutionen und Verfahren zu sagen. Woran macht sich aber diese konzeptionelle Unterscheidung fest? Für diese Perspektive der politischen Philosophie beruht das Kriterium, welches das Politische qualifiziert, weder auf einem Sachgebiet noch einem Verfahren, sondern auf spezifischen Beziehungsformen. Die Theorien, die sich unter dieser Perspektive zusammenfinden, unterscheiden sich allerdings gewaltig in ihren Auffassungen vom Wesen des Politischen und somit auch in ihren Vorstellungen von guter, d.h. »politischer« Politik. Für Carl Schmitt, der den Begriff des Politischen in die Diskussion eingeführt hat, ist eine Beziehungsform entscheidend, die den Gegensatz herausstellt. Die kollektive und verschärfte Ablehnung von denjenigen, die in einem existentiell bedrohlichen Sinne als »anders« gelten, dieser antithetische Bezug von Freund zu Feind, konstituiert ihm zufolge das Politische.5 Dagegen argumentiert Hannah Arendt, an Aristoteles anschließend, mit einer Beziehungsform, die das Gemeinsame betont. Insofern das Politische nicht einfach gegeben ist, sondern sich realisiert in einer öffentlichen und aktiven Lebensform, mit der die Bürger/-innen ihre gemeinsame Welt gestalten, rücken die kommunikativen und tätigen Beziehungen der einander als Gleiche und zugleich als Verschiedene anerkennenden Menschen in den Mittelpunkt ihrer Reflexionen.6 Eine weitere politische Beziehungsform wird, anknüpfend an Hegels Vorstellung eines Kampfes um Anerkennung, in der Kritischen Theorie herausgestellt. Zwischenmenschliche wechselseitige Akte der Identifizierung und Respektierung, sei es als Gleiche unter Gleichen, sei es als Besondere, gelten hier als Grundlage pluralistischer Anerkennungsbeziehungen und posttraditionaler, gemeinschaftsstiftender Sittlichkeit.7

Reduktive Strategien

Die Versuche, sich der Frage nach dem Gegenstand der politischen Philosophie über ein Kriterium zu nähern, konfrontieren uns vor allem mit einem: der Pluralität und Originalität divergierender Begriffsbestimmungen. Das gilt auch für die systematischen Versuche der eher sozialwissenschaftlichen Politik-Theorien, ihren Gegenstand auf den Begriff zu bringen. Aus der begrifflichen Vielfalt der politischen Theorie stechen diejenigen hervor, die, mit einigem explanatorischen Erfolg, reduktiv verfahren. Gemeint ist damit der Versuch, den Begriff der Politik in definitorischer Absicht durch einen anderen – namentlich »Staat«, »Macht« und »Herrschaft« – zu ersetzen bzw. zu erläutern. Die Vernünftigkeit, Sittlichkeit oder Akzeptabilität politischer Ordnungen spielt für diese Perspektiven keine Rolle, daher ist, um das schon vorwegzunehmen, ihre Relevanz für die Beantwortung der Frage, was politische Philosophie ist, eher gering. Sie sind zwar einerseits naheliegend, da zentrale politische, nämlich institutionelle, wirkungsbezogene und intentionale Phänomene in den Blick genommen werden. Anderseits erscheinen sie unbefriedigend, da es sich um begrenzte, durchaus kontingente oder sich nicht notwendig bzw. nicht nur auf »Politik« beschränkende Phänomene handelt. Des Weiteren fällt auf, dass diese Politik-Begriffe in bestimmten Sprach- und Kulturräumen stärker etabliert sind als in anderen, etwa die etatistische Perspektive seit dem 19. Jahrhundert vor allem im deutschen Sprachraum, die gouvernementale im französischen, die dynamistische hingegen im amerikanischen.8 Dennoch: »Staat«, »Macht« und »Herrschaft« gehören zu den Grundbegriffen der politischen Philosophie, so dass die darauf aufbauenden Politikverständnisse wenigstens kurz benannt werden sollen.

(iv) Die etatistische Perspektive. Ein etatistisches Politikverständnis bezieht sich auf den »Staat« und identifiziert alles, was mit staatlichen Organisationen und Institutionen zu tun hat, als politisch und vice versa – paradigmatisch vorgeführt in Georg Jellineks Diktum: »›Politisch‹ heißt ›staatlich‹; im Begriff des Politischen hat man bereits den Begriff des Staates gedacht.«9 Dieser Fokus auf bestimmte institutionelle Phänomene ist jedoch historisch blind, und zwar in beide Richtungen der Geschichte. Der Staat kann nicht als eine allgemeine, d.h. lokal und historisch unabhängige politische Ordnungsform betrachtet werden, sondern ist ein historisch gebundener Begriff. Die spezifischen Strukturmerkmale des modernen Staates bilden sich erst in der Frühen Neuzeit und zunächst nur in Europa aus, so dass ein hieran anknüpfender Politik-Begriff nur einen möglichen und zudem recht jungen Gegenstand hätte. Bedenkt man zudem die gegenwärtig eher zu- als abnehmenden inter- und supranationalen Verflechtungen, Verpflichtungen und Abhängigkeiten der Nationalstaaten, erscheint die Reduktion von »Politik« auf »Staat« auch für die Zukunft wenig überzeugend.10

(v) Die dynamistische Perspektive. Ein dynamistisches Politikverständnis ist umfassender, insofern keine bestimmte kollektive Ordnungsstruktur, kein institutionelles Phänomen, sondern der Begriff »Macht« und damit ein wirkungsbezogenes Phänomen im Mittelpunkt der Definition steht. Etwas aufgrund eigener Fähigkeiten, Vermögen und Kräfte bewirken zu können, bestimmte Dinge machen zu können bedeutet handlungsmächtig zu sein. Eine hieran anschließende Perspektive der politischen Philosophie erscheint aber problematisch angesichts des großen (und strittigen) Bedeutungsumfangs des Begriffs Macht, der, »soziologisch amorph«, erst durch weitere Bestimmungen eine genuin politische Kontur erhält. Die klassische (und der These der soziologischen Formlosigkeit nachfolgende) formale Definition Max Webers von Macht als »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen«, macht deutlich, dass mit »Macht« erst mal nichts Politikspezifisches, sondern vielfältige Formen der zwischenmenschlichen Über- und Unterordnung beschrieben werden können – »gleichviel worauf diese Chance beruht«11.

(vi) Die gouvernementale Perspektive. Gegen dieses »gleichviel« bringt das gouvernementale Politikverständnis eine Spezifizierung des Machtbegriffs ins Spiel, indem »Herrschaft« – und damit ein intentionales Phänomen – als institutionalisierte, bestimmten Regeln gehorchende Ausübung von Macht verstanden und als »Politik« identifiziert wird. Nicht irgendwelche, sondern nur die herrschaftsbezogenen Formen der Macht gelten hier als politisch. Dabei können unter »Herrschaft« sowohl autoritäre als auch autonome und alle Zwischenformen des Regierens, d.h. der Ordnung und Führung von menschlichen Gemeinschaften subsumiert werden. Der Unterschied zu schierer Macht (oder gar Gewalt) besteht darin, dass Herrschaft Gehorsamsverhältnisse voraussetzt. Dafür reicht aber die formale Befehlsgewalt nicht aus, sie muss mit realer Autorität verknüpft sein, in Max Webers Worten: der »Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«12. Was oder wer als »legitim bzw. als vorbildlich, verbindlich, gerechtfertigt anerkannt«13 wird, findet mit größerer Wahrscheinlichkeit, Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit Gehorsam. Es gilt auch der Umkehrschluss: Wer keinen Gehorsam findet, ist nicht legitimiert (d.h. subjektiv anerkannt) und übt de facto keine Herrschaft aus. Entscheidend für dieses Politikverständnis ist jedenfalls, dass Legitimität und Herrschaft zwar begrifflich aufeinander verweisen, aber wertneutral verstanden werden – für die Legitimität der Herrschaft reicht der subjektive »Legitimitätsglaube« aus.

Normative Perspektiven

Aber kann es nicht illegitime Formen der Herrschaft geben, die effektive Gehorsamsverhältnisse herzustellen vermögen? Sollten politische Ordnungen nicht primär in einem objektiven Sinne legitimiert sein, so dass »Legitimität« und »Geltung« verschiedene Bewertungskategorien darstellen? Kurz: Müssen in die begrifflichen Bestimmungen des Politischen nicht auch normative Kriterien einfließen, die es überhaupt erlauben, gute von schlechter, gerechte von ungerechter oder eben legitime von illegitimer Herrschaft zu unterscheiden? Mit diesen Fragen wird eine normative Perspektive auf die Politik und die empirischen, historischen und sozialen Bedingungen politischer Ordnungen eröffnet. Während es den sozialwissenschaftlichen Politikverständnissen um faktische politische Ordnungen und Ereignisse zu tun ist, sind normative Fragestellungen mit einem Fokus auf Grundlagen und Prinzipien sowie kontrafaktischen Reflexionen charakteristisch für die politische Philosophie. Deren zeitgenössische Paradigmen, die im übernächsten Kapitel ausführlich dargestellt werden, sind durch vier Problemstellungen geprägt. Zum einen stellt sich die Frage, wie eine kritische und emanzipatorische Gesellschaftstheorie überhaupt zu ihren Maßstäben gelangt. Zum anderen werfen die konkurrierenden Ansprüche der Mitglieder politischer Ordnungen die Frage nach der gerechten Verteilung auf, die durch politische Institutionen verantwortet werden muss. Zudem stellt sich die Gerechtigkeitsfrage in einem umfassenderen, die Bedingungen und Prinzipien der gerechten Lebensführung einschließenden Sinne. Schließlich kann die Berechtigung politischer Ordnungen grundsätzlich infrage gestellt werden, was ein eigenes Legitimitätsproblem aufwirft.

(vii) Kritische Theorie. Die Kritische Theorie versteht sich als dauerhaftes Projekt einer (selbst-)kritischen und emanzipatorischen