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Gerechtigkeitstheorien zur Einführung

Bernd Ladwig

Gerechtigkeitstheorien
zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Weimar †

Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Weimar †

Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
www.junius-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Dieter Thomä
Cornelia Vismann

Inhalt

Vorwort

I.THEORETISCHE GRUNDLAGEN

1.Begriffliches

1.1 Zum Begriff der Gerechtigkeit

1.2 Zum Begriff der Moral

2.Bereiche
der Gerechtigkeit

2.1 Gerechtigkeit als Tugend

2.2 Verwirklichungen der Gerechtigkeit

3.Arten der Gerechtigkeit

3.1 Allgemeine und besondere Gerechtigkeit

3.2 Herrschaft und Gerechtigkeit

4.Gleichheit

4.1 Gerechtfertigte Ungleichheit?

4.2 Begründungen substanzieller Gleichheit

5.Gerechtigkeit und Maximierung

5.1 Konsequentialismus und Rechte

5.2 Die Grenzen der Maximierung

II.HEUTIGE DEBATTEN

6.Eine Vertragstheorie der Gerechtigkeit: John Rawls

6.1 Gerechtigkeit als Fairness

6.2 Die Grundsätze der Gerechtigkeit

7.Ein konsequenterer Liberalismus?

7.1 Rechte als Stoppschilder

7.2 Eine ›historische‹ Theorie der Gerechtigkeit

8.Gerechtigkeit und Gemeinschaft

8.1 Wie wir uns selbst verstehen

8.2 Rawls’ späte Theorie: Politischer Liberalismus

9.Gerechtigkeit als Gleichheit?

9.1 Welche Gleichheit?

9.2 Warum eigentlich Gleichheit?

10. Ausblick: Gerechtigkeit jenseits des Nationalstaats

Anmerkungen

Hinweise zum Weiterlesen

Über den Autor

Vorwort

Diese Einführung spannt einen Bogen von den begrifflichen Fragen der Gerechtigkeitstheorie bis zu deren zeitgenössischen Kontroversen. Ihr Zweck ist die Heranführung aufgeschlossener Leserinnen und Leser an fundierte Gedanken zu einem Schlüsselthema der Moralphilosophie und des politischen Denkens. Philosophische Vorkenntnisse sind kein Hindernis, aber hoffentlich auch keine Voraussetzung dafür, das kleine Buch mit Gewinn zu lesen.

Die Leserinnen und Leser, die ich mir wünsche, lassen nicht den Autor für sich denken, sondern denken selber. Angeregt durch seine Vorschläge, greifen sie zu Originalbeiträgen, weil sie ein Studium von Einführungen nicht mit einem Studium der Sache gleichsetzen. Dabei sei vorausgeschickt, dass das Thema Gerechtigkeit zum Verzweifeln komplex und kompliziert ist. Aber es ist zugleich eines der Themen, die uns nicht nur aus intellektueller Neugierde anziehen. Die Gerechtigkeit geht uns als Menschen und als Bürger etwas an, weil wir eine Selbstachtung zu verlieren haben. Wir wollen nicht das Gefühl haben, auf Kosten anderer zu leben, sie auszubeuten, ungerecht zu beherrschen oder um Güter zu bringen, die ihnen gebühren, und wir wollen nicht, dass andere dies mit uns tun. Auch möchten wir nicht in einem Staat leben, dessen Verfassung oder Praxis die gültigen Ansprüche mancher Menschen verletzt.

Die hier gewählte Herangehensweise ist eher systematisch als historisch. Ausflüge in die Ideengeschichte der Gerechtigkeit unternehme ich nur, soweit sie zum Verständnis ihrer Gegenwart unerlässlich oder doch hilfreich sind. Wenn ich etwa der modernen Verengung von Gerechtigkeit auf gerechte Ordnungen nicht folge, sondern sie weiterhin auch, wie die Klassiker in Antike und Mittelalter, als eine individuelle Tugend betrachte, so hat das einen systematischen Sinn. Denn nur im Zusammenspiel von Institutionen mit dem Ethos von Einzelmenschen kann Gerechtigkeit unverkürzt zur Geltung gelangen.

Auch argumentiere ich dafür, dass die Gerechtigkeitstheoretiker unserer Tage gut daran täten, ein paar Grundunterscheidungen des Aristoteles zu beherzigen. Diese dienen mir aber nur dazu, die beiden Behauptungen zu erhellen, die das sachliche Zentrum des Buches bilden. Gerechtigkeit ist zuerst eine Sache gerechter Verteilung. Eine gerechte Verteilung ist gleichbedeutend mit recht verstandener Gleichheit. Diese Behauptungen sollen helfen, die Gerechtigkeit von verwandten Gebieten wie den Menschenrechten, mit denen sie manches gemeinsam haben, abzugrenzen.

Anfänglich hatte ich geglaubt, nach wenigen einleitenden Worten zum Begriff der Gerechtigkeit in die zeitgenössische Debatte springen zu können, die mit John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit einsetzt. Aber schon bald wurde mir klar, dass ich bei aller Bewunderung für Rawls’ Werk seinen Umgang mit den begrifflichen Grundlagen unzulänglich fand. In dieser Hinsicht scheint Rawls die Diskussion eher ungut geprägt zu haben. Heute schreiben alle möglichen Autoren über »Gerechtigkeit«, aber kaum einer begründet eingehend, warum das der beste Begriff für das ist, was er sagen will: zu Anerkennung, zu Armutsbekämpfung, zu Freiheitsrechten, zu Gemeinschaft, zu demokratischer Selbstbestimmung und so weiter.

Weil mir das unbefriedigend schien, fand ich mich unversehens in begriffliche Fragen verwickelt. Und da sie beim Schreiben schließlich einen immer größeren Raum einnahmen, habe ich mich zu einer Zweiteilung entschlossen: Um die heutigen Debatten fundierter nachzeichnen zu können, wird ihnen ein eigener Teil zu den theoretischen Grundlagen vorangestellt. Die Darstellung beginnt mit der allgemeinen Bestimmung, gerecht sei, wenn jeder bekommt, was ihm zukommt. (Und jede natürlich, aber dass auch Frauen gemeint sind, ist ein so grundlegendes Gebot der Gerechtigkeit, dass es hier als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Die Lesbarkeit soll Vorrang haben vor dem Versuch, die Sprache von jeder geschichtlich bedingten politischen Unkorrektheit zu reinigen.)

Die Bestimmung scheint wenig bis nichts zu besagen. Und doch verweist sie, wie weiter gezeigt werden soll, in einem formalen Sinne auf Gleichheit. Eben das ist die These des Aristoteles, der darum der (gar nicht so heimliche) Held des ersten Buchteils ist. Aristoteles war allerdings noch nicht gewillt, auch substanziell von einer Gleichheit aller, einfach als Menschen, auszugehen. Dieses substanzielle Gleichheitsverständnis kennzeichnet das Gerechtigkeitsdenken unserer Tage. Es steckt nicht schon im Begriff der Gerechtigkeit. Aber an dessen Leitfaden lässt sich vernünftig nachvollziehen, wie wir zu unserem Gleichheitsverständnis gelangt sind.

Keine Nachzeichnung der zeitgenössischen Diskussionen kommt natürlich um das Hauptwerk von Rawls, die Theorie der Gerechtigkeit, herum. Rawls hat das in der Neuzeit unter Fragen nach Sicherheit, Freiheit oder Nutzenmaximierung eher verschüttete Gerechtigkeitsthema wieder freigelegt, indem er den Liberalismus mit dem ›aristotelischen‹ Anliegen gerechter Verteilung verknüpft hat.1 Ich deute Rawls’ Theorie als egalitaristisch und frage danach, welches Gleichheitsverständnis wohl das beste ist. Rawls hat hier mit seinem Vorschlag, wir sollten in Unkenntnis der eigenen Stellung sogenannte Grundgüter verteilen, methodische wie inhaltliche Einwände provoziert. Und er hat erneut zu der Frage Anlass gegeben, von der der erste Teil des Buchs wesentlich handelt: Warum eigentlich sollten wir Gerechtigkeit überhaupt als Gleichheit verstehen?

Eine weitere Frage, die diese Einführung aber nur noch anreißt, gilt der Reichweite der Gerechtigkeit. Das herkömmliche Gerechtigkeitsdenken, angefangen mit Aristoteles, ist zugeschnitten auf eher abgeschlossene Gemeinwesen. Was aber, wenn wir Gerechtigkeit heute nur mehr global verwirklichen können? Ich bin davon überzeugt, dass das so ist. Welchen erkenntnisfördernden Sinn, welches empirische Recht die Unterstellung gesellschaftlicher Abgeschlossenheit bislang auch gehabt haben mag: Die moralische Gleichwertigkeit aller Menschen konfrontiert uns heute auch direkt mit menschheitsweiten Verpflichtungen der Gerechtigkeit. Das sei zum Abschluss wenigstens skizzenhaft gezeigt.

Diese Einführung beansprucht keine Neutralität. Sie vertritt die Ansicht eines begrifflich begründeten Zusammenhangs von Gerechtigkeit und Gleichheit. Und sie verteidigt das sogenannte Verteilungsparadigma, das heute heftiger Kritik, etwa aus Kreisen der Kritischen Theorie, ausgesetzt ist. So hoffe ich, einem Prinzip dieser Reihe zu entsprechen, dem gemäß der Verfasser seinen eigenen Standpunkt markieren, die eigene Perspektive herausstellen, die eigene Handschrift kenntlich machen darf. Über Theorien der Gerechtigkeit ist Einigkeit ohnehin nicht zu erwarten. Das Beste, was eine Einführung bieten kann, ist selbst eine Art von Gerechtigkeit: der Darstellung und Diskussion sinnvoll ausgesuchter Argumente. Auch wer Ansichten vertritt, die nicht diejenigen des Verfassers sind, sollte sie doch in der hier vorgestellten Lesart fair gedeutet finden.

Beim Schreiben dieses Buchs habe ich von den Diskussionen in meiner gleichnamigen Vorlesung und in meinem Colloquium Politische Theorie und Philosophie an der Freien Universität Berlin ungemein profitiert. Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern sei dafür herzlich gedankt. Ein besonderer Dank gilt wie immer meiner ersten Leserin Sabine Witt-Ladwig. Sie hat das gute Auge für die Lesbarkeit meiner Texte.

Erster Teil: Theoretische Grundlagen

1. Begriffliches

1.1 Zum Begriff der Gerechtigkeit

(a) Jedem, was ihm zukommt: Eingangs hatte ich gesagt, mit Gerechtigkeit sei gemeint, dass jeder bekommt, was ihm zukommt. Das ist eine Antwort auf die begriffliche Frage: Was versteht ein beliebiger verständiger Sprecher unter »Gerechtigkeit«? Gibt es einen einheitlichen Begriff, so meinen verschiedene Wortverwender, auch wenn sie inhaltlich nicht einer Meinung sind, grundsätzlich dieselbe Sache. Der Begriff ist das Verbindende in der Vielfalt der korrekten Gebrauchsweisen eines Wortes. Es ist daher kein Nachteil, wenn er ziemlich formal bleibt. Nichtssagend sollte er allerdings auch nicht sein: Ein Begriff muss uns irgendwelche Unterscheidungsmöglichkeiten geben, die wir ohne ihn nicht hätten. Was steckt in der Aussage, gerecht sei, wenn jeder bekommt, was ihm zukommt?

Dieser begriffliche Vorschlag ist sehr alt. Platon hat ihn dem Dichter Simonides zugeschrieben.2 Eine einflussreiche Formulierung hat Ulpian, ein römischer Rechtsgelehrter aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert, für ihn gefunden. Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi: Die Gerechtigkeit ist der beständige und dauerhafte Versuch, jedem sein Recht zukommen zu lassen.3 Dass es um das Recht oder um Rechte geht, macht deutlich, dass die Gerechtigkeit von gültigen Ansprüchen handelt.4 Die Formulierung hat allerdings den Nachteil, dass sie die negative Seite der Verteilung von Übeln unterschlägt. Wir fragen ja auch, ob ein Tadel oder eine Strafe gerecht sei oder wie wir die unvermeidlichen Lasten des sozialen Lebens verteilen sollten. Rechte dagegen sind immer Ansprüche (im Hinblick) auf Güter.

Alternativ könnte man darum formulieren: Jeder soll bekommen, was er verdient, denn das lässt sich sinnvoll auch von Übeln sagen. Aber »verdienen« ist nicht eindeutig. Wir behaupten manchmal, jemand habe sich etwas verdient, etwa ein Lob oder ein Einkommen, weil er etwas geleistet habe. Auch Tadel und Strafen muss man sich »verdienen«, nur eben mit mangelnder, mangelhafter oder kriminell verkehrter ›Leistung‹. Aber wir sagen manchmal auch, jemand verdiene etwas, weil er bestimmte Bedingungen erfüllt, ob das nun Leistungen sind, Bedürfnisse oder was auch immer. Im zweiten Fall heißt »verdient« einfach so viel wie »sollte haben«, und der Grund dafür bleibt offen, während im ersten Fall ein ganz bestimmter Grund, die Leistung, genannt wird.5 Um diese Unklarheit zu vermeiden, ist die etwas ungewöhnliche Formulierung vorteilhaft, jemandem komme etwas zu. Die Ausdrucksweise ist neutral gegenüber Gütern und Übeln und sie ist frei von der Zweideutigkeit, die dem Begriff des Verdienens anhaftet.

Damit jemandem etwas zukommen kann, müssen sachliche Gesichtspunkte für seinen Anspruch vorliegen. Das können etwa Bedürfnisse sein oder Leistungen im engeren Sinne beachtenswerter Bemühungen. Den Gesichtspunkten entsprechen Grundsätze der Gerechtigkeit, zum Beispiel »Jedem nach seinen Bedürfnissen« oder »Jedem nach seiner Leistung«. Aus den Grundsätzen gehen die gerechtigkeitserheblichen Gesichtspunkte hervor, auf deren Beachtung Menschen ein Anrecht haben.

Warum aber müssen die Gesichtspunkte sachliche sein? Ein Schlaumeier könnte vorschlagen, der Standard solle lauten: »Alles für mich«. Dass ich ich bin, scheint dann ein gerechtigkeitserheblicher Gesichtspunkt zu sein. Aber was würde aus diesem Vorschlag folgen! Mit dem Wörtchen »ich« kann ein beliebiger Sprecher auf sich selbst Bezug nehmen. Jeder kann darum auch den Grundsatz »Alles für mich« auf sich selbst beziehen. Dessen allgemeine Anwendung würde offenbar nichts anderes bedeuten, als dass jeder zu kriegen versucht, was er kriegen kann – mit dem Ergebnis eines Krieges aller gegen alle. Das kann aber mit Gerechtigkeit nicht sinnvoll gemeint sein: Sie ist vielmehr eine Alternative dazu, dass jeder um seine Anteile kämpfen muss.

Darauf könnte der Schlaumeier erwidern, gemeint sei vielmehr, dass eine ganz bestimmte Person alles bekommen solle, also etwa »Alles für mich, Bernd Ladwig, geboren am 7. August 1966 in Köln, heute wohnhaft in Berlin-Kreuzberg«. Oder: »Ich, der ich hier und jetzt am Computer sitze und diesen Satz eintippe, sollte alles kriegen.« Diese Person, zureichend spezifiziert, gibt es tatsächlich nur einmal. Aber natürlich könnte sofort jeder andere fragen, warum nicht vielmehr er alles bekommen sollte, denn ihn gebe es ja auch nur einmal. Jeder von uns hat einen Eigennamen, jeder ist einzig auf der Welt. Wiederum wäre der Vorschlag, gerade ich sollte alles bekommen, eine Einladung an alle anderen, für sich genau das Gleiche zu reklamieren.6 Aus diesem Grund haben Eigennamen oder dergleichen in Grundsätzen der Gerechtigkeit nichts verloren. Ein Grundsatz der Gerechtigkeit muss so ausgedrückt werden können, dass Eigennamen oder Ausdrücke wie »ich«, »hier« und »jetzt« in ihm nicht vorkommen. Er muss die Bedingung formaler Allgemeinheit erfüllen.7

Aber hat es in der Geschichte nicht auch Grundsätze mit Eigennamen gegeben, zum Beispiel »Der Staat bin ich«, wie König Ludwig der Vierzehnte von Frankreich sagte? Einen solchen Anspruch – oder eine solche Anmaßung – hat es tatsächlich gegeben, aber nur mit Bezug auf ein Amt oder eine besondere soziale Würde. Ludwig der Vierzehnte mochte sich einbilden dürfen, ihm stehe als König alles Mögliche zu. Aber dass gerade er, Ludwig, der König war, war sozusagen ein glücklicher Zufall. Und hätte Ludwig die Entdeckung machen müssen, dass er gar nicht der rechtmäßige Thronfolger sei, so hätte er mit seiner Königswürde ›gerechterweise‹ auch seine Ansprüche an einen anderen abtreten müssen.

Ein sachlich begründeter Anspruch, den jeweils nur ein einziger Mensch erheben darf, ist darum etwas anderes als ein Anspruch, den dieser Mensch sich selbst auf den Leib schneidert. Ersteres ist eine formale Möglichkeit der Gerechtigkeit, Letzteres nicht. Der Grundsatz »Alles für den König« erfüllt die Bedingung formaler Allgemeinheit, weil »König« für eine unabhängig von Eigennamen bestimmbare Stellung steht. Der Grundsatz »Alles für mich, Ludwig, weil ich Ludwig bin« erfüllt die Bedingung nicht.

(b) Gleiches gleich behandeln: Formal allgemeine Standards sind ein notwendiges Merkmal der Gerechtigkeit. Ihre unparteiische Anwendung ist ein weiteres. Eine beliebte Versinnbildlichung dieses Gedankens ist die Binde vor den Augen: Justitia, die Figur, welche die Gerechtigkeit darstellt, sieht nicht, über wen sie urteilt. Sie nimmt nur die Gewichte der widerstreitenden Ansprüche wahr, die sich der Sache nach zur einen oder zur anderen Seite neigen. Justitia wendet die geltenden Standards ohne Ansehen der Personen an. Alles andere wäre willkürlich, und Gerechtigkeit ist unvereinbar mit Willkür.

Man kann das formale Gebot der Willkürfreiheit auch so ausdrücken: »Behandle gleiche Fälle immer gleich.«8 Das ist nur eine andere Formulierung für das Gebot der unparteiischen Anwendung allgemeiner Standards. Die Standards sagen uns, welche Gesichtspunkte für die Gerechtigkeit bedeutsam sind. Stehen zwei Personen unter einem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit genau gleich da, so wäre es unter sonst gleichen Umständen willkürlich, sie ungleich zu behandeln. Sollte mir etwas anderes zukommen als dir, dann deshalb, weil irgendein sachlicher Umstand, der für die Gerechtigkeit zählt, uns unterscheidet. Und wenn mir mehr von einem Gut zusteht als dir, weil ich mehr geleistet habe, dann steht jedem genauso viel zu wie mir, der ebenso viel geleistet hat wie ich. Die Leistung ist dann der für die Gerechtigkeit erhebliche Umstand, der Menschen verbindet oder trennt. Dabei folgt die Gleichheit der Ungleichheit immer auf dem Fuß.9 Jeder Umstand, der eine Ungleichheit zwischen zwei Gruppen begründet, begründet innerhalb jeder Gruppe automatisch eine Gleichbehandlung.

Das Beispiel der Leistung scheint auch zu zeigen, dass zur Gerechtigkeit nicht nur die gleiche Behandlung gleicher, sondern auch die ungleiche Behandlung ungleicher Fälle gehört. Tatsächlich wird beides oft in einem Atemzug genannt. Aber die ungleiche Behandlung ungleicher Fälle ist in Wahrheit kein eigener (Teil-)Grundsatz der Gerechtigkeit. Sie ist nur eine mögliche Konsequenz der Gleichbehandlung gleicher Fälle. Nehmen wir die allgemeine Regel »Für jede Arbeitsstunde zehn Euro«. Peter arbeitet zehn Stunden, Petra neun. Der Unternehmer aber zahlt beiden ohne weitere Begründung neunzig Euro. Damit ist die Regel verletzt: Peter hat eine Stunde umsonst gearbeitet oder er hat – was hier das Gleiche bedeutet – für jede Arbeitsstunde nur neun Euro erhalten. Es ist, als habe Justitia die Binde abgenommen, um eine ganz bestimmte Person zu benachteiligen.

Gerechterweise müssten die Löhne zweier Personen in genau dem Verhältnis zueinander stehen wie die Leistungen, die ihre Lohnansprüche begründen. Dieses Gebot der verhältnismäßigen oder proportionalen Gleichheit folgt einfach daraus, dass jedem Arbeitenden für jede Arbeitsstunde zehn Euro zustehen. Aristoteles hat für diesen Gedanken der Gleichheit als Verhältnismäßigkeit klassische Worte gefunden: »Das Gerechte setzt also mindestens vier Elemente voraus: die Menschen, für die es gerecht ist, sind zwei, und die Sachen, auf die es sich bezieht, sind ebenfalls zwei. […] Wie sich die Sachen verhalten, so werden sich auch die Menschen verhalten. Sind diese nicht gleich, so werden sie auch nicht Gleiches erhalten. Daher kommen die Streitigkeiten und Prozesse, daß entweder Gleiche Ungleiches oder Ungleiche Gleiches haben und zugeteilt erhalten.«10

Aber nicht immer ist proportionale Gleichheit das von der Gerechtigkeit Verlangte. Zu unserem modernen Gerechtigkeitsverständnis gehört die Rechtsgleichheit aller Menschen. Dieser Gedanke war Aristoteles noch nicht geläufig, während wir ihn heute für geradezu selbstevident halten. Der Grundsatz »Jedem das Seine« muss also nicht, wie manche argwöhnen, auf eine ungleiche Verteilung hinauslaufen. Dass er es bei Aristoteles tut, liegt daran, dass dieser von einer ungleichen angeborenen ›Würdigkeit‹ der Menschen überzeugt war. Der Grundsatz menschenrechtlicher Gleichheit sieht dagegen für den Bereich seiner ausdrücklichen Geltung keine Ungleichen vor. Und über diesen Bereich hinaus? Verlangt er etwa, dass wir Tiere geringer schätzen als Menschen? Darüber schweigt er sich aus; sowohl eine Ungleichbehandlung als auch eine Gleichbehandlung nichtmenschlicher Tiere sind formal mit ihm verträglich.

Proportionale Gleichheit ist darum ein Sonderfall, der sich aus Regeln wie der auf Arbeitsstunden beruhenden Entlohnung ergibt und bei anderen Regeln keine Anwendung findet. Das Einzige, was dann mit dem angeblichen Teilgrundsatz »Behandle Ungleiches ungleich« noch gemeint sein mag, ist die Forderung, an jeden Fall genau den Gerechtigkeitsstandard anzulegen, der zu ihm passt. Man darf also nicht zum Beispiel einen Einbrecher wegen Scheckbetrugs verurteilen und einen Scheckbetrüger wegen Einbruchs, auch wenn auf beide Delikte zufällig die gleiche Strafe steht. Jedenfalls aber können wir immer sagen, gleiche Fälle sind gleich zu behandeln, denn das heißt nur, dass eine Regel gilt und nicht Willkür waltet. Die unparteiische Anwendung einer Regel auf alle für sie erheblichen Fälle ist ein formaler Grundsatz der Gerechtigkeit. Er folgt direkt daraus, dass jeder bekommen soll, was ihm zukommt. Er ist im Begriff der Gerechtigkeit enthalten.

(c) Gerechte Normen: Die Zerlegung eines Begriffs auf seinen Gehalt hin wird auch Begriffsanalyse genannt; sie gilt gemeinhin als originäre Aufgabe der Philosophie. Indem ein Philosoph sagt, was in einem Begriff als solchem steckt, nimmt er noch nicht wertend oder vorschreibend zu ihm Stellung. Analysen eines Begriffs sind dem Anspruch nach frei von Werturteilen und normativ neutral. Manche Begriffe allerdings haben eine werthafte Bedeutung, und es ist ihr Sinn, uns zu sagen, was wir tun oder lassen sollen. Zu diesen Begriffen gehört die Gerechtigkeit. Natürlich können wir sie uns sozusagen von außen ansehen und feststellen: »Wenn du gerecht sein willst, musst du gleiche Fälle immer gleich behandeln.« Die Gerechtigkeit scheint dann nur den etwas anzugehen, der zufällig gerecht sein will. Aber so reden wir gewöhnlich nicht.

Wer ausruft: »Das ist eine schreiende Ungerechtigkeit!«, wird dies wohl nicht unberührt von starken Gefühlen tun. Typischerweise empören wir uns über andere, wenn wir sie einer Ungerechtigkeit bezichtigen. Und an unserer Empörung würde sich auch nichts ändern, wenn jemand erwiderte: »Ich habe nun mal mit Gerechtigkeit nichts am Hut.« Das würde uns wohl eher noch mehr in Rage versetzen. Wer als Teilnehmer am gewöhnlichen Leben, und nicht als Begriffsanalytiker oder als sozialwissenschaftlicher Beobachter, von Gerechtigkeit redet, meint damit etwas Vorzugswürdiges, und er will wissen, was jeder von uns tun oder lassen sollte. Das ist damit gemeint, dass »Gerechtigkeit« ein werthafter Begriff ist, der von Normen handelt.

Normen sind so etwas wie Aufforderungen: Sie sagen uns, wie wir handeln oder auch denken sollen. Normen der Gerechtigkeit fordern uns dazu auf, so zu handeln, dass möglichst jeder bekommt, was ihm zukommt. Und diese Normen sind von besonderer Art, wir finden es nicht unklug, sondern empörend, sie nicht zu beachten. Für solche Normen haben wir das Wort »moralisch«. Die Gerechtigkeit gilt gemeinhin als zentraler Teil der Moral, manche halten sie heute sogar für deren Inbegriff.

Im ursprünglichen Sinne des Wortes allerdings heißt »gerecht« einfach: den bestehenden Normen gemäß. »Gerecht« leitet sich wortgeschichtlich ab vom althochdeutschen gireht, was so viel bedeutet wie »passend« oder »richtig«,11 und wer gerecht handelt, handelt richtig nach Maßgabe der tatsächlich geltenden Grundsätze und Regeln. Auch heute noch wird das von Menschen gemachte und angewandte Recht manchmal als weltliche Instanz der Gerechtigkeit bezeichnet, im Unterschied zur höheren Gerechtigkeit, die von Gott kommen mag. Richter sind dazu angehalten, die geltenden Gesetze unparteiisch anzuwenden. Sie müssen zum Beispiel davon absehen, wie sympathisch oder unsympathisch ihnen die Menschen sind, über die sie zu Gericht sitzen, denn Sympathie und Antipathie sind keine rechtlich erheblichen Gesichtspunkte.

Aber auch die Gesetze selbst könnten gerecht oder ungerecht sein. Ein gerechtes Gesetz ist eines, das die Zustimmung aller verdient, die es befolgen sollen. Wir müssen dazu nicht annehmen, das gerechte Gesetz komme von Gott. Es muss nur angemessen gerechtfertigt sein. Alle, die es beachten sollen, müssen dafür gute moralische Gründe haben. Auch das gehört zum Begriff der Gerechtigkeit, noch diesseits der vielen verschiedenen inhaltlichen Vorstellungen, die sich Menschen von ihr gemacht haben und machen.

Dann aber kann der formale Grundsatz der unparteiischen Anwendung allgemeiner Standards noch nicht das letzte Wort über Gerechtigkeit gewesen sein (womit auch dieses Buch sehr kurz geraten wäre). Das wird deutlich, wenn wir uns einige mögliche Anwendungen dieses Grundsatzes vorstellen: »Bediene Blonde am Gemüsestand immer zuerst.«; »Bestrafe Diebstahl immer mit dem Tode, Mord mit zwei Wochen Freiheitsentzug.«; »Erschlage alle Brillenträger.« All das sind Normen, die Menschen durchaus unparteiisch, ohne Ansehen der Personen, beachten könnten. Aber die erste Norm wäre, außer vielleicht unter sehr speziellen Umständen – Blonde gelten als Gesandte der Götter –, sachlich abwegig, die zweite und die dritte wären infam. Eben so lesen wir auch den Spruch »Jedem das Seine« über den Toren des Konzentrationslagers Buchenwald: nicht als Beschwörung der Gerechtigkeit, sondern als Verhöhnung der Gefangenen.

Die unparteiische Anwendung formal allgemeiner Normen ist darum eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für gerechtes Handeln. Wer eine substanziell schlechte Regel ohne Ansehen der Personen befolgte, täte dennoch etwas Ungerechtes. Wir wüssten wahrscheinlich gar nicht ohne Weiteres zu sagen, was ungerechter wäre: wenn jemand die Regel in allen Fällen beachtete oder wenn er willkürliche Ausnahmen von ihr machte. Wer willkürliche Ausnahmen macht, kann natürlich nicht gerecht handeln. Doch die Willkür muss nicht in der Handlungsweise liegen. Sie kann sich auf die Regeln selbst übertragen haben. Nehmen wir die zum Gesetz erhobene Forderung, alle Brillenträger totzuschlagen: Wer willkürliche Ausnahmen von ihr machte, verstieße gegen das formale Grundgebot der Gerechtigkeit. Aber immerhin ließe er einige Brillenträger leben. Wir hätten keinen Grund, seine willkürliche Handlungsweise gerecht zu nennen. Doch schlimmer als die Willkür wäre wohl die sture Befolgung der mörderischen Regel. Ein korrupter Nazi war nicht unbedingt noch übler als ein Nazi von fanatischer Konsequenz.

Ob jemand geltende Normen beachtet oder willkürliche Ausnahmen macht, kann man feststellen, ohne darum etwas Normatives zu sagen. Hier handelt es sich einfach um eine Tatsachenfrage, bezogen auf einen Rahmen von Vorschriften. Ob die Vorschriften selbst aber willkürlich sind, das kann nur normativ geklärt werden. Wir müssen uns dazu ansehen, was eine moralische Begründung von Normen ausmacht. Lässt sich auch darüber etwas Begrifflich-Allgemeines sagen, das nicht schon eine ganz bestimmte inhaltliche Moralvorstellung voraussetzt? Der Raum moralischer Rechtfertigungen müsste dann für verschiedene Inhalte offen, aber zugleich auch begrenzt sein. Er dürfte nicht jeden argumentativen Zug zulassen.

Um anschaulich zu machen, dass das so ist, mag eine kleine Phänomenologie hilfreich sein. Sie setzt bei einer Normverletzung ein, die wir wohl alle sogleich als Ungerechtigkeit wahrnehmen. Die Phänomenologie soll entfalten, was ich beiläufig bereits behauptet habe: Die Gerechtigkeit ist eine Alternative dazu, dass jeder um seine Anteile kämpfen muss; sie ist darum unvereinbar mit Willkür. Die besondere Deutung, die dieser Gedanke in der vorliegenden Darstellung hat, mag schon zweifelhafter sein. Denn sie kann unmöglich beanspruchen, etwas in jeder Hinsicht Unangreifbares zum Begriff der Moral zu sagen. Das ist ganz offenbar bis heute keinem gelungen, und ganz sicher wird es dieser Einführung nicht erstmals gelingen. Mir genügt es deshalb vollkommen, wenn der Leser mein Moralverständnis nachvollziehbar findet. Es ist das Verständnis, auf dem dieses Buch basiert, und darum sei es hier in seinen Grundzügen expliziert.

1.2 Zum Begriff der Moral12

(a) Eine kleine Phänomenologie: Stellen wir uns vor, wir stehen in einer Warteschlange. Wir warten seit Stunden, doch nun ist der Eingang nahe. Da tritt eine Gruppe Bewaffneter heran. Sie drängeln sich vor und bedrohen alle mit Gewalt, die dagegen sein könnten. Irgendwelche besonderen Ansprüche machen sie nicht geltend. Sie zeigen einfach die Instrumente. Da sie die Stärkeren sind, kommen sie zum Ziel. Stumme Empörung folgt ihrem Vorrücken, nur die Furcht verhindert, dass daraus Gegenwehr wird. Die Furcht verrät, wie wir die Kräfteverhältnisse sehen. Was verrät die Empörung?

Erstens etwas über unser Wollen: Wir möchten nicht grundlos zurückgesetzt und bedroht werden. Wenn es uns möglich wäre, würden wir die Drängler zurückstoßen und zurechtweisen, vielleicht sogar bestrafen. Das zeigt zweitens, dass wir den Dränglern übelwollen. Wir betrachten die Angelegenheit nicht als lässlich, sondern empfinden, dass etwas Gravierendes vorgefallen ist. Wer sich vordrängelt und andere mit Gewalt bedroht, verdient eine sehr heftige Reaktion. Er sollte zu spüren bekommen, für wie erheblich wir seine Verfehlung halten. Die Heftigkeit unserer Antwort sollte dem Schweregrad seiner Verfehlung entsprechen. Nichtige Verfehlungen rechtfertigten überhaupt keinen Bestrafungswunsch.

Der Bestrafungswunsch entzündet sich drittens an Handlungen, aber er zielt auf die Handelnden. Er verrät ein tendenziell totalisierendes Urteil über Personen.13 Indem wir moralisch verurteilen, was eine Person getan hat, neigen wir dazu, die Person zu verurteilen. Wir meinen, die Handlung habe etwas Verurteilenswertes an der Person selbst bloßgelegt. Diese habe sich jedenfalls situativ als ›schlechthin schlecht‹ erwiesen: als schlecht nicht in dieser oder jener Hinsicht, etwa als Koch oder als Verkäuferin, sondern als Handelnde überhaupt.

Indem wir die Drängler gedanklich verurteilen, unterstellen wir viertens, dass diese frei gehandelt haben. Wir halten sie nicht für tollwütige Tiere, sondern sehen in ihnen urteilsfähige Subjekte. Darum habe ich eben vorausgesetzt, dass unser Urteil ein Urteil über Personen ist. Nur Personen sind zurechnungsfähig, weil sie im Handeln innehalten und es durch eigenes Nachdenken lenken können. Nur sie können darum sinnvollerweise tendenziell totalisierende Vorwürfe auf sich ziehen

Unser Übelnehmen erschöpft sich fünftens nicht in egozentrischem Zorn. Vielleicht erklärt die Wut über die abermals verlängerte Wartezeit einen Teil unserer Affektivität. Doch wir empören uns. Was uns empört, ist nicht zuletzt, dass andere zu kurz kommen. Für die Einstufung unserer Reaktion ist nicht wesentlich, dass auch wir selbst unter diesen anderen sind. Wir empören uns, weil jemandem angetan wurde, was niemandem angetan werden darf. Empörung ist ein wesentlich »stellvertretender Affekt«.14 Wenn er am Platz ist, so ohne Ansehen der Person. Wir dürften uns in eigener Sache empören, wenn wir selbst das Opfer wären. Aber ebenso müssten wir uns empören, wenn irgendein anderer betroffen wäre.

Daher sechstens: Wer sich empört, glaubt eine gültige Norm verletzt. Er meint einen Regelverstoß wahrzunehmen, der nicht sein dürfte. Diese Meinung schließt eine Selbstbindung ein. Wer sich empört, weil andere eine Regel verletzen, müsste es auch empörend finden, wenn er selbst sie verletzte. Er müsste sich dann schuldig fühlen. Wie der fremdbezogene Affekt der Empörung ist der selbstbezogene Affekt der Schuld in sich normativ. Auch Schuldgefühle mögen faktisch ausbleiben, wo sie angebracht wären. Wer sich aber einer Empörung hingibt, macht sich damit normativ angreifbar, und die gefühlsmäßige Entsprechung seiner Angreifbarkeit ist die Schuld. Das Schuldgefühl gibt einem Normverletzer zu verstehen, dass er die verletzte Norm selbst verinnerlicht hat. Wer dieses Gefühl grundsätzlich nicht will, muss sich außerhalb aller moralischen Normen aufstellen. Er verliert damit zugleich das Recht auf die Wonnen der Entrüstung.

Indem wir die Drängler verurteilen, unterstellen wir schließlich siebtens, dass sie um die Falschheit ihrer Handlungsweisen wissen mussten. Niemand kann in vorwerfbarer Weise gegen eine Norm verstoßen, die er nicht kennen konnte. Ebenfalls nicht vorwerfbar sind Verstöße gegen Normen, die der Normverletzer zwar kannte, deren Richtigkeit er jedoch beim besten Willen nicht einzusehen brauchte. Von moralischen Normen wollen wir, dass die Menschen sie in ihr Gewissen aufnehmen. Ein Gewissen sollte haben, wer wenigstens eine Norm verinnerlicht haben sollte. Und weil wir erwarten, dass moralische Normen von allen verinnerlicht werden, erwarten wir auch, dass sie für alle gültig sind und alle dies einsehen können.

(b) Positionsunabhängig teilbare Gründe: Soweit die kleine Phänomenologie. Wir können einige allgemeine Ergebnisse festhalten und daraus weitere Schlüsse ziehen. Ein erstes Merkmal moralischen Urteilens ist ein Wollen. Möglicher Ausdruck des Wollens ist eine Aufforderung, ein Imperativ: »Tue dies, lasse jenes!« Ein zweites Merkmal ist die Erheblichkeit des Gewollten: Moralische Reaktionen stellen sich ein, wo wichtige Güter auf dem Spiel zu stehen scheinen. Das dritte und vierte Merkmal besagen zusammen: Verletzt eine Person ein moralisch erhebliches Gut, so muss sie mit einer tendenziell totalisierenden Verurteilung rechnen. Das fünfte, sechste und siebte Merkmal besagen zusammen: Wer sich empört, gibt eine Selbstbindung an Normen zu erkennen, von denen er unterstellt, dass ein Beliebiger sich an sie binden sollte, weil sie für alle begründet sind.

Das müssen keine universalistischen Normen sein. Die Menge der Beliebigen könnte kleiner sein als die Menge aller menschlichen Personen. Mit ›Beliebigen‹ sind beliebige moralische Subjekte gemeint. Moralische Subjekte sind alle, von denen wir normativ erwarten dürfen, dass sie moralische Normen verinnerlichen und befolgen. Die meisten Moralgemeinschaften in der Geschichte haben Gruppenfremden keine oder nur mindere moralische Kompetenzen zugetraut. Auch mussten die Normen nicht allen Menschen, ob Personen oder nicht, zugute kommen. Manche Menschen finden es noch heute empörend, dass einige Normen für alle Menschen gedacht sind. Sie lehnen dies als gotteslästerlich oder als unaristokratisch ab. Das allein disqualifiziert sie noch nicht als moralisch Urteilende. Disqualifizierend wäre erst die Entdeckung, dass ihre Selbstbindung an die Normen scheinhaft, die Empörung folglich gespielt oder verlogen ist.

Ebenso wenig müssen die Normen egalitaristisch sein. Nicht nur Normen, die im gleichmäßigen Interesse aller liegen, kommen als moralisch bindend in Betracht. Vielleicht besagt eine gültige Norm der Gerechtigkeit, dass die Königin immer den Vortritt verdient. Das aber müsste ein Beliebiger einsehen sollen. Es genügte nicht, dass die Königin das so sieht. Die besondere Position der Königin gibt nicht den Ausschlag für das gültige Urteil über die besondere Position der Königin.

Moralische Gründe sind nicht Gründe, die nur für einige gelten. Sie sind der mögliche Besitz aller Einsichtsfähigen. Sie sind der mögliche Besitz aller, die die fraglichen Normen verinnerlichen sollen. Wäre das Vorrecht der Königin moralisch begründet, so müsste auch ein verständiger Bettler dies einsehen. Er müsste es ebenso einsehen wie die Königin, deren Vorrecht infrage steht. In dieser fundamentalen Hinsicht der Begründung des Unterschieds von Königin und Bettler sind Königin und Bettler gleich. Beriefe sich die Königin hingegen auf ihre überlegene Sanktionsmacht, so könnte sie den verständigen Bettler nur äußerlich beeindrucken.

Die Moral, die sich hier abzeichnet, ist ein System von Normen, für das positionsunabhängig teilbare Gründe sprechen. Auch Gründe für besondere Positionen müssen positionsunabhängig teilbar sein. Alle moralischen Subjekte müssen eine gültige Norm gleich welchen Inhalts einsehen können. Darin besteht die oft bemerkte Allgemeinheit der Moral.15 Sollen alle eine Norm beachten, die nur einige einsehen können, so bleibt die Norm für alle anderen ohne innere Verbindlichkeit. Wenn sie ihnen gleichwohl imponiert, so als Zwangsnorm.

Die positionsunabhängige Teilbarkeit von Gründen trennt moralische Normen von Zwangsnormen. Zwangsnormen sollten höchstens insofern befolgt werden, als sie durch Gewaltmittel gedeckt sind. Das Sollen ist dabei ein Sollen der Klugheit. Es wird gegenstandslos, wenn die Deckung durch die Gewaltmittel entfällt. Jean-Jacques Rousseau hat dafür klassische Worte gefunden: »Wenn ich nur die Stärke betrachtete und die Wirkung, die sie hervorbringt, würde ich sagen: Solange ein Volk zu gehorchen gezwungen ist, und gehorcht, tut es gut daran; sobald es das Joch abschütteln kann und es abschüttelt, tut es noch besser …«16 Da Normgeber und Normempfänger gegensätzliche Interessen haben, fallen auch die Gründe für die Normbeachtung zwischen beiden Gruppen auseinander. Die einen beachten die Normen, weil sie ihnen Vorteile bringen, die anderen, weil sie andernfalls bestraft würden. In subtileren Fällen gelingt es Gewalthabenden immerhin, Zwangsnormen wie moralische Normen aussehen zu lassen. Die zwanglose Akzeptanz der Normen beruht dann auf einer Täuschung der Normadressaten. Wird die Täuschung enttarnt, tritt die Willkür in den Normen zutage.

Im Falle unserer bewaffneten Drängler gab es nichts zu verschleiern. Die Mitglieder der Gang traten auch nicht auf wie Könige, sie pochten nicht auf angeborene Vorrechte. Sie wussten, dass keiner ihnen dies abgekauft hätte. Das Einzige, was sie hätten vorbringen können, hätte auch für alle anderen gesprochen: Sie wollten lieber früher als später drankommen. Dieses Interesse trennte die Gangmitglieder nicht von den geduldig Wartenden.

Ein Unterschied immerhin ist offensichtlich. Die Drängler haben sich als die Stärkeren herausgestellt. Ist der Unterschied aber moralisch erheblich? Folgt Recht aus Macht? Wiederum hat Rousseau die beste Antwort gegeben, eine negative:

»Denn sobald Stärke Recht schafft, ändert sich mit der Ursache die Wirkung; jede Stärke, die die erste übersteigt, folgt ihr im Rechte nach. Sobald man ungestraft ungehorsam sein kann, kann man es auch rechtmäßigerweise sein; und weil der Stärkere auch immer recht hat, handelt es sich nur darum, es so einzurichten, daß man der Stärkere ist. […] Man sieht also, daß dieses Wort ›Recht‹ der Stärke nichts hinzufügt; es besagt hier überhaupt nichts.«17

Wäre das Recht des Stärkeren ein echtes Recht, die Wendung also nicht ironisch zu nehmen, so wäre das Wort »Recht« entbehrlich. Es stünde dann nicht für eine besondere moralische Institution.

Niemand verdient moralisch mehr als ein anderer, weil er der Stärkere ist. Eine Welt, in der allein die Machtmittel über das Wohlergehen entschieden, wäre eine Welt der Willkür. Moral und Gerechtigkeit sind das Gegenteil von Willkür. Sie bilden ein System von Grundsätzen und Regeln, die ungeachtet aller Kräfteverhältnisse normativ gelten. Sie bilden ein System von willkürfrei gerechtfertigten Normen.

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