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Fernsehtheorie zur Einführung

Diese Publikation ist im Rahmen des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie der Bauhaus-Universität Weimar entstanden und wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert.

Schriften des Internationalen Kollegs
für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie

Band 10

Eine Liste der bisher erschienenen Bände findet sich unter
www.ikkm-weimar.de/schriften

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Lorenz Engell

Fernsehtheorie zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Weimar †

Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
www.junius-verlag.de

© 2012 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: Oberösterreichische Landesmuseen
Veröffentlichung der E-Book-Ausgabe März 2016
ISBN 978-3-96060-005-3
Basierend auf Printausgabe:
ISBN 978-3-88506-692-7
1. Aufl. 2012

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zur Einführung …

hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Dieter Thomä
Cornelia Vismann

Inhalt

Vorbemerkung

1. Schalten | Walten. Tatsache und Theorie des Fernsehens

2. Sichtbar | Sein. Technologie, Ästhetik und Ontologie des Fernsehens

Definition des Fernsehens: Paul Nipkow

Anthropologie des Fernsehens: Marshall McLuhan

Fernsehen als taktiles Medium: Marshall McLuhan

Fernsehen als kaltes Medium: Marshall McLuhan

Vom Paläo- zum Neofernsehen: Umberto Eco, Francesco Casetti, Roger Odin

Televisualität: John T. Caldwell

Das Bild und das Sichtbare: Oliver Fahle

3. Simulieren | Verbergen. Hyperrealität und Realität des Fernsehens

Hyperrealität und Pseudo-Event: Umberto Eco, Daniel Boorstin

Simulation: Jean Baudrillard

Krieg und Fernsehen: Jean Baudrillard, Paul Virilio

4. Wandeln | Handeln. Raum- und Verhaltenstheorien

Das generalisierte Anderswo: Joshua Meyrowitz

Domestication: John Hartley

Parasoziale Interaktion: Donald Horton, Richard Wohl

Der Haushalt des Fernsehens: Lynn Spigel

Ambient Television: Anna McCharthy

5. Bedienen | Bedeuten. Theorien der Selektion und des Sinns

Switchen, Zappen: Hartmut Winkler

Fernbedienung als philosophische Apparatur: Lorenz Engell

Decodieren: Stuart Hall

6. Übertragen | Ereignen. Theorien des Zeitpunkts und der Gleichzeitigkeit

Ästhetik der Live-Übertragung: Umberto Eco

Ereignis und Struktur: Stuart Hall, Daniel Dayan, Elihu Katz

Information, Krise, Katastrophe: Mary Ann Doane

7. Fließen | Ruhen. Reflexionen vergehender und andauernder Zeit

Flow: Raymond Williams, Jane Feuer

Jenseits von Sinn – Langeweile: Lorenz Engell

Stillleben in Echtzeit – konzeptuelle Bilder des Fernsehens: Richard Dienst

8. Formatieren | Kontrollieren. Kritische Modelle

Fernsehen als Kulturindustrie: Theodor W. Adorno

Phantom und Matrize: Günther Anders

Neues Fernsehen, Gouvernementalität und Kontrollgesellschaft: Markus Stauff, Gilles Deleuze

Anhang

Anmerkungen

Siglen

Literatur

Über den Autor

Vorbemerkung

Der große Umberto Eco zitiert gelegentlich, etwas kokett, den noch größeren Michel de Montaigne mit der Bemerkung, man solle ihm nicht vorwerfen, dass er nicht Neues sagen könne: immerhin sei die Form seiner Darstellung, die Disposition der Materie, eine neue. Das Zitat mit seinen Vorstellungen vom Neuen, von Disposition und Materie gehört natürlich ganz und gar ins Buchdruckzeitalter, das es schon historisch recht genau umspannt. Für das vorliegende Buch gilt demgegenüber, am Ende des Fernsehzeitalters, etwas anderes, Verschobenes. Dass es nichts Neues sagt, ist geradezu seine Aufgabe, denn es soll in einen bestehenden Theoriezusammenhang einführen, ohne ihm etwas hinzuzufügen. Es folgt darin auch seinem Thema, dem Fernsehen: Alles im Fernsehen sei, so der Videokünstler Les Levine, eine Wiederholung von allem im Fernsehen. Alles liegt also hier an dem, was Montaigne die Disposition der Materie nennt. Nun sind Disposition und Materie aber nicht unabhängig voneinander vorstellbar. Und ganz anders als vielleicht zu vermuten wäre, lehrt uns gerade unser Gegenstand, das Fernsehen, dass die Disposition der Materie nicht mehr oder weniger gut folgt und gehorcht, sondern umgekehrt: die Disposition ist es, die die Materie wenn nicht erzeugt, so doch bestimmt. Die Disposition ruft die Materie auf und prägt ihr Erscheinen. Im Falle des Fernsehens würde man von einem Programm sprechen. Man möge dem Buch also, so wäre zu bitten, nicht vorwerfen, dass es von der falschen Materie handele, dass es andere, wichtigere oder interessantere Ansätze hätte aufnehmen sollen, sich um vergessene, aber einschlägigere Texte oder umgekehrt: kanonischere, wirksamere und berühmtere Theorien herum hätte aufbauen sollen. Das alles stimmt, aber es besagt gar nicht viel. Denn die Auswahl der Materie folgt den Entscheidungen zu einer bestimmten Anordnung, einem Programm eben, und allenfalls dieses wäre zurückzuweisen. Dieses Buch ist nämlich, ganz genau wie sein Gegenstand, die Fernsehtheorie, und wie wiederum deren Gegenstand, das Fernsehen selbst, ein höchst unvollständiges, fragmentarisches und zudem lückenhaftes Unternehmen. Es setzt nicht zuletzt auf das, was zwischen den angeordneten Fragmenten geschehen kann. Wie das Fernsehen selbst verkürzt es alles und wiederholt dabei trotzdem unentwegt, entkoppelt es alles aus seinem Kontext und stellt es in ungesteuertem Kontext neu zusammen. Dennoch möchte es einen gewissen Rhythmus in der Abfolge der Konzepte anbieten und einen Rezeptionsfluss ermöglichen. Es besteht aus dem, was es nicht enthält, ebenso sehr wie aus dem, was es enthält. Es schaltet zwischen den verschiedenen Bezugshorizonten hin und her. Und gerade dadurch möchte es seine Leserinnen und Leser involvieren, sie sogar, wenn möglich, unterhalten. Und ganz bestimmt legt es seinen Leserinnen und Lesern nahe, das gewählte Programmschema zu verlassen und sich quer zu der hier getroffenen Anordnung der Materie, aber vor allem weit jenseits ihrer in den unendlichen Weiten des televisiven Theorieuniversums zu bewegen.

1. Schalten | Walten. Tatsache und Theorie des Fernsehens

Das Fernsehbild ist das erste Bild, das man ein- und ausschalten und sogar umschalten kann. Es ist, wie vor allem Marshall McLuhan immer wieder betont, ein elektrisches Bild: das Bild im Zeitalter der Elektrisierung (MK, 18 ff.). Elektrisches Licht ist aber nicht nur künstlich und flächendeckend und verwandelt Nacht in Tag (MK, 69), es ist vor allem schaltbar. Das Fernsehen als Medium elektrisch schaltbarer Bilder hat damit eine alle anderen Bildmedien überragende, eine »waltende« und bis heute prägende Wirkung gehabt. Es hat die westliche Populärkultur und die allgemeinen Kommunikationsverhältnisse von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis um die Jahrtausendwende dominiert. Es hat uns vom Zeitalter der klassischen, analogen Massenmedien wie Zeitung, Film und Radio hinübergeführt in das Zeitalter der digitalen und vernetzten Medien. Damit hat es auch der gegenwärtigen Medienkultur und -praxis in noch oftmals unbegriffenem Maße seinen Stempel aufgedrückt. Es hat ganze Lebensformen gestaltet, das Zeitalter des Konsums heraufgeführt und begleitet, der Kleinfamilie ihre Ökonomie und Moral gegeben und ihren Verhaltens- und Wissensalltag bestimmt. Fernsehen hat Politik- und Machtstrukturen definiert. Es hat die Bilderproduktion und den Umsatz an Bildern exponentiell anwachsen lassen. Es hat Zeitordnungen geschaffen und durchgesetzt, von einem veränderten Tages- und Wochenrhythmus bis zum Grundverständnis von Aktualität, von Ereignis und Zustand bis zu den Praktiken der Erwartung und Erinnerung. Es hat Träume besetzt. Über Ordnungen im Raum hat es in massiver Weise Prozesse der Ein- und der Ausschließung in Gang gesetzt und mittels seiner Programme Kontrollformen über die Wissensverteilung etabliert, die bis heute in Kraft sind. Fernsehen hat ohne jeden Zweifel Einfluss ausgeübt auf den Wandel der Generationen- und Geschlechterbeziehungen, auf die Herausbildung und den Umbau differenzierter globaler Kulturen, auf Natur in ihrem Verhältnis zu Kultur und Technik. Sein weltweiter Umgang mit Bildern und Tönen markiert eine unhintergehbare Folie für deren Konsistenz und Anmutung, ihre Transformations- und Zirkulationsfähigkeit. Hinsichtlich Reichweite, Durchdringungstiefe und Vermittlungsgeschwindigkeit der Information setzt es noch immer den Standard. Und es befindet über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, über Offensichtlichkeit und Verborgenheit, Nähe und Entfernung, Wirklichkeit und Fiktion, über Prominenz und Normalität. Fernsehen hat Geschichte geschrieben. Es hat darüber entschieden, was eine Erzählung, was eine Nachricht, was ein Subjekt und ein Objekt – und was überhaupt ist (wir kommen speziell darauf gleich zurück).

Trotzdem sehen sich viele Theorieansätze, die sich dem Fernsehen zuwenden, zu einer markanten und seltsamen Feststellung gezwungen: Als Gegenstand der Theorie nämlich sei das Fernsehen marginal geblieben. Fernsehen und Theoriebildung befinden sich – so sagen es viele Fernsehtheorien selbst – im Zustand tiefster Inkommensurabilität (GTF, 8; UT, 23 f.). Auch wenn andere es optimistischer sehen (FF, 8 f.), so fällt tatsächlich auf, dass zwar ein Grundbestand an einigermaßen anerkannten fernsehtheoretischen Gedanken und Einzelbeobachtungen vorliegt. Aber dieser Bestand ist bislang nie auch nur zum – und sei es umstrittenen – Vorschlag einer Gesamtschau, einer monografisch vorgetragenen Globaltheorie und auch nur gelegentlich zu einer Summe integriert oder ausgebaut worden. Anders als beispielsweise die Schrift oder der Film hat das Fernsehen keine Theorie, auch keine Mehrzahl an Theorien, hervorgebracht, die mehr als einen isolierten Teilaspekt des Mediums erfassen und das Medium auf den Begriff, auf ein Modell oder einen in der Einheit der Differenzen gefassten Blickwinkel festlegen würden. Theoretisch scheint Fernsehen bis heute weitgehend unverstanden und seine Theorie jedenfalls unformuliert geblieben zu sein.

Die einfachste, naheliegendste Erklärung für diesen Umstand ist, dass genau diejenigen, die für die Theoriebildung eigentlich zuständig wären und die für die Theoriearbeit ausgebildet sind, Akademiker, Medienwissenschaftler, Intellektuelle, Kritiker, Philosophen, Feuilletonisten, sich für das Fernsehen schlichtweg nicht interessieren. Fernsehen ist eine überwiegend kommerziell geprägte massenkulturelle und daher notwendig triviale Form. Es ist einerseits primitiv und oft vulgär, andererseits auf eine komplexe, teure und aufwendige Technik gegründet (noch Mitte der 1980er Jahre, vor dem Eindringen des PC in das Alltagsleben, war das Farbfernsehgerät das mit Abstand komplizierteste technische Gerät im Durchschnittshaushalt). Beides, das Vulgäre wie das technisch Komplexe, zieht akademische Begriffs- und Theoriebildung nicht gerade an. Es lädt im Gegenteil dazu ein, Fernsehen mit Verachtung und eindeutiger Abwertung zu begegnen. Hartmut Winkler hat dafür die treffende Formulierung vom »Olymp und Schweinekoben« gefunden (NH, 93). Der Götterhimmel akademischer Begriffsarbeit scheut den Blick auf, schon gar den Aufenthalt am Schweinekoben unsäglicher kommerzieller und alltagskultureller Trivialität. Allerdings muss man sagen, dass auch der Film oder das Radio in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts derlei Eigenschaften aufweisen; auch sie sind massenmedial und technisch verfasst. Auch sie provozierten zahlreiche kritische Abhandlungen. Aber es hat dennoch niemanden gehindert, sich auf eine ernsthafte und als gültig anerkannte Theoriebildung zu diesen Medien einzulassen. Film- und Radiotheorie haben es daher durchaus zu monografischer Würdigung gebracht, deren Ansehen und Umfang die Fernsehtheorie mühelos hinter sich lassen.

Es muss also weitere Gründe für den Theoriemangel geben. Eine weitergehende und eher medientheoretisch inspirierte Erklärung könnte im Anschluss an den Medienpädagogen Neil Postman ansetzen (WAT, 83 ff.). Theoriearbeit und theoretische Reflexion sind demnach grundsätzlich begriffsgesteuert. Sie sind deshalb im weitesten Sinne an die Schriftform und an deren Rationalität gebunden. Genau darauf aber, auf die abstrakte, logische Rationalität der Begriffe und der Argumentation und auf die sie tragende und begründende mediale Form der Schrift, ziele, so Postman, der zentrale Angriff des Fernsehens. Die abendländische Schrift- und Argumentationskultur und mit ihr die Fähigkeit zur Theoriebildung und -diskussion werden vom Fernsehen massiv untergraben und schließlich außer Kraft gesetzt. Das liegt natürlich an der Bildzentriertheit des Mediums, vor allem aber an der (Un-)Logik in der Verkettung und Anordnung seiner Bilder. Wir werden darauf in dieser Einführung noch ausführlich zurückkommen. Hier soll zunächst die Annahme genügen, dass das Fernsehen keine angemessene Theoriebildung erfahren hat, weil es seiner Form nach einer Theorie- und Begriffskultur grundfremd ist.

Überzeugend erscheint dies allerdings bei näherem Hinsehen auch nicht. Denn durch nichts ist gesagt, dass Theorie sich nur an ohnehin schon theorieförmigen Gegenständen und Themen ausbilden kann. Die Unlogik des Fernsehens könnte im Gegenteil Theoriebildung geradezu herausfordern – sie hat es aber bislang offenbar nicht getan; jedenfalls nicht, solange wir an »große« Theorie denken. Der Philosoph Stanley Cavell bietet in seinem Essay über »Die Tatsache des Fernsehens« eine andere und sehr bedenkenswerte Überlegung an. Auch er wählt das verblüffende Ungenügen in der Theoretisierung des Fernsehens als Ausgangspunkt (TF, 125). Und auch er betrachtet auf der Suche nach einem Grund für dieses Ungenügen zunächst die Formen- und Anordnungswelt des Fernsehens. Als dominante kulturelle Form, die das Medium ausgeprägt und durchgesetzt hat, macht Cavell die Form der Serie aus (TF, 132-139). Alles, was Fernsehen zu sagen und zu zeigen hat, muss demnach durch die Anordnung in der (einen oder anderen) Form der Serie hindurch. Um zu begreifen, was Fernsehen ist und leistet und warum – und um zu verstehen, warum es theoretisch unbegriffen geblieben ist –, muss man sich mit der Form der Serie befassen.

Um etwas zu begreifen, ist es nützlich, es zunächst von etwas anderem zu unterscheiden. So unterscheidet Cavell Serien des Fernsehens von den Genres des Films (TF, 132 ff.). Dass Cavell gerade diesen Ausgangspunkt wählt, liegt daran, dass er sich mit dem Phänomen der Genrebildung im Film früher schon ausgiebig befasst hatte. Wie die Serien des Fernsehens umfassen auch die Genres des Films in nahezu beliebiger Fortsetzbarkeit große Anzahlen einzelner, wohldefinierter Teile oder »Werke« und ordnen sie zu Gruppen an. Aber in der Beziehung des Teils zum Ganzen, des Werks zum Genre bzw. der Episode zur Serie, unterscheiden sie sich, so Cavell, erheblich. Die Eigenschaften nämlich, die ein Film haben muss, um zu einem bestimmten Genre gezählt zu werden, werden in den Filmen des jeweiligen Genres selbst ständig neu ausgehandelt. Und zu einem bestimmten Genre gehört ein Film nicht etwa dann, wenn er bestimmte Eigenschaften aufweist, sondern wenn er sich an dieser Aushandlung beteiligt. Als Form reflektiert ein Film deshalb die Qualität des »Genres-als-Medium«, nämlich als plastische, bildsame Kraft, die die fortlaufende Entstehung des Neuen ermöglicht und ihr zugleich die Regeln gibt (TF, 135 ff.).

Dagegen bringt die Episode der Serie im Fernsehen eine völlig andere Verfassung in die Beziehung zwischen Teil und Ganzem. Diese Beziehung besteht im Fall der Serie nicht mehr im Verhältnis von Eigenschaften und deren Aushandlung, zwischen Form und Medium, sondern im Verhältnis von Format und Improvisation. Als Format legt eine Serie des Fernsehens eine Anzahl von Regeln fest, eine Formel, nach der die Episoden zu bilden sind, und zwar so, dass die Varianz, die Anzahl verschiedener möglicher Episoden tendenziell gegen unendlich gehen kann. Cavell vergleicht die Serie des Fernsehens mit der Improvisationstechnik des Jazz: Eine Akkordfolge oder ein Thema werden, zusammen mit einigen Basisregeln des weiteren Verfahrens, festgelegt. Nach der so gefundenen Formel verfahren dann die Improvisationen so, dass sich aus ihrer Abfolge dennoch ein zusammenhängendes Ganzes ergibt (TF, 140 ff.). Die Serie endet nach Cavell, wenn die Vorgaben durch das Format in ihrer Variabilität und Fruchtbarkeit erschöpft sind. Die Formel des Formats ist dann steril, erstarrt. Die einzelnen Episoden entstehen im Nacheinander und werden auch in der linearen Abfolge wahrgenommen, aber sie bauen eigentlich nicht aufeinander auf. Sie variieren ein Prinzip, eben die jeweilige Formel, bis zur Unendlichkeit. Sie diskutieren sie nicht und entwickeln sie nicht, sondern erschöpfen sie. Eigentlich sind Serien deshalb weniger prozesshaft angelegt, wie dies die Genres des Films sind, sondern eher strukturell. Die Formel der Kombinatorik aller möglichen Varianten, die das Format zulässt, wird nach und nach abgetragen, aber die Kombinatorik selbst stellt sie alle mit einem Ansatz, in einem Format der Möglichkeit nach zur Verfügung. Serien sind als Formate demnach tendenziell simultan gegeben, sie operieren wie Matrizes oder wie Diagramme eigentlich in einer eher flächigen Anordnung, deren einzelne Kombinationen nacheinander aktualisiert werden.

Ein Beispiel für ein solches Format ist für Cavell der Talk (TF, 145). Im nicht endenden Strom des Talks werden alle Varianten des Sprechens und des Besprechens, des Beredens und des Geredes durchdekliniert. Die Struktur liegt mit dem Format fest, dennoch ist der nacheinander abgetragenen Variabilität kaum eine Grenze gesetzt. Einerseits gibt es hier einen nicht abreißenden, nahezu ungegliedert fortfließenden je aktuellen Strom der Rede. Andererseits ist die nahezu unendliche Möglichkeitswelt des Talks dabei immer im Zugleich gegeben, nämlich durch das Format definiert. Der Talk breitet, so ließe sich Cavells Überlegung fassen, einen Teppich der Rede und des Geredes unter den Alltag, der, auch wenn er immer nur aktuell in einem bestimmten Stück wahrnehmbar ist und diese Stücke einander in unendlicher Reihe ablösen, dennoch im Ganzen ein Zustand, ein Zugleich markiert. Deshalb spricht Cavell in seiner berühmten Definition des Fernsehens vom »Strom simultaner Ereignisrezeption« (im Unterschied zu den »sukzessiven Welt-Projektionen« des Films; TF, 143), wobei die Simultaneität in der für Cavell wichtigen Gleichzeitigkeit zwischen Ausstrahlung und Wahrnehmung, aber auch in der strukturellen Gleichzeitigkeit des andauernden Geredes besteht.

Alles, was geschieht, muss sich, so Cavell, vor dem Hintergrund dieses Teppichs, des Stroms simultaner Ereignisrezeption, abzeichnen und abspielen. Und genauer betrachtet haben wir es nicht nur mit einem solchen Teppich, nämlich einem Format, sondern mit derer vielen zu tun, die ihrerseits wiederum simultan zueinander angeboten werden. Endlos viele Unterformate des Talks und sehr viele andere Formate, eben die zahlreichen Serien des Fernsehens, bevölkern in nicht abreißendem Strom und in unüberschaubarem Nebeneinander der Episoden zugleich unseren Alltag. Sie stellen sicher, so sieht es Cavell, dass die strukturelle Matrix der Formate unerschöpflich und in Kraft bleibt. Sie stellen sicher, dass nichts sich verändert, sondern eben alles sich in Variationen des Selben fassen lässt; dass zumindest alles, was wirklich in der Form des Ereignisses geschehen könnte, ausschließlich vor dem ereignislosen Hintergrund der Serien und der Welt der Formate wahrnehmbar wird. Aus der Sicht des Fernsehens und seiner dominierenden Form nach, der Serie, ist die Welt eine im Grunde ereignislose, unwandelbare Folie, die wir im Nach und Nach des Bilderstroms immer aufs Neue abschwenken.

Aus dieser Überlegung nun zieht Cavell in einer berühmten Wendung den Schluss, dass das Fernsehen kein Medium der Betrachtung, des viewing, sondern eines der Überwachung, des monitoring sei (TF, 144). Wie im Überwachungsraum des Kaufhausdetektivs oder im Monitorraum einer U-Bahn schalte das Fernsehen in seiner Serialität und schalteten wir als seine Zuschauer von einem Überwachungspunkt zum anderen. Das Schalten des Bildes und seines Stroms korrespondiert also mit dem Walten der Welt da draußen. Das eine stellt das andere sicher. Und damit ist auch gesagt, dass das Fernsehen vor allem diesen Unterschied instrumentiert: zwischen einem »Drinnen« und einem »Draußen«. »Drinnen«, in einem Milieu der Einschließung, sitzen wir, empfangen die Schaltungen des Bildes oder produzieren sie sogar selbst. »Draußen« dagegen waltet eine Welt, an der wir nur durch ihre Überwachung Anteil nehmen. Natürlich denkt Cavell hier an das Verhältnis von Wohnzimmer und Außenwelt, von Eigenheim und Wirklichkeit, von Vorstadt und urbanem Raum. Suchte man nach einem aktuellen Vergleich, dann käme man vermutlich unweigerlich auf eine Serie wie The Wire. Denn die Einschließungspraxis, die durch das »monitoring« des Fernsehens ermöglicht oder von ihr produziert wird und sich in der Form der Serie verwirklicht, schließt die Welt und mit ihr ihre Unwirtlichkeit, ihre grundsätzliche Unbewohnbarkeit aus, so Cavell (TF, 161 f.).

Technische Form – das Schalten – und ontologische Form – das Walten – bedingen einander im Fall des Fernsehens. Cavell bezieht sich ausdrücklich auf das Umschalten während der Live-Sendung (TF, 146 f.). Die Schaltbarkeit des Fernsehens und seines Bildes macht, so lässt sich über Cavell hinausgehend festhalten, vermutlich seinen markantesten technischen Grundzug aus. Jedenfalls unterscheidet sie das Fernsehbild von allen früheren Bildtypen – und hat zugleich Anteil an seiner Ontologie: Nur was schaltbar ist, sei überhaupt, behauptet Friedrich Kittler.1 Für Cavell dagegen handelt es sich hier eher um eine negative Ontologie: Wir haben die Welt unbewohnbar und unheimlich gemacht. Cavell mag in diesem Gedanken von Heidegger beeinflusst sein oder an eine aktuellere soziale oder auch die ökologische Unlebbarkeit denken.2 In jedem Fall ziehen wir uns für Cavell mithilfe des Fernsehens aus ihr zurück in eine Innenwelt. Wir beschränken uns darauf, die Welt zu überwachen und uns zu versichern, dass das, wovor wir Angst haben, der Weltverlust, nicht eintritt oder doch wenigstens noch nicht eingetreten ist: Alles ist unverändert normal da draußen. Auch hier stimmt Hartmut Winkler mit Cavell überein: nicht zu handeln, nicht einzugreifen macht für ihn den Kern des Fernsehverhaltens aus (NH, 94 f.).

Und nirgends, so schließt Cavell endlich seinen Argumentationskreis, wird der Zusammenhang zwischen der dominierenden kulturellen Form des Fernsehens, der Serie, und der Unbewohnbarkeit der Welt so deutlich wie in dem Mangel an einer Geltung beanspruchenden Theorie des Fernsehens (TF, 162). Denn solange wir – mit Winkler zu sprechen – nicht nur nicht handeln, sondern darüber nicht einmal reflektierend nachdenken; solange wir das »monitoring« nur betreiben, es aber nicht reflektieren, sind wir zwar in einem Zusammenhang mit der Unbewohnbarkeit der Welt befangen, brauchen ihn aber nicht zu erkennen und uns ihm nicht zu stellen. Das intellektuelle und philosophische Ausweichen vor dem Mega-Medium Fernsehen, die Verweigerung seiner theoretischen Reflexion bei gleichzeitig flächendeckender Nutzung und Wirksamkeit, verschließt die Augen vor der Tatsache des Fernsehens, ändert aber gleichwohl nichts an ihr. Wir wollen gar nicht wissen, was das Fernsehen als technologisches Symptom der Unbewohnbarkeit zu bedeuten hat. Und so verhelfen wir ihm konsequent zur ultimativen Effizienz im Ausschluss der Welt und vergeben dennoch die Erkenntnis, die es zu bieten hat.

Interessant ist Cavells Essay aber nicht nur wegen seiner These zur Theorieferne des Fernsehens bzw. der Fernsehfeindlichkeit der Theoriebildung. Interessant ist er auch seiner Form nach. Selbst eine eminente theoretische Einlassung zum Fernsehen, ist er seltsam zerklüftet und disparat in Aufbau und Argumentation. Immer wieder unterbricht Cavell seine Ausführungen, um in Rückblicken auf eigene, frühere Essays zurückzuschalten oder um ausführlich Einzelbeispielen nachzugehen. Immer wieder schaltet er auch längere Zwischenpassagen ein. Er berührt dabei viele Aspekte des Fernsehens, die wir auch im Verlauf dieser Einführung erneut und ausführlich aufnehmen werden, Fragen der Zeitlichkeit und der Serialität, der Simultaneität, der Synchronizität und der Ereignisform, nach den verschiedenen Modi des Sehens und der Sichtbarkeit. Auch dem Grunddualismus von technischer Form und Weltform, von »Schalten« und »Walten«, werden wir im Aufriss der Fernsehtheorie immer wieder begegnen. So nähert sich Cavells Essayform selbst der Praxis an, die er beschreibt: derjenigen des »monitoring«, des im Nacheinander aktuellen Abschwenkens einer simultan gegebenen – theoretischen – Gesamtlage. Offenbar gehört sie selbst bereits dem Kosmos an, den der Autor zu begreifen versucht. Vielleicht handelt es sich bei Cavells Essay selbst eher um ein »Überwachen« als ein »Betrachten« des Fernsehens. Vielleicht wäre das auch die angemessenere und jedenfalls konsequentere Haltung zum Fernsehen als die traditionelle, im Ganzen denkende und operierende Theorieform. Es ist jedenfalls nicht ganz einfach, die »Formel« zu erkennen, nach der Cavell in seinem Text seine heterogenen theoretischen »Episoden« anordnet und lesbar macht. Möglicherweise ist es aber gerade die Aufgabe, die dieser Band zur Einführung in die Fernsehtheorie uns angesichts der disparaten Form der Fernsehtheorie stellt: die »Formel« lesbar zu machen, nach der die einzelnen »Episoden« der Fernsehtheorie einander (möglicherweise ohne es selbst zu wissen) variieren – wenn es eine solche »Formel« denn gibt.

Selbstverständlich zieht Cavells Betrachtung auch viele Fragen auf sich. So bleibt etwa die Beschreibung des Phänomens der »Kontrolle« sehr vage, folglich auch diejenige des Verhältnisses von bloßer Überwachung zu ihrer (Rück-)Wirkung auf die derart überwachte Welt (TF, 163). Eingriff und Nichteingriff in die Welt sind möglicherweise nicht so klar zu unterscheiden, wie Cavell es uns glauben macht, gerade dann, wenn er recht haben sollte. Und damit ist auch die klare Trennung zwischen dem Innen- und dem Außenraum des Fernsehens möglicherweise noch nicht das letzte Wort. Es ist außerdem sehr die Frage, ob sich nicht inzwischen die Serienform des Fernsehens in eine ganz andere Richtung entwickelt hat, bei der nicht mehr die Formel und ihre Erschöpfung im Mittelpunkt stehen, sondern sehr wohl das, was Cavell für den Film als »Genre-als-Medium« fasst. Cavell schreibt 1982 und kann mithin das, was als »Neofernsehen« etwa seit diesem Zeitpunkt Epoche macht, noch nicht erkennen. Vielleicht muss, Cavells Grundansatz entgegen, sogar eine gesteigerte Wandelbarkeit als besonderes Merkmal angesetzt werden.

Dafür spricht einiges. Denn überhaupt ist im Überblick aufschlussreich, wie sehr fernsehtheoretische Ansätze ihrem jeweiligen historischen Ort verpflichtet sind. Dass es bislang zur Ausbildung einer – oder auch mehrerer – Theorien des Fernsehens nicht gekommen ist, mag auch daran liegen, dass Fernsehen sich in der ohnehin nicht allzu langen Zeitspanne seiner Dominanz als Massenmedium unausgesetzt und gravierend gewandelt hat, was schon an seiner technologischen Basis gilt. Von der elektromechanischen Apparatur wandelt es sich zur elektronischen Röhrentechnologie praktisch im Moment seines Ausbaus zum Massenmedium ab 1948. Die für das frühe Fernsehen charakteristische Aufzeichnungslosigkeit – es beginnt praktisch und in der Theorie als reines Übertragungsmedium im ununterbrochenen »Live« – läuft ab Mitte der 1950er Jahre aus, mit der Einführung der »Filmed Series« und der »AMPEX«-Bildaufzeichnung. Diese beendet das »Goldene Zeitalter« des Fernsehens, das den frühen kritischen Theorien des Mediums als Referenzgröße dient,3 bereits nach wenigen Jahren. Sie verändert nicht nur vollständig die Produktion, sondern auch die Beobachtbarkeit des Mediums und steht daher am Beginn auch theoretischer Umbrüche. Die Einführung der Fernbedienung und die nachfolgende explosionsartige Vermehrung der Fernsehkanäle um 1980 lässt ein völlig neues Paradigma, eben das »Neofernsehen« entstehen, fast so etwas wie ein neues Medium mit wiederum neuem Theoretisierungsschub.4 Und die Digitalisierung, die das Fernsehen seit der Jahrtausendwende heftig erfasst, lässt völlig unklar erscheinen, wovon wir eigentlich – theoretisch – reden, wenn wir vom Fernsehen sprechen, nämlich: von einem Objekt oder einem Agenten der Digitalisierung. Die historische Halbwertszeit fernsehtheoretischer Ansätze ist jedenfalls, das zeigen die Beispiele, nicht sehr lang. Sie sind oft selbst ereignisgebunden, vorübergehender Natur, was auch für Cavells Essay – bei allem, was er nach wie vor zu sagen hat – konstatiert werden kann.

Kurz: Am Anfang aller Fernsehtheorie steht vielleicht weniger als die Klage über den Theoriemangel die Einsicht in die Konsistenz theoretischer Reflexion auf das Fernsehen. Der beklagenswerte Zustand dieser Theorie, ihr Ungenügen, ihr Kleinformat, ihre Zerklüftung, ihre Versprengtheit, ihre eingeschränkte Geltung, ihre Verhaftetheit in einer schnellem Wandel unterworfenen technologischen Aktualität, umreißt möglicherweise ganz genau die Form und stellt eben die Formel zur Verfügung, in der Fernsehtheorie in einem vom Fernsehen geprägten Kultur-, Erkenntnis- und Denkumfeld überhaupt wirksam werden kann. Sie operiert nämlich eben nicht als Abfolge großer, kompletter begrifflicher Projektionen der Welt des Fernsehens, sondern als fließende Kenntnisnahme im paradoxen Strom des Nebeneinanders seiner theoretischen Ereignisse.

2. Sichtbar | Sein. Technologie, Ästhetik und Ontologie des Fernsehens

Viele Theorien einzelner oder spezieller technischer Medien setzen mit der Bestimmung ihres Gegenstandes bei seiner speziellen technischen Funktionsweise an. Aus ihr, häufig auch aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen und Errungenschaften, auf denen sie aufruht, leiten sie dann das Wesen des jeweiligen Mediums ab. Das in der jeweiligen Technologie gebundene technischwissenschaftliche Wissen oder seine Anwendungen und Effekte machen für derlei Theorien den Wesenskern eines Mediums aus. Aus der Technologie folgt eine Medien-Ontologie, die festschreibt, was ein Medium eigentlich, d. h. in seinem Wesenskern, ausmache. So haben es beispielsweise André Bazin und Siegfried Kracauer für die Fotografie und für den Film getan.5 Interessanterweise folgt aus solchen Theorien oftmals eine Annahme auch darüber, was die Wirklichkeit jenseits des jeweiligen Mediums sei, welche Eigenschaften von Wirklichkeit ein Medium freilege oder auf welche dieser Eigenschaften es sich beziehe oder auch welche Wirklichkeit es überhaupt erst generiere. Mit dem Wesen des jeweiligen Mediums befragen sie auch dasjenige der Wirklichkeit, in der ein Medium jeweils fungiert. Auch deshalb können derlei Ansätze als ontologische gefasst werden. Im Fall des Fernsehens kann beispielsweise Sichtbarkeit als ein solches Merkmal der vom Fernsehen aufgeschlossenen Wirklichkeit angenommen werden.

Definition des Fernsehens: Paul Nipkow

Eine große und wichtige Gruppe von Fernsehtheorien beginnt genau auf diese Weise, beim Fernsehen als technischer Einrichtung und ihren Funktionsprinzipien. Von diesen Theorien soll hier zunächst die Rede sein. Sie stehen aus einem doppelten Grund am Anfang unseres Durchgangs durch die Fernsehtheorie: Sie alle begreifen das Fernsehen im Kontext anderer Medien, als eines unter anderen Medien, mit denen es kontrastiert und zusammenwirkt, die es voraussetzt oder verändert bzw. von denen es seinerseits verändert und fortgeführt wird. Es gehört zu den Eigenheiten der Fernsehtheorie, dass sie zu einem großen Teil immer schon als Theorie des Medienvergleichs, der Intermedialität oder im Rahmen umfassender Medientheorien entwickelt wird.6 Das mag daran liegen, dass sie zwischen der schon früh gut entwickelten Filmtheorie einerseits und den spätestens seit den 1980er Jahren massiv ausgebauten Theorien des Digitalen andererseits gleichsam eingeklemmt ist. Zweitens aber rücken die technischästhetischen Ontologien, mit denen wir beginnen wollen, das Fernsehen sämtlich in eine genetische oder evolutionäre Perspektive ein. Sie begreifen das Fernsehen, die Eigentümlichkeiten seiner Bildgebung und seiner Wirklichkeitsproduktion, aus einer Entwicklungsgeschichte der Medien ganz allgemein heraus – oder zumindest der Bild- und der Massenmedien. Dabei rücken sie entweder die Funktion des Fernsehens im Rahmen einer groß gedachten Medienevolution ins Zentrum oder versuchen, Fernsehen ausgehend von dem Wandel zu begreifen, dem es selbst im Zuge seiner bisherigen Entwicklung unterworfen war. Durch ihre Doppelstruktur befinden sich all diese Theorien in einer eigentümlichen Spannung zwischen dem ontologischen, nach einem unwandelbaren Wesenskern suchenden Ausgangspunkt einerseits und einem genetischen und funktionalen Denkansatz andererseits, der sich für Wandel und Evolution sowie wechselnde Kontextualisierungen des Mediums interessiert.

Wollte man zu den Wurzeln einer technologischen Bestimmung des Fernsehens zurückgehen, so würde man auf die vermutlich früheste begriffliche Festschreibung des Fernsehens überhaupt stoßen. Sie findet sich in der Patentschrift, die das Kaiserliche Patentamt im Jahre 1884 dem Studenten Paul Nipkow für dessen Erfindung des elektrischen Teleskops erteilte. Dort heißt es kurz und bündig: »Das elektrische Teleskop ist eine Apparatur mit dem Zweck, ein an einem Orte A befindliches Objekt an einem anderen Orte B sichtbar zu machen.«7 Es ist vielleicht interessant zu wissen, dass Nipkow seinen Apparat damals nur beschreiben, nicht aber tatsächlich bauen konnte. Das Patentamt ließ sich bereits von der prinzipiellen Machbarkeit des elektrischen Teleskops überzeugen und stellte es unter Schutz. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Fernsehens, dass es schon früh als realisierbare technische Idee ersonnen wurde – die Patentschrift datiert deutlich früher als beispielsweise diejenige auf die Filmapparaturen der Brüder Lumière in Frankreich oder der Brüder Skladanvsky in Berlin –, aber erst spät und langsam tatsächlich entwickelt wurde, in den 1920er und 1930er Jahren. Und noch einmal deutlich später, erst ab 1948, wurde es schließlich als das wirksame und folgenreiche Massenmedium implementiert, das wir seitdem darunter verstehen. Dies war erst nach zahlreichen Entwicklungsschritten möglich. Unter anderem wurde – und das ist nun für die technologischen Ontologien des Fernsehens wichtig – auf diesem Weg das Grundtechnologicum des Fernsehens, sein zentrales technisches Funktionsteil, vollkommen umgestellt. Nipkows Patent hatte als zentrales Funktionsteil eine sich drehende Lochscheibe und eine lichtempfindliche Selenplatte vorgesehen. Dadurch sollte ein Bild in eine Serie elektrischer Signale umgeformt werden. An die Stelle dieser eher groben und unzuverlässigen Bilderzeugung trat aber seit den 1920er Jahren die elektronische Bildröhre als zentrales Technologicum des Fernsehens. Aus einem optomechanischen Apparat wurde ein optoelektronischer Apparat. Genau dieser Umstellung verdankt das Fernsehen schließlich seine zentrale Bestimmbarkeit als Medium des schaltbaren Bilds, von der wir im Einleitungskapitel und angelehnt an Stanley Cavells Gedanken vom monitoring bereits Gebrauch gemacht haben.

Anthropologie des Fernsehens: Marshall McLuhan

Auch die wohl wichtigste Theorie des Fernsehens überhaupt setzt bei den technischen Beschaffenheiten des Mediums an, nämlich bei der Lückenhaftigkeit seines Bildes, seinem Kleinformat und seiner Allgegenwart. Es handelt sich um Marshall McLuhans Understanding Media (in der deutschen Übersetzung wurde daraus: Die magischen Kanäle) aus dem Jahre 1962. Eigentlich entwirft McLuhan darin sogar eine umfassende Medientheorie, aber er orientiert sich dabei zentral an dem zu seiner Zeit avanciertesten und komplexesten Medium überhaupt, eben dem Fernsehen. So präsentiert McLuhans in seiner Zeit völlig allein stehender Ansatz eine stark fernsehgeprägte und fernsehzentrierte Sicht auf die Gesamtheit der Medien. Im Kern ist Understanding Media eine Fernsehtheorie, ja die einflussreichste überhaupt, auch wenn darin zahlreiche verschiedene Medien behandelt und viele technische Geräte bis hin zu Uhren und Automobilen zu Medien erklärt werden. Charakteristisch für McLuhan ist, dass er nicht die Technologie für sich allein oder in Wechselwirkung speziell mit der Gesellschaft betrachtet. Vielmehr gilt seine Aufmerksamkeit dem Zusammenspiel der Technologie mit dem einzelnen, biologischen Menschen und seinem sinnlichen Wahrnehmungsvermögen. Neben der Technologie kommt also hier eine ganz eigentümliche Anthropologie ins Spiel. McLuhan ist damit einerseits der herausragende Vertreter einer techno-ästhetischen Medien-Ontologie des Fernsehens. Allerdings versieht er sie, und das ist ein entscheidender Punkt, mit einem anthropologischen Fundament und kann somit als Urheber (zumindest einer mächtigen Spielart) der erst seit Kurzem so benannten Medien-Anthropologie angesehen werden.

Wollte man McLuhan an die Nipkow-Konzeption des Fernsehens anschließen, so wäre das entscheidende Kriterium zweifellos dasjenige der Sichtbarkeit. Wenn wir von der Sichtbarkeit von Objekten sprechen oder gar von einer sichtbaren Welt, dann begreifen wir die Dinge und die Welt zunächst immer schon bezogen auf ein Vermögen des Menschen, nämlich das Wahrnehmungsvermögen. Die Welt des Fernsehens – nach Nipkow – wäre also eine immer schon auf den Menschen bezogene und auf ihn zentrierte Welt. Und genau hier setzt McLuhans Argumentation ein. Der Mensch nämlich neigt dazu, so McLuhan, die Schnittstelle zwischen seinem Körper und der auf ihn bezogenen, um ihn herum zentrierten Welt unablässig zu verändern und zu verschieben. Er erweitert seine Grenzen und seine Möglichkeiten, indem er, so McLuhan, seine Organe erweitert, und zwar in den Werkzeugen (MK, 57ff.). Der Hebel wäre demnach eine Erweiterung des Armes – oder der Hand –, das Rad eine Erweiterung des Fußes mit seiner Abrollbewegung (MK, 58). Und die komplexeren Maschinerien, die sich daraus entwickeln, sind Erweiterungen wiederum dieser Erweiterungen. Bis hierher bewegt sich McLuhan entlang gängiger anthropologischer Theoreme. Indem der Mensch jedoch einzelne seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten in dieser Weise nach außen verlängert, verlagert er sie auch nach außen. Das hat nach McLuhan dreierlei Konsequenzen. Zum einen begegnet nun der Mensch in den technischen Artefakten, mit denen er sich umgibt, letztlich Spiegelbildern seiner eigenen Fähigkeiten und Potenziale. Seine technische Umgebung wird ihm zur Begegnung mit sich selbst als Fremdem. Dies entspricht, so McLuhan, dem alten Mythos von Narziss (MK, 57). Anders als gemeinhin vorausgesetzt, verliebt sich der Narziss des Mythos ja keineswegs in sich selbst, sondern in einen schönen Jüngling, den er in einem Tümpel erblickt und von dem er zunächst gar nicht weiß, dass es sich dabei um sein eigenes Spiegelbild handelt. In der mit Begehren besetzten Dyade jedenfalls zwischen dem Menschen und den nach seinem eigenen Bilde geschaffenen technischen Artefakten sieht McLuhan die Grundform, die den technischen Menschen nicht nur praktisch, sondern affektiv und sogar erotisch an seine Apparate fesselt. Er ist »verliebt in seine Apparate« (MK, 57).

Zum anderen nimmt McLuhan an, dass der Mensch, der einzelne seiner Fähigkeiten auf seine Werkzeuge ausdehnt und sie um diese erweitert, sich nach und nach der Ausübung dieser Fähigkeiten begibt. Er delegiert sie an seine Apparaturen und verliert sie damit an sich selbst. Ohne seine Verkehrsmittel kann er sich nicht mehr fortbewegen, ohne seine Sehhilfen nichts mehr wahrnehmen. McLuhan spricht davon, dass der Mensch das jeweils nach außen verlagerte Organ und die dazugehörige Fähigkeit amputiere (MK, 59ff.). Er lebt nun als Torso in einer Prothesenwelt. Den Schmerz aber, den eine solche Amputation hervorrufe, müsse der technische Mensch beständig betäuben, narkotisieren (MK, 60). Er nimmt die Schnitte und Schnittstellen, die ihn von seinen eigenen Organen und Fähigkeiten trennen und ihn zugleich an die Artefakte, die Prothesen, fesseln, nicht mehr wahr. So ist er zugleich stark erweitert und stark reduziert, da er im Zustand der Betäubung lebt. McLuhan macht nicht recht deutlich, wie sich diese Betäubung vollzieht, aber es wäre gut vorstellbar, dass dabei auch den populärkulturellen oder kulturindustriellen InhaltenInhalteInhalteWirkungtransportierten Inhalten