Informationen zum Buch

Von federleichten Augenblicken, Traumrecordern und dem Stöhnen nebenan

In 33+1 Stories manche von Zigarettenlänge, manche so kurz wie das Aufflammen eines Feuerzeugs erzählt Selim Özdogan vom guten und weniger guten Leben, von Rache, kosmischem Gelächter, Liebe und den paar Mal, auf die es ankommt.

»›Ein gutes Leben ist die beste Rache‹ zielt auf Hirn, Herz und Unterleib, ist ein wilder Mix der Emotionen, der auf volles Risiko geht.« Fränkische Landeszeitung

In 33+1 Geschichten erzählt Selim Özdogan von Momenten, in denen etwas umschlägt, zu Ende geht, eine Kluft deutlich wird, eine Entscheidung fällt. Gott tritt auf, Wahrsagerinnen, Prinzessinnen, Privatdetektive, Träumer, Schriftsteller, meiste aber einfach Leute, die plötzlich merken, daß sie den Zwängen nicht entkommen können und die sich mit erschrockener Wehmut an die Hoffnung erinnern, nicht genau in die Fallen des Lebens zu tappen, in die sie nun, wenige Jahre später, bereits zu geraten drohen. Hauptsache, man atmet, meint der Autor und erinnert lieber an magische, federleichte Augenblicke aus nichts als nice vibes, an gelungene Racheakte und die Zeit, als Gott es gut mit ihm meinte, auch wenn der ihn jetzt nicht mehr in seine zugemüllte Wohnung läßt.

»In ihrem ironisch gebrochenen, naiv chronologischen Erzählton entführen Selim Özdogans Geschichten in die Welt des Konsums, der schnellen Genüsse und der herben Niederlagen. Immer wieder erinnern sich seine meist jugendlichen Helden daran, wie es war, als die Mädels laufen lernten und die sexbesessenen Jungs hinterher.« Rainer Moritz, Neue Zürcher Zeitung

Selim Özdogan

Ein gutes Leben ist die beste Rache

Stories

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kiosk

Remix

Zu viele Haie im Becken

Jagen

Manchmal werde ich so etwas gefragt

Die Prinzessin und der Hirte

Ein Beruf

Spiele

Titelmelodie

Früher wollte ich immer einen Flammenwerfer zum Geburtstag

Die paar Mal

Affären

Seiten

Haste mal Feuer?

Meine Mutter verließ England

Winner

Sonntag

Ich habe noch nen Fünfer in der Tasche

Nach der Liebe

Gut gemeint

Dahinter

Kosmisches Gelächter

Nazan

Kirschblüten

Superhelden

Achtzehn

Ich und eine Kassette

Die Wahrsagerin

Dr. Gonzo

Sommer

Kein Spaß

Der Mann, der aufs Maul bekam

Es ist nicht wahr

Ende der Linie

Bonusgeschichte

Über Selim Özdogan

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

In normal life I bottle things up and smile.

Iggy Pop

Kiosk

Ich wünschte, ich hätte einen Kiosk. Ich würde nur vier Sorten Zigaretten und drei Sorten Tabak verkaufen. Das Budweiser wäre immer im Angebot, der Vorrat an Jever unerschöplich. Ich würde keine Lightprodukte führen. Ich hätte Tütenweine, Mr.Tom und einige andere Riegel, Zeitschriften, Knabberzeug, Frikadellen, isotonische Getränke, Chips, jede Menge Weingummi. Ich hätte den guten Kirschsaft, den, der mit Wodka am besten schmeckt. Es gäbe Toilettenpapier und Hustensaft, aber Konserven und Fertiggerichte würde man bei mir nicht kaufen können.

Mein Kiosk stünde in einer Großstadt, in einem Viertel, in dem viele junge Leute wohnen. Er wäre an einer Ecke, groß genug, damit man sich drinnen zu viert nicht beengt fühlt. Ich würde erst um elf aufmachen, es gäbe keine Tageszeitungen. Ich hätte aber einen alten Kopierer in der Ecke, einen aus dem nur Kopien voller Streifen und Schlieren kommen, gerade gut genug, daß man sie noch lesen kann. Die Dichter und Schriftsteller und der Rest, der sich dafür hielt, würden ihre Sachen auf dem Teil kopieren, um sie in Umlauf zu bringen.

Während sie die Blätter einzeln auflegten, würden wir uns unterhalten. Sie würden mir von ihren Schwierigkeiten erzählen, die sie mit den Verlagen hätten, dem Alkohol, den Frauen und der Inspiration. Ich würde von den verflossenen Tagen berichten, als ich mich auch als Dichter versucht hatte, in einer Welt, in der ich dann letztendlich doch Kioskbesitzer geworden bin. Die jungen Talente würden mich achten, und ich würde meine Kritik an ihren Sachen in milde Worte verpacken. Denen, die meiner Meinung nach nichts taugten, würde ich es ins Gesicht sagen, und sie würden die nächsten vier Wochen bei der Konkurrenz kaufen und weiter Worte aneinanderreihen.

Die Laufkundschaft würde sich ständig über die Auswahl an Tabakwaren beschweren, aber meine Position würde es mir erlauben, über so etwas nur gütig zu lächeln.

Die Stammkunden aber würde ich mit Namen begrüßen. Dem kleinen Mädchen aus dem Haus gegenüber würde ich bei den Hausaufgaben helfen, Markus würde ich erst mal ein paar saure Zungen in die Hand drücken, wenn er verkatert in den Laden käme und bei jedem Wort eine Staubwolke aus seinem Mund entweichen würde. Lisa mit den hennaroten Haaren würde jeden Tag eine Packung Schwarzer Krauser kaufen und mir dabei ihr Leid mit ihren Mitbewohnern klagen. Die blasse Petra würde jeden Abend Vitaminsaft kaufen, weil sie sich so ungesund fühlte, und wir würden immer lange über Sex reden, wenn sonst niemand im Laden war. Stephan, der in der Nachtschicht bei der Gepäckverladung am Flughafen arbeitete, würde Petra eines Tages in meinem Kiosk kennenlernen. Die beiden würden heiraten und sich nach zwei Jahren wieder scheiden lassen. Petra würde in der Zeit als Ehefrau kein Wort mehr über Sex verlieren.

Ich würde immer weiter im Laden stehen, immer die neuesten Platten auflegen und mir vorkommen wie Gott. Ich würde das Leben all dieser Leute kennen. Ich würde zusehen, wie sie älter wurden, sich veränderten, einen festen Beruf ergriffen, in einen anderen Stadtteil zogen. Es würden dann und wann neue Leute zuziehen, die meine Stammkunden werden würden.

Diejenigen, die wenig Geld hätten, würden sich an den Wochenenden bei mir treffen, um im Laden noch ein paar Bier zu trinken, bevor sie in irgendeiner Disco oder auf einer Fete einfielen. Einer von ihnen würde die Angewohnheit haben, seine Flasche mit den Schneidezähnen aufzumachen. Ein anderer würde sich im Sommer Juni, Juli, August auf die Schulter tätowieren lassen.

Ich säße mit einer unglaublichen Gelassenheit da und würde eine starke Zuneigung zu den Leuten empfinden. Ich würde ihnen bei Umzügen helfen, ihnen Geld leihen, sie trösten und aufmuntern und ihnen die Musik empfehlen, in die sie sich verlieben würden.

Ich würde also um elf aufmachen und um Mitternacht schließen, 365 Tage im Jahr, im Schaltjahr hätte ich dann einen Tag frei. Ich würde mich von Erdnüssen und Eis ernähren. In den frühen Nachmittagsstunden würde ich immer Zeit zum Lesen haben. Dann und wann würde ich sentimental werden und meinem verpaßten Leben als Schriftsteller nachtrauern. Ich würde in der Ausgabe meines ersten Romans blättern, der unter der Theke läge. Und in den Wühlkisten der kleinen Buchhandlungen. Ich würde träumen, wie der Erfolg wohl gewesen wäre. Ich würde träumen von mehr Geld, von Reisen, von Frauen, vielleicht sogar von Ruhm.

Dann würde Thomas reinkommen oder Tanja oder Inge oder Jochen oder sonstwer, und ich würde aufschrecken. Ich würde mir von ihren Problemen in der Welt da draußen erzählen lassen, lange genug, um mich wieder wohl in meiner Haut zu fühlen.

Abends würde ich einen Jägermeister trinken, bevor ich den Laden schloß. Dann würde ich die paar Stufen zu meinem Zimmer hochgehen und noch eine halbe Seite an meinem Roman schreiben, bevor ich zu Bett ginge. Es würde der großartigste Roman sein, den ich je geschrieben hatte, aber ich würde ihn niemandem zeigen.

Nach neun oder elf Jahren würden die Leute anfangen, mich weltfremd zu nennen, aber sie würden mich immer noch mögen. Es wäre eine wunderbare kleine Welt. Ich wünschte, ich hätte einen Kiosk.

Remix

Ich erwachte von einem Stöhnen aus meinem Traum. Die erotischen Landschaften in meinem Hirn zerbröckelten, bevor ich ein einziges Bild festhalten konnte. Es war heiß, ich mußte dringend pinkeln, ich hatte eine Erektion und einen Kater. Und nebenan stöhnte diese Frau. Samstag morgen, mitten im Sommer, und der gestrige Abend war einfach nichts gewesen, ein sinnloses Abhängen und Begaffen von leicht bekleideten Frauen. Mein Gott, wann hatte ich eigentlich das letzte Mal Sex gehabt? Und wieso hatte mein Mitbewohner gestern nacht und somit auch heute morgen mehr Glück als ich?

Wie diese Frau stöhnte, es war unglaublich. Sie schien außer sich zu sein, sie schien sich völlig vergessen zu haben, sie steckte tief im Land der Ekstase, und ihre Stimme war die einzige Verbindung zur Außenwelt.

Wie hatte Patrick diese Frau ausfindig gemacht? Sie schien ein einziger Glücksfall im Bett. Ein Glücksfall, den ich nötiger hatte als er.

Das letzte Mal. Das letzte Mal, daß es schön gewesen war, war vor einem Jahr um diese Zeit. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie ich hinterher dalag und der Schweiß auf meinem Hintern langsam trocknete und eine angenehme Kühle zurückließ. Wie gut hatte ich mich gefühlt, wie zufrieden. Es war eine einzige Wonne gewesen dazuliegen, keinen einzigen Gedanken im Kopf. Ich hätte noch nicht einmal einen letzten Wunsch gehabt.

Ich gebs nicht gerne zu, aber ich hatte es nötig. Und Patrick hatte es. Mehr als ich verlangen würde. Es war eine erbärmliche Welt, selbst im Sommer.

Ich mußte wirklich dringend pinkeln, und ich stand auf und ging nackt, wie ich war, auf die Toilette. Mein Ständer wippte leicht beim Gehen, und meine Blase schmerzte. Die beiden hörten sich nicht so an, als würden sie bald zu einem Ende kommen.

Da stand ich dann also und dachte an meinen letzten Kontoauszug, während ich darauf wartete, daß meine Erektion so weit nachließ, daß ich mein Wasser abschlagen konnte. Und dann hörte das Stöhnen auf.

Scheiße, vielleicht war sie eine von denen, die direkt hinterher ins Bad rennen. Ich drehte mich ein wenig, so daß ich mit dem Rücken zur Tür stand. Ich hätte mich natürlich auch ganz rumdrehen können und die drei Schritte bis zur Tür gehen, um sie abzuschließen. Aber was wäre, wenn sie in der entscheidenden Sekunde reinkäme? Da hätte ich sie ja fast aufgespießt.

Mein Herz klopfte zu heftig, und ich dachte: Werd schon weich. Ich horchte auf Schritte oder andere Geräusche und hörte Patrick leise stöhnen. Was ging da vor?

Naja, und wenn sie reinstürmt, dachte ich, vielleicht ist sie ja sogar eine von diesen sagenumwobenen Nymphomaninnen, vielleicht kniet sie vor mir nieder und nimmt ihn sofort in den Mund, wenn sie mich so sieht. In den Mund. Klar, deshalb konnte man Patrick hören und sie nicht mehr. Klar, womöglich war Patrick sogar so geweckt worden, vor ein paar Minuten oder einer halben Stunde, wer wußte das schon? Mein Schwanz tat weh, meine Blase, und ich war geil, und ich begann die Situation zu hassen.

Ich stand noch drei, vier Minuten so da, versuchte nicht mehr hinzuhören und mir etwas vorzustellen, sondern dachte an all die peinlichen Begebenheiten aus meinem Leben. Mir fiel eine Menge ein, wahrscheinlich sogar zuviel.

Endlich plätscherte mein Strahl in die Schüssel, zwar mit einigen Unterbrechungen, aber in diesem Moment war das Pinkeln einfach sehr lustvoll. Natürlich nichts im Vergleich mit der Lust, die diese Frau schon wieder zu empfinden schien. Sie war so laut, daß ich mir vorstellen konnte, wie unsere Nachbarn jetzt in ihrem Ehebett lagen und die Stimmung für den ganzen Tag im Eimer war, weil sie es nach dem dritten Kind nicht wieder getan hatten, und sie verachtete ihn, weil er ihr nie soviel Lust bereitet hatte, und er warf ihr insgeheim vor, verklemmt und frigide zu sein. Oder vielleicht hielten sie auch gerade ihren Kindern die Ohren zu. Vier Hände und sechs Ohren. Viel Spaß.

Ich ging zurück in mein Zimmer und legte mich aufs Bett. Die Frau war nicht nur von Sinnen, sie hatte auch noch eine unwahrscheinlich schöne Stimme. Ich hatte so etwas noch nie gehört, sie empfand einfach zu viel, und ihre Stimme schien ihr einziges Ventil zu sein. Wie oft hatte ich schon von so etwas geträumt? Wie oft hatte ich mir gewünscht, eine Frau möge genau so klingen?

Wie oft hatte ich mich über diese Scham geärgert, die die Frauen fast stumm werden ließ, über ihre lustfeindliche Erziehung, über ihre Gedanken an die Nachbarn oder über ihre schlechten Schauspielkünste. Wie Sonja, Sonja hatte geschrien, aber mit einem unglaublich gelangweilten Gesicht, und auch sonst hatte nichts gestimmt, und ich hatte immer Mühe gehabt, zu einem Ende zu kommen, weil es mich abtörnte, genau zu wissen, daß sie im Grunde nur so stöhnte, damit ich schneller kam.

Ich muß wahrscheinlich nicht erzählen, in was für einem Zustand mein Schwanz sich befand, und nachdem ich ein wenig Stolz runtergeschluckt hatte, stand ich auf, legte mein Ohr an die dünne Wand und schloß die Augen.

Ich hörte nur auf ihre Stimme und gab mich ihr ganz hin, weil ich wußte, daß das Bild dieser Frau von ganz allein in meinem Kopf entstehen würde.

Sie war dunkelhaarig, und ihre Augen waren fast schon schwarz. Sie hatte lange, glatte Haare, das mußte einfach so sein, es ging gar nicht anders. Eine dunkle Haut, aber nicht sonnengebräunt, sondern von Natur aus in einem sanften Bronzeton. Und sie hatte einen kleinen Hintern. Wahrscheinlich hatte sie kräftige Waden, wie eine Frau, die sehr viel Fahrrad fährt.

Ja, so mußte sie aussehen, auf so etwas würde Patrick abfahren. Er hatte vielleicht sogar von ihrem Aussehen auf ihre Stimme geschlossen. Und ich machte es jetzt einfach umgekehrt.

Ein Glück, daß Patrick eher leise war, er verschwand ganz hinten in der Welt der Klänge, als habe er nichts zu sagen.

Es gab eine kurze Unterbrechung, und dann hörte ich sie sagen:

– Ich will mich draufsetzen.

Das war der Zeitpunkt, an dem ich meinen Schwanz in die Hand nahm. Ich wußte nicht nur, wie sie aussah, ich konnte sie jetzt auf mir sitzen sehen, ihren wunderschönen Nabel betrachten und die Farbe ihrer Brustwarzen bewundern.

Trotzdem lenkte mich doch immer wieder der Gedanke an Patrick für einige Sekunden ab. Er hatte den Sex seines Lebens, da bestand überhaupt kein Zweifel, aber er konnte das unmöglich zu würdigen wissen, er hatte doch alle paar Wochen eine Neue.

Ich hätte ein Museum des Neids errichten können und Stein und Bein schwören, daß mir so etwas noch nie passiert war.

Die Stimme dieser Frau erinnerte mich daran, wie ich das erste Mal einen Song von Leonard Cohen gehört hatte. Es war wie eine Revolution gewesen. Wie konnte man nur so viel Gefühl in eine Stimme legen? Wie schafften es manche Menschen, mit nur einem einzigen Ton alles auszudrücken, was sie spürten? Und warum, verfickt noch mal, lernte ich nie so eine Frau kennen?

– Jetzt von hinten, sagte sie, aber eigentlich sang und schrie sie es. Mein Gott, es nahm gar kein Ende, ich hielt mich zurück, aber an Patricks Stelle hätte ich bestimmt schon vor zehn Minuten abgespritzt.

Ich wollte warten bis sie zum Orgasmus kam. Das würde das Großartigste sein, das je an meine Ohren gelangt war. Dafür hätte ich meine Plattensammlung hergegeben. Ich überlegte ganz kurz, mein Diktaphon zu holen, aber ich wollte nichts verpassen. Weil ich ja sowieso schon genug verpaßte.

– Ja, bitte, wie schön.

Jetzt kamen auch Wörter, und ich hielt es kaum mehr aus. Ich preßte mein Ohr noch fester gegen die Wand.

Es war unglaublich, selbst wenn Patrick in diesem Augenblick gebrüllt hätte, hätte ich ihn nicht gehört. Ihre Stimme war eine Welt für sich, die ich gerade besuchte. Ich sah sie vor mir, auf allen vieren, ihre Haare fielen auf das weiße Laken, ich hatte meine Hände auf ihrem Po. Und stieß zu.

– Jetzt, schrie sie auf, und ich spürte, wie ihre Möse sich zusammenzog, sich ganz fest um meinen Schwanz schloß und dann wieder weich wurde und sich wieder und wieder verengte. Ich spürte jede ihrer Zuckungen, und ich kam.

Ich kam wundervoll. Es war wirklich großartig, nur als ich die Augen aufmachte und dann da stand, mit meinem Schwanz in der Hand und den Flecken auf dem Teppich, kam ich mir augenblicklich vor wie der Verlierer des Sommers. Ich wäre jede Wette eingegangen, daß Patrick sich gerade in Dimensionen von Sex bewegt hatte, zu denen ich noch nie aufgestiegen war.

Ich legte mich aufs Bett und starrte an die Decke. In welchem Laden hatte er sie wohl kennengelernt? Ob ihm so etwas öfter passierte? Wenn ja, dann war ich ja Jungfrau, so gesehen.

Vier entsetzliche Stunden später begegneten wir uns im Flur. Es war jetzt fast zehn Jahre her, sie hatte kurze Haare, aber wir erkannten uns sofort.

– Hallo, Alex.

– Hallo, Sonja.

Zu viele Haie im Becken

Ich mochte es, mich in den Schatten dieses Olivenbaums zu hocken und aufs Meer zu blicken. Er anscheinend auch. Es gab sonst keinen Baum mit einer so schönen Aussicht in der Nähe, und so saßen wir dann zusammen da, der Schatten war groß genug für uns beide.

Er arbeitete als Gärtner bei irgendwelchen Leuten oben auf dem Hügel, er stahl sich davon, sooft er konnte. Ich hörte manchmal beim Einkaufen die Klagen der Hausbesitzer, die Menschen hier seien außerordentlich faul. Das mochte sogar stimmen, manchmal saßen wir zwei, drei Stunden da, aßen vielleicht ein Stück Brot und etwas Käse und rauchten gemächlich. Ich bin auch faul.

Das erste Mal, als wir uns sahen, hatte ich schon dort gesessen, als er kam. Er hatte mich fragend angesehen, und ich hatte genickt. Er mochte fünfunddreißig sein, er hatte Falten um die Augen vom Blinzeln, einen kleinen Bauch, er war braungebrannt und in seinen kurzen schwarzen Haaren waren erste graue Strähnen.

Ich stellte schon bald fest, daß er sich die Zeit gerne mit Worten vertrieb. Noch nie hatte ich einen Stotterer getroffen, der so geschwätzig war, und ich hatte auch noch nie einen getroffen, der auf diese Weise stotterte. Er wiederholte keine Silben oder Buchstaben, manchmal blieb er einfach am Anfang eines Wortes stecken, seine Augenlider zuckten dann, sein Körper versteifte sich, die Muskeln in seinem Gesicht gerieten außer Kontrolle, manchmal bewegten sich die Mundwinkel nach unten, und man sah eine Sehne am Hals. Es kam zwei, drei Sekunden kein Laut über seine Lippen, und dann bekam er das Wort raus und sprach ganz normal weiter, bis sich ein wenig später, vielleicht schon im nächsten Satz, das Ganze wiederholte.

Einmal passierte es mir, daß ich ihm das Wort, das irgendwo in seinem Hirn steckte und nicht bis zur Zunge wollte, vorsagte. Es war mir peinlich, so ungeduldig zu sein, aber anscheinend war er daran gewöhnt.

Nach einigen Tagen, als wieder alles in seinem Gesicht zuckte, versuchte ich mir vorzustellen, wie er bumste. Natürlich war es egal, und es ging mich nichts an, aber es war so eine Art Zwangsvorstellung. Sobald er stotterte, sah ich ihn auf seiner Frau liegen, seine Gesichtszüge entgleiten ihm, er hört auf sich zu bewegen. Ich komme, sagt er, und macht weiter, aber es ist vorbei, er hat zu lange innegehalten. Oder seine Frau hat einen Lachanfall bekommen. Ich stellte ihn mir ungeschickt und grob vor.

Er hatte mir erzählt, daß er zwei Kinder hatte, einen Jungen von elf und ein Mädchen von sieben, seine Frau hatte er auch schon öfter erwähnt, er konnte ihren Namen nicht aussprechen, ohne vorher diese Pause zu machen.

An dem Tag herrschte eine brütende Hitze, wir saßen da, man sah die Flamme des Feuerzeugs fast gar nicht mehr in dem grellen Licht, es wehte nicht das geringste Lüftchen.

– Hast du keine Frau? fragte er mich.

– Nein, sagte ich, ich hatte mal eine. Sie war mein Baby, wir waren verliebt . . .

– Und?

– Sie hat mich verlassen.

Er sah mich an, ich kam mir sehr viel jünger vor, als ich war.

– Ich weiß noch genau, wie ich meine Frau das erste Mal gesehen habe, sagte er, sie stand da, es war ganz früh, eines Morgens im Herbst, alles war ruhig und friedlich, ich war alleine schwimmen gewesen, sie saß unter einem Baum und spielte mit ihren Haaren. Ich war vierzehn, sie war zwölf, sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte.

Er hätte sie wohl auf der Stelle geheiratet, aber sie sahen sich nur in die Augen, und er traute sich nicht, sie anzusprechen, weil er ja stotterte. Er hatte sie noch nie vorher gesehen, ihre hennagefärbten Haare glänzten in der aufgehenden Sonne, er wußte noch nicht mal, ob sie aus einem der Dörfer in der Umgebung stammte. Er wurde rot, wie er so dastand, naß, in seinen zerschlissenen Badehosen, sie sagte nichts, er ging vorbei, und von da an dachte er jeden Tag an sie und stotterte immer schlimmer.

Er bekam nicht heraus, wer sie gewesen war und woher sie stammte, er konnte nicht jeden fragen, er schämte sich. Aber er interessierte sich für kein anderes Mädchen mehr, er fuhr auf jede Dorfhochzeit, jedes Fest, er kaufte sich sogar eine Trommel, er wollte lernen, die Trommel zu schlagen, wie man es von alters her tat, wenn irgendwo das Volk zusammenkam, um zu feiern.

Irgendwann mußte er sie ja treffen, sie hatte nicht ausgesehen wie eine aus der Stadt.

Jahre vergingen, ehe er sie wiedersah, auf einer Hochzeit. Sie stammte nicht aus der Gegend, ihre Cousine lebte im Nachbardorf. Sie war mittlerweile eine junge Frau mit vollen Brüsten und breiten Hüften. Wahrscheinlich ist sie ein wenig dick, dachte ich, während er erzählte. Auf dem Bild, das ich mir von ihr machte, war sie schön, wunderschön.

Ihre Blicke begegneten sich, sie erkannte ihn wieder und lächelte ihm zu. Er kam aus dem Rhythmus. Sie war schon einem anderen versprochen, fand er an dem Abend heraus. Und er ging zu ihr hin. Eine Minute lang zuckte sein Gesicht, daß es einem angst und bange werden konnte, seine Knie wurden weich, fast wäre er in Tränen ausgebrochen, kein Wort wollte über seine Lippen, und sie sagte: Ja, aber du mußt mich entführen, ich bin einem anderen versprochen.

– Es war nicht so, wie wir gedacht haben, sagte er, es war nicht so wie in den . . . Geschichten. Es war schwer, aber keine Sekunde habe ich an eine andere Frau gedacht.

Mit einem warmen Lächeln bot er mir eine Zigarette an, wir rauchten, ich schaute aufs Meer. Es war ganz glatt, es sah so aus, als könne man drauf gehen.

Jagen