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Moralbegründungen zur Einführung

Konrad Ott

Moralbegründungen zur Einführung

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Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
Im Internet: www.junius-verlag.de

© 2001 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Veröffentlichung der E-Book-Ausgabe Juli 2016
ISBN 978-3-96060-013-8
Basierend auf Printausgabe:
ISBN 978-3-88506-614-9
2., ergänzte Aufl. 2005

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über ›http://dnb.ddb.de‹ abrufbar.

Inhalt

1. Was sind Moralen, und was könnte Moralität sein?

2. Ebenen (Dimensionen) der Ethik und begriffliche Klärungen

3. Der Begriff der Begründung in der Ethik

4. Die Ethik Immanuel Kants

5. Die Ethik des Utilitarismus

6. Die Ethik des Kontraktualismus

7. Der Ansatz von Alan Gewirth

8. Die Diskursethik

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Über den Autor

»Moral predigen ist leicht, Moral begründen ist schwer.«

Arthur Schopenhauer

1. Was sind Moralen, und was könnte
Moralität sein?

Kaum ein Wort wird in derartig unterschiedlichen Bedeutungsweisen verwendet wie das Wort »Moral«. Das Wort hat keinen guten Klang mehr; umgangssprachlich wird es häufig mit abwertenden Konnotationen verwendet und an »Moralismus«, »moralinsauer« usw. assimiliert. Begriffsgeschichtlich bezog sich der Ausdruck »Moral« lange Zeit auf die »mores«, die in einer Gesellschaft faktisch geltenden, etablierten Sitten und Gebräuche. Später fand eine Begriffsverengung, die sich erst am Ende des 18. Jahrhunderts endgültig durchsetzte, statt. Sie markiert eine bedeutsame Differenz zwischen den Verhaltensregeln, die als Konventionen gedeutet werden, und dem, was die moralische Qualität bzw. den »(wahrhaften) moralischen Wert« einer Handlung ausmacht.

Das philosophische Nachdenken über das Problem einer Bestimmung des moralisch Guten setzt in dem geschichtlichen Moment ein, in dem der Verweis auf die Üblichkeiten als Beantwortung der Frage nicht mehr akzeptiert wird, wie man handeln und leben solle.1 Dies geschieht bereits in der Antike. Schon dort lassen sich – grob vereinfacht – drei Positionen unterscheiden: Sophistik, Skepsis und begründungsorientierte Moraltheorie.

Die antike Sophistik behauptet, daß es in moralischen und politischen Fragen darum geht, die eigene Position erfolgreich gegen andere Meinungen durchzusetzen. Hierzu dient die Rhetorik als Kunstlehre davon, wie man im Redewettstreit den Sieg davonträgt. Entscheidend ist Erfolg und nicht Wahrheit. In der Antike und der Spätantike führt das Bewußtsein moralischer Pluralität zu Formen der moralphilosophischen Skepsis. Sextus Empiricus als Vertreter der sog. pyrrhonischen Skepsis führt den Meinungsstreit der Philosophen um das, was von Natur aus »gut« sei, sowie viele Beispiele unterschiedlicher Sitten und Gebräuche an, um daraus die Skepsis anzuleiten, weil er annimmt, daß sich die vielfältigen Moralvorstellungen per se, d.h. durch ihren Widerstreit, gegenseitig widerlegen. Diese Annahme wird jedoch keiner skeptischen Prüfung mehr unterzogen. Für die Sophistik gibt es keine wesentliche Differenz zwischen Überreden und Überzeugen; für die Skepsis ist die Idee des moralisch-ethischen Begründens irrig.

Der an Begründungen interessierte Moralphilosoph, dessen prototypische und paradigmatische Gestalt Sokrates ist, versucht, im Medium argumentativer Gespräche moralische Einsichten zu gewinnen. Einsicht wird als erinnernde (anamnetische) Schau unveränderlicher Ideen gedacht, wobei die höchste Idee die des Guten ist. Für Sokrates waren ferner drei Tugenden (Einsicht, Freimütigkeit und Wohlwollen) notwendige und hinreichende Bedingungen, damit eine Übereinstimmung zwischen Sprechern als Kriterium praktischer Richtigkeit gelten konnte.2

Diese Trias von Sophistik, Skepsis und Moralphilosophie ergibt eine Konstellation, die sich – mutatis mutandis – auch in der Moderne wiederfindet und die das Begründungsproblem prägt. Mit »Ethik« wird im folgenden die philosophische Theorie des Moralischen i.w.S. bezeichnet. Es »gibt« die Ethik nicht im Singular, sondern nur in der Pluralität unterschiedlicher Ethiktheorien.3 Auch der Ethik schlagen gegenwärtig Mißtrauen und Argwohn entgegen. Soziale Bewegungen verdächtigen sie als angebliche Akzeptanzbeschaffung, während systemtheoretisch aufgeklärte Funktionseliten die angeblich verheerenden Folgen einer »Remoralisierung« ausdifferenzierter sozialer Subsysteme (wie etwa der Ökonomie) fürchten. Die Neokonservativen wiederum sehen die Gefahr einer Auflösung der verbliebenen Restbestände substantieller Sittlichkeit durch die angeblich zersetzende Kraft ethischer Reflexionen. Andere fürchten, durch berufsmäßige ethische Bedenkenträger an der Nutzung von neuen Technologien im Bereich der Bio- und Medizintechnologien gehindert zu werden. Solche Verdächtigungen sind einem naiven Ethik-Enthusiasmus vorzuziehen, der sich an wenig kenntnisreichen Vorstellungen einer »neuen Ethik« begeistert, die alles, was in Gesellschaften unseres Typs im argen liegt, zum Guten wendet. Wo die Begriffsworte derart unterschiedlich verstanden werden, kann das Verhältnis von Moral und Ethik nicht klar sein. Diese Unklarheiten schlagen auf Begründungsprobleme durch.

Der Begriff der Moralen (im Plural) wird als Terminus der beschreibenden Moralforschung (deskriptive Ethik) eingeführt. Die Moralforschung beschreibt, erklärt und analysiert mit geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Methoden vorfindliche Moralvorstellungen als soziale Tatsachen. In diesem Sinne kann man von der faktisch vertretenen Moral des Katholizismus, des Protestantismus, des Islam sowie von den Moralvorstellungen der SS und des Stalinismus sprechen. Unter dieser Perspektive ist auch die Moralauffassung, die gegenwärtig in den westlichen Industriestaaten weitgehend anerkannt wird, nur eine Moralauffassung unter mehreren, die sich u.a. durch Anerkennung der Demokratie als Staatsform, der Bürger- und Menschenrechte, durch eine permissive Grundhaltung, aber auch durch ein zunehmendes Umweltbewußtsein usw. kennzeichnet. Derartige Kennzeichnungen besagen zunächst nichts über die Richtigkeit oder Gültigkeit einer Moral.

Auch in der Moderne existieren moralische Subkulturen. Daraus ergibt sich innerhalb moderner Gesellschaften die normativ-ethische Frage nach den Verhältnissen von Wertpluralismus, den Rechten moralischer Subkulturen und einer bürgerlichen Minimalmoral. Die Debatten um »Verfassungspatriotismus«, »Leitkultur«, Integration und Identität beziehen sich auf diese Problematik. In der Ethik wird sie als Verhältnisbestimmung zwischen den vielfältigen Vorstellungen des guten Lebens und einer allgemein verbindlichen normativen Rahmenordnung konzipiert. Die Beschreibung dieser Problematik prägt die Auffassungen darüber, was es ethisch zu begründen gilt und wie dies gelingen könnte.

Die deskriptive Ethik beobachtet (diachron) die Entstehung und Entwicklung, (synchron) die Struktur und die Inhalte sowie (explanativ) die sozialen Funktionen von Moralen. Zur deskriptiven Ethik zählen Moralsoziologie, Moralhistorie einschließlich der in Deutschland seit der sog. historischen Rechtsschule traditionsreichen Rechtshistorie sowie die Moralethnologie. Auch die hypothetischen Konstrukte der sog. evolutionären Ethik, die – seit Darwins Abstammung des Menschen4 – die Entstehung von Moralen aus einem moralfreien Ausgangszustand erklären wollen, gehören zur deskriptiven Ethik. Die deskriptive Ethik nimmt zur Kenntnis, aber enthält sich aus methodischen Gründen der Stellungnahme. Wenn ein Sozialverband es für moralisch richtig hält, Ehebrecherinnen zu steinigen, Witwen zu verbrennen, behinderte Kinder zu töten, Kriegsgefangene zu versklaven oder Menschenopfer zu bringen, so darf der Moralbeobachter als solcher hierzu nicht wertend Stellung nehmen. Zumindest muß er, wie Max Weber betont hat, die Moralvorstellungen, die er im Objektbereich vorfindet, von eigenen Stellungnahmen unterscheiden.

Die Einführung von begrifflichen Unterscheidungen wirft für die deskriptive Ethik methodische Probleme auf. Zu beachten ist die Differenz zwischen einer Teilnehmer- und einer Beobachterperspektive. Während Moralen aus der jeweiligen Teilnehmerperspektive als eine netzartige Struktur von Überzeugungen, Empfindungen und Haltungen vorliegen, ist jede Moral aus der Beobachterperspektive eine komplexe soziale Tatsache, etwas, was es zu verstehen und zu erklären gilt. Das Ziel der deskriptiven Ethik ist insofern das »verstehende Erklären« (Max Weber). Dieses verstehende Erklären ist vom ethischen Begründen scharf zu unterscheiden.

Aus der Perspektive der deskriptiven Ethik gilt es zunächst die Begriffe und Unterscheidungen zu rekonstruieren, die von den Vertretern einer Moral verwendet werden. Die deskriptive Ethik rekonstruiert das Sprachspiel einer Moralgemeinschaft, das mit deren Lebensform, ihren kulturellen Praktiken, ihrem Welt- und Menschenbild usw. verknüpft ist. Als »moralisch« gelten diejenigen Phänomene, die aus der Binnenperspektive eines Sozialverbandes mehrheitlich als solche verstanden werden. Der Bereich moralischer Fragen wurde häufig von Gruppen festgelegt, die über entsprechende Deutungsmonopole verfügen (bspw. eine Priesterkaste). Für moderne Gesellschaften ist es kennzeichnend, daß der Phänomenbereich des Moralischen selbst strittig geworden ist. Eine Person A kann eine Frage als moralisch empfinden, die für eine andere Person B in den Bereich der persönlichen Lebensführung fällt oder moralisch irrelevant ist. Der Bereich des Moralischen ist demnach nichts, was man objektiv vorfindet, vielmehr wird dieser Bereich von den Moralvorstellungen selbst konstituiert. Die deskriptive Ethik ist bestrebt, die Grundannahmen (Axiome) von Moralen zu identifizieren. Letzteres läuft auf die Unterscheidung zwischen einer komplexen phänomenalen Oberfläche und einer Art von Kernbestand hinaus. Insofern unterscheiden sich in jedem Moralsystem Kernzonen, die gegen Änderungen gleichsam abgeschirmt werden, und Randzonen, die einer Änderung eher offenstehen. Moralen unterscheiden sich insofern dadurch, ob sie Nein-Stellungnahmen zu Kernaussagen eher dramatisieren (Häresie, Tabubruch, Frevel usw.) oder eher normalisieren (Kritik, Debatte, Reform usw.).

Die Kerne von Moralen waren, geschichtlich betrachtet, häufig verflochten mit Vorstellungen über die Beschaffenheit des Weltganzen, mit Annahmen über die Gründung des Gemeinwesens (mythische Stifterfiguren) oder über eine transzendente Offenbarung des Moralischen. Immer dann, wenn der Geltungsgrund einer Moral auf derartigen, letztlich unüberprüfbaren Annahmen beruht, soll von traditionellen Moralen die Rede sein. Im jüdischchristlichen und im islamischen Kulturkreis ist ein der Natur gegenüber transzendenter Gott der Urheber der moralischen Gebote. Anscombe hat dieses Modell als das Divine-law-Modell moralischer Geltung (und Begründung) bezeichnet.5 Sie hat ihre Darstellung des Divine-law-Modells moralischer Geltung mit einer (meta-)ethischen These verbunden, die besagt, daß die Rede vom moralischen Sollen außerhalb dieses Modells ihre Bedeutung einbüße und durch andere Redeweisen (untruthful, unchase, unjust6) ersetzt werden sollte. Die von Anscombe anvisierte neue Sprachregelung würde allerdings voraussetzen, daß eine allgemein anerkannte Theorie der Gerechtigkeit vorläge. Systematisch ist die Frage festzuhalten, ob jenseits traditioneller Moralkonzeptionen die Rede von einem moralischen Sollen noch sinnvoll ist. Winch hat in seiner Kritik an Anscombe diese Frage bejaht.7 Für ihn, der an Feuerbachs Projektionsthese anschließt, entsteht die Vorstellung eines göttlichen Gesetzes (divine law) auf der Grundlage von vorgängigen moralischen Überzeugungen. Die theistische Autorisierung erfolgt für Winch nachträglich; vorgängig sind elementare sittliche Erfahrungen. Als Reaktion auf solche Erfahrungen bildet sich die Vorstellung von einem Gott, der die Moral so erlassen hat, wie ein König Gesetze erläßt. Etliche Inhalte traditioneller Moralen könnten gemäß dieser Deutung unabhängig von dem Divinelaw-Modell, d.h. auch in der Moderne, anerkennungswürdig sein.

In allen Moralen gelten Standards, die festlegen, was innerhalb dieser Moral als eine akzeptable Begründung für ein Einzelurteil oder eine Vorschrift (Norm) gilt. Das Begründungskonzept ist hier relativ zu einer bestimmten Moral und kann erforscht und beschrieben werden. So gilt in theologisch fundierten Moralsystemen eine Forderung als begründet, wenn sie sich auf eine zentrale (und unzweideutige) Stelle einer heiligen Schrift zurückführen läßt. Diese relativen Begründungsstandards gilt es ebenfalls zu verstehen. Damit ist die Frage aufgeworfen, ob sich solche Begründungsstandards ihrerseits durch Metastandards bewerten lassen. Die Forderung nach Universalisierbarkeit moralischer Urteile könnte ein solcher Metastandard sein. Diese Forderung taucht zum ersten Mal in der weltweit verbreiteten Goldenen Regel auf. Die Frage nach Metastandards der Begründung eröffnet intern einen Übergang zur normativen Ethik.

Unter einem stärker explanativen Erkenntnisinteresse werden Begriffe eingeführt, die nicht zur Umgangssprache der untersuchten Moralgemeinschaft zählen müssen, aber erklärende Funktionen übernehmen können (Theokratie, Patriarchat, Feudalismus, Kapitalismus usw.). Derartige Begriffe entstammen zumeist der Tradition westlicher Sozialwissenschaften. Dadurch bildet sich eine Differenz zwischen Objekt- und Metasprache (Moralsprache und Terminologie der deskriptiven Ethik).8

Marxistisch gesprochen, zählen Moralen zum Überbau einer Gesellschaft. Es muß in einer marxistischen Perspektive prinzipiell möglich sein, zwischen dem Unterbau, d.h. den naturalen Reproduktionsgrundlagen einer Gesellschaft, der Entwicklung der technischen und ökonomischen Produktivkräfte, den sozialen Stratifikationen und Herrschaftsverhältnissen (Produktionsverhältnissen), einerseits und den Inhalten von Moralen andererseits funktionale Beziehungen aufzuweisen. Dies müßte auch für viele Inhalte elaborierter Moraldoktrinen gelten, die man antiken, feudalen oder bürgerlichen Epochen zuordnen kann. Aus dieser materialistisch-ökonomischen Perspektive erscheinen Moralen als »Ideologien«. Die funktionalen Verflechtungen zwischen ökonomisch geprägter Herrschaftsstruktur und Moral herauszustellen heißt dann, Moralforschung als Ideologiekritik zu betreiben. Moralen werden entlarvt. In Moralbegründungen werden die Spuren sozialer Macht aufgewiesen. Daraus ergibt sich außer dem vulgärmarxistischen Slogan, wonach die herrschende Moral immer die Moral der Herrschenden sei, innerhalb der Moraltheorie des Marxismus eine Spannung zwischen der Traditionslinie der entlarvenden Ideologiekritik und der Frage nach den normativen Grundlagen der marxistischen Theorie selbst (Emanzipation, klassenlose Gesellschaft usw.). In der Tradition des westlichen Neomarxismus wurden der normativen Selbstdeutung der bürgerlichen Gesellschaft die normativen Maßstäbe der Kritik entnommen (Konzept der immanenten Kritik). Die immanente Kritik muß aber mehr sagen als nur, daß die bürgerliche Gesellschaft ihren eigenen Idealen nicht gerecht werden kann. »Erst wenn gezeigt werden kann, daß der immanent aufgenommene Maßstab […] sich im Horizont eines transzendierenden Maßstabes auch […] rechtfertigen läßt, ist das Urteil der Nichtentsprechung ein ›wahrhaft‹ kritisches.«9 Das Konzept immanenter Kritik ruht insofern auf der Möglichkeit, daß sich die Prinzipien, die die Selbstbeschreibung der bürgerlichen Gesellschaft ausmachen (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand), begründen lassen – und zwar ideologiefrei. Das damit aufgezeigte Begründungsproblem ist festzuhalten.10

Werden Moralen von ihren Anhängern im Verlauf der Zeit rationalisiert und schriftlich kodifiziert, so spricht man von Moraldoktrinen. Diese stellen Überlieferungen, d.h. Traditionen dar, in die einzelne Personen gleichsam »einrücken« (Gadamer). Bei der Herausbildung einer solchen Überlieferung spielt das Medium der Schrift eine bedeutsame Rolle. Die Verschriftlichung der Moral wie auch die des Rechts dürften zu einer Vereindeutigung des Gesollten und zu einer verstetigten Auslegungspraxis durch Expertenkulturen geführt haben. Moraldoktrinen können in der Kombination von heiligen Schriften, Dogmatik, Auslegungstradition, begrifflicher Unterscheidungspraxis und ausgefeilter Kasuistik zu imposanten Systemen ausgebaut werden. Die Morallehren der Hochreligionen sind paradigmatisch hierfür. John Rawls bezeichnet solche Doktrinen als »reasonable comprehensive doctrines«. Diese Morallehren regulieren das Verhalten ihrer Angehörigen umfänglich; sie durchdringen den gesamten Lebensvollzug, so daß sich daraus eine bestimmte soziokulturelle Lebensform ergibt. Sprach-, Denk- und Lebensformen bilden eine kohärente Ganzheitlichkeit (individuelle Totalität), deren Komponenten aufeinander verweisen. Der säkularen westlichen Moral fehlt dieses durchdringende (prägende) Element. Daher treten hier Moralkonzept und Lebensformen auseinander, und es bildet sich eine ausgeprägte Differenz zwischen dem moralisch Richtigen und dem persönlich Guten sowie, was moralpsychologisch wenig verwundert, eine Sehnsucht nach einer neuen umfassenden »Lehre«.

Auch totalitäre politische Weltanschauungen weisen eine Moraldoktrin auf, was bspw. für den Nationalsozialismus oder den orthodoxen Kommunismus galt. Jener war biologistisch11, dieser geschichtsphilosophisch begründet. Ein Merkmal totalitärer Systeme ist die machtgestützte Vereinheitlichung von Moral, Recht und Politik sowie die Stigmatisierung von Feinden. Das seit dem Tugendterror der Französischen Revolution aufmerksam registrierte »Unmoralischwerden« der Moralen und vor allem die Exzesse von Dogmatismus, totalitären Doktrinen und Moralfanatismus haben gute Gründe geliefert, auf die sich die gebildeten Verächter der Moral stützen können.

Eine Gefahr, die Moralen und nicht zuletzt Moraldoktrinen häufig innewohnt, ist die folgende. Innerhalb einer Moral werden Nein-Stellungnahmen zu den Grundprinzipien dieser Moral als unmoralisch bestimmt werden müssen. Es kann nicht moralisch richtig sein, die Grundsätze des moralisch Guten abzulehnen. Wer dies tut, muß entweder im Irrtum befangen (bestenfalls) oder schlecht bzw. böse sein; man muß ihn als Feind betrachten, bekämpfen und ggf. unschädlich machen.12 Diese Gefahr läßt sich in der abstrakten Sprache der Systemtheorie Niklas Luhmanns reformulieren. Jede Moral ist auf einen generellen Schematismus, d.h. auf die Differenz zwischen »gut« und »böse« codiert, aber sie kann diesen Leitcode moralischer Beurteilung nur einseitig auf sich selbst anwenden. Jede Moral(-doktrin) hält sich daher notwendigerweise für moralisch gut. Diese einseitige Selbstbezüglichkeit in Verbindung mit der Unbedingtheit (Kategorizität), die moralischen Prinzipien und Forderungen innewohnt, birgt für Luhmann Gefahren. Hinzu kommt, daß moralische Kommunikation mit der Bekundung von Achtung und Mißachtung zusammenhängt. Die Integrität von Personen, denen man moralische Vorwürfe macht, wird angegriffen. Daraus ergeben sich Eskalationsrisiken moralischer Kommunikation. Es gibt insofern gute Gründe, vor den Exzessen moralischer Kommunikation zu warnen und der Ethik die Aufgabe zuzuweisen, den Code der Moral zu betreuen. Luhmanns Begriffswort hierfür lautet »Takt«. Takt ist für ihn eine »Anwendung der Moral auf die spezifischen Risiken der Moral selbst«13. Stegmaier sagt in diesem Sinne, Ethik sei »Diplomatie im Umgang mit der Moral anderer, moralische Diplomatie«14. Wenn man aber sagt, angesichts der Risiken moralischer Kommunikation sei Takt etwas Gebotenes oder Gutes, weil man dadurch Akte der Mißachtung, der Respektlosigkeit, der Kränkung und vielleicht sogar der Demütigung unterläßt15, so erhebt man damit implizit einen moralischen Geltungsanspruch. Takt ist eine Form der Rücksichtnahme. Eine Ethik, die im Sinne Luhmanns die moralische Kommunikation unter der Leitidee des Taktes betreute, bliebe daher moralischen Motiven verpflichtet.

Ab einem bestimmten Stand der individuellen und sozialen Evolution (Onto- und Phylogenese) zerbrechen die Selbstverständlichkeiten der Moralen. Die ontogenetische Phase, in der man die postkonventionalistische Ebene des Moralbewußtseins erreicht, ist die der Adoleszenz.16 Dies ist ein schwankendes Stadium des Moralbewußtseins. Die Kontingenz der vielen Moralen und die Kategorizität moralischer Forderungen stehen erfahrbar in einem irritierenden und scheinbar paradoxen Verhältnis zueinander. Es lassen sich unterschiedliche Reaktionsmodi oder Positionierungen aufweisen, die im Anschluß an diese irritierende Erfahrung möglich sind. Skepsis, Egoismus sowie die Suche nach höherstufigen Prinzipien sind derartige Positionierungen.

Phylogenetisch bzw. historisch betrachtet, sind Moralen nur selten völlig isoliert geblieben. So ist die Konfrontation von Moralen (Kulturen, Religionen) ein Teil der Geschichte der Menschheit. Skeptiker haben immer wieder betont, daß Moralen einander fremd und feindlich gegenüberstehen. Dies traf und trifft häufig zu, aber es ist nicht der einzig mögliche Fall. Die Erfahrung der fremden Moral kann auch in Forschungsprogramme übersetzt werden, die ein Verstehen des Fremden bezwecken. Man kann ferner fragen, wie der Umgang mit der fremden Moral beschaffen sein sollte – und damit ist ein Übergang zur normativen Ethik gegeben. Die Frage nach dem moralisch richtigen Umgang mit anderen Moralen ist eine höherstufige Frage, der sich die Ethik zugewandt hat.

Es lassen sich verschiedene Reaktionsmodi in der Verarbeitung der Erfahrung fremder Moralen unterscheiden. Ein erster wichtiger Schritt besteht darin, eine fremde Moral als Moral anzuerkennen. Ein darauf aufbauender Reaktionsmodus faßt die Möglichkeit ins Auge, daß Moralen voneinander lernen können. Das, was bei solchem Lernen bezweckt und insofern als möglich unterstellt wird, soll offensichtlich ein »Mehr an Moral« oder wenigstens ein freier Umgang mit Moralen sein. Der Weg, die fremde Moral als Moral anzuerkennen und das Lernen als reale Möglichkeit anzunehmen, eröffnet eine Sphäre, in der vernünftig über Moralfragen gesprochen werden kann. Diese Sphäre ist die der Ethik.

Wenn man sich um Verständnis bemüht, so kann man durch einen sorgsamen Vergleich der Moralen Erkenntnisse gewinnen, durch die sich Konflikte entschärfen ließen – so etwa, wenn eine Verhaltensweise in M1 als bloße Konvention verstanden wird, die in M2 eine moralische Bedeutung hat (Verhaltensweisen gegenüber Frauen, Kleider- oder Reinigungsvorschriften). In vielen Fällen unterscheiden sich nicht die normativen Grundgehalte von Moralen, sondern die kulturspezifischen Deutungsmuster, die bspw. festlegen, was als Grausamkeit, Ausbeutung, Untreue, Beleidigung oder Feigheit gilt. Derartige Deutungsmuster gehen (allzu) häufig ungeklärt in moralische Urteile ein. Es kommt darauf an, sie zu explizieren.17

Unterscheiden kann sich in verschiedenen Moralen auch die Bestimmung des Kreises derer, denen gegenüber man zur Einhaltung moralischer oder rechtlicher Normen verpflichtet ist. In vielen traditionellen Gesellschaften gelten moralische und rechtliche Pflichten nur gegenüber Stammes- oder Volksgenossen. In vielen Moralen sind Fremde entweder Gäste oder Feinde. Solche Moralen waren in der Geschichte der Menschheit dominant. Man bezeichnet sie als partikularistisch; denn sie legen einen scharfen Schnitt zwischen einem partikularen »wir« und »den anderen«. In einer partikularen Moral kann die Binnensolidarität innerhalb der Gemeinschaft sehr hoch entwickelt sein. Der Nationalsozialismus bietet ein modernes Beispiel einer radikal-partikularistischen Moraldoktrin.

Moralen, in denen alle oder wenigstens bestimmte Normen gegenüber allen Menschen eingehalten werden müssen, nennt man universalistisch (oder auch humanistisch).18 Zur Differenz zwischen Universalismus und Partikularismus mitsamt ihren Konsequenzen kann sich der deskriptive Moralforscher nur kenntnisnehmend verhalten. Es ist eine Tatsachenfrage, ob eine Person P eine Mpart oder eine Muniv vertritt. Die normative Ethik muß eine Begründung dafür liefern, warum der Universalismus »moralisch besser« ist. Häufig sagt man, daß die Einnahme des »moralischen Standpunktes« oder daß das rechte Verständnis der »Logik« moralischer Äußerungen zum Universalismus führen müsse. Aber diese These gilt es ethisch zu begründen.

Intuitiv macht es für die meisten von uns einen moralischen Unterschied, ob die Erfahrung des Fremden mit Forderungen nach Verständnis, Anerkennung, wechselseitigem Lernen, aufrichtigem Dialog, d.h. mit Forderungen nach gewaltfreien Modi des Umgangs, verknüpft wird oder mit einem Aufruf zur Vernichtung der Ketzer und zur Bekämpfung der Ungläubigen in »heiligen Kriegen«. Dies sind freilich nur »unsere« westlich-humanistischen Intuitionen. Warum sollte, grundsätzlich gefragt, ein bestimmter Modus des Umgangs mit Moralen der »moralisch bessere« bzw. »richtige« Weg sein? Gewiß können zur Beantwortung dieser Frage allgemeine Grundsätze des Respekts, der Rücksichtnahme, der Toleranz oder des Gewaltverbotes angeführt werden. Aber warum sollte man diese Grundsätze akzeptieren? Wie könnte also der Vertreter einer, sagen wir, humanistischen Toleranzmoral einen fanatischen Anhänger einer totalitären Moraldoktrin davon überzeugen, daß dieser ihm gegenüber Moralgrundsätze einzuhalten verpflichtet ist, die in seiner Moral gelten, nicht hingegen in der Moral des anderen? Ist die Ethik gerade gegenüber den Fanatikern hilflos? Warum sollten alle den Weg der Suche nach höherstufigen und entsprechend allgemeineren Prinzipien einschlagen anstatt an ihrer Moral(-doktrin) festzuhalten? Sofern man dies ernstlich wissen will, hat man die Sphäre der deskriptiven Ethik hinter sich gelassen. Die Begründung allgemeiner Grundsätze fällt in den Bereich der normativen Ethik. Es fragt sich daher, wie die Begründung des Grundsätzlichen möglich ist.

Der Satz »Wenn Gott tot ist, so ist alles erlaubt« (Dostojewski) ist als ein ethischer Satz unsinnig. Keine Moral erklärt alles für erlaubt, und keine säkulare menschliche Gemeinschaft existiert ohne moralische und rechtliche Regeln. Moralen wohnt eo ipso eine Regulierungsfunktion inne. Jede Moral ordnet menschlichen Verhaltensweisen bestimmte moralische Attribute zu wie etwa: lobenswert, unehrenhaft, unstatthaft, ungehörig, geboten, erlaubt, unter Bedingungen zu dulden, empfehlenswert, unrechtmäßig, hinterhältig, verboten, tragisch, schlimm, verwerflich, gottlos, abscheulich, gräßlich, brutal. Diese Attribute werden als »thick ethical concepts« verstanden. Wingert bezeichnet sie als moralische Werturteile.19 In ihnen mischen sich Beschreibungen und Bewertungen. Die Umgangssprachen bewerten durch derartige Attribute eher graduell und anhand von impliziten Deutungsmustern. Der Reichhaltigkeit derartiger Attribuierungen korrespondiert eine Vagheit ihres Verwendungssinns. Es sind aber auch bereits in der Alltagssprache kategoriale Zäsuren vorhanden, die bspw. das Erlaubte vom Verbotenen abgrenzen. Dadurch stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den graduellen Bewertungen moralischer Werturteile und kategorialen Grenzen, d.h. deontischen Grundmodalitäten. Elementare deontische Grundmodalitäten sind in jeder Moral nachweisbar: geboten (etwas tun sollen), verboten (etwas nicht tun dürfen), erlaubt (etwas tun oder lassen dürfen). Die Termini, in denen diese Grundmodalitäten ausgedrückt werden, bezeichnet man als deontische Operatoren (deon = gr., die Pflicht betreffend).

Moralen codieren zudem mit dem übergreifenden binären Schematismus von »gut (richtig) versus schlecht/böse (falsch)«20. Unter dieser Perspektive sind die Zuordnungen von Handlungsweisen und Attributen die inhaltlichen Festlegungen, die eine bestimmte Moral ausmachen, d.h. deren »Programm«. Oberhalb der Programme liegt der konstitutive Code.

Wir können also begrifflich »thick ethical concepts«, deontische Operatoren und den binären Schematismus unterscheiden sowie die in jeder Moral nachweisbaren Zuordnungen von Attributen oder Kategorien zu Handlungsweisen oder Einzelhandlungen festhalten. Wir schneiden demnach in Moralurteilen aus komplexen Verhaltensmustern Handlungen aus und belegen sie mit moralischen Werturteilen, die mit allgemeineren deontischen Modalitäten verknüpft werden können. Wir bezeichnen, etwas schematisch gesagt, eine Handlung als »grausam«, explizieren die Bedeutung von Grausamkeit, ordnen grausamen Handlungsweisen den Operator »verboten« zu und erklären es für »gut«, daß grausame Handlungen moralisch verboten sind.

Wir können nun erklären, was unter einem Sollgeltungsanspruch zu verstehen ist. Wer eine Handlungsweise H, in der bestimmte Situationstypen mitgedacht sind, mit einem moralischen Attribut oder mit einem deontischen Operator ϕ verknüpft, der erhebt einen Sollgeltungsanspruch in bezug auf eine mögliche Norm, der mit Gründen Gpro gestützt oder mit Gegengründen Gcon kritisiert werden kann. Jeder derartigen Verknüpfung läßt sich, wie zur Bekräftigung, hinzufügen: »Es soll (für uns alle) (als Normadressaten) gelten, daß«. Man kann auch einen Verweis auf den Schematismus anbringen: »Es wäre gut, wenn H ϕ wäre.« Wer einen Sollgeltungsanspruch erhebt, der beansprucht (präsumiert) eben dadurch, ein rationales Normbegründungssubjekt zu sein.

Ein Argument, mit dem sich Sollgeltungsansprüche begründen lassen, hat eine fünfstellige Struktur, die folgende Komponenten enthält: 1. die Verknüpfung von H und ϕ, die den Kern des Sollgeltungsanspruchs ausmacht, 2. eine implizit oder explizit beigegebene Menge von Gründen {G1.....Gn}, die diesen Anspruch stützen können sollen, 3. eine Menge von Konsequenzen (K1.....Kn), die sich aus der Verknüpfung von H und ϕ wahrscheinlich ergeben, sowie 4. Folgerungsbeziehungen (F), die die Beziehungen zwischen den Komponenten herstellen. Formal läßt sich dies als Tupel darstellen: A = < (H, ϕ), {G1.....Gn}, (K1.....Kn), F >.

Wünschenswerte Konsequenzen können als Pro-Gründe eingesetzt werden, während unerwünschte Konsequenzen von Opponenten als Gegengründe benutzt werden können. Analytisch sollte man Gründe und Konsequenzen trennen; denn es kann Gründe geben, die sich nicht auf Konsequenzen beziehen (etwa der Verweis auf höhere Normen oder auf ethische Prinzipien). Die Handlungsweise H kann genauer spezifiziert werden. So kann man bspw. sehr allgemein darüber streiten, ob das Jagen von Tieren moralisch generell erlaubt oder verboten sein soll. Hält man diese Handlungsweise generell für erlaubt, kann man gleichwohl das Jagen auf bestimmte Tierarten zu bestimmten Jahreszeiten verbieten. Es ist widerspruchsfrei möglich, allgemeine Erlaubnisse mit spezifischen Verboten und allgemeine Verbote mit spezifischen Erlaubnissen zu verbinden.

Es scheint der Fall zu sein, daß jeder (geistig normale) Mensch die Fähigkeit besitzt, eine Moral zu erlernen. Menschen sind in diesem Sinne moralfähige Wesen, was besagt, daß erwachsene Menschen ceteris paribus als Wesen anerkannt werden, denen man normative und nicht nur kausalursächliche Verantwortung unterstellen können muß. Solche Wesen nennen wir »Personen« (oder »moral agents«). Heranwachsenden schreiben wir in moralischer Hinsicht einen graduell zunehmenden Personenstatus zu; das Recht muß Zäsuren der Strafmündigkeit setzen. Die Zuerkennung von Personalität beläßt große kulturelle Spielräume, Menschen die Zurechenbarkeit abzuerkennen (Geisteskrankheiten usw.). Der (normative) Begriff der Person wird in der Ethik häufig vom (deskriptiven) Begriff des Menschen getrennt. Es kann daher der Möglichkeit nach menschliche Nichtpersonen und nichtmenschliche Personen (etwa Computerprogramme oder intelligente Außerirdische) geben. Definiert man den Begriff der Person (als »moral agent«) über die Fähigkeit, den Sinn und die Bedeutung moralischer Urteile zu verstehen, so kennen wir faktisch keine nichtmenschlichen Personen. Man kann den Personbegriff auch etwas schwächer definieren, so daß den Menschenaffen der Status von Personen zuerkannt werden kann. »Moral patients« sind Wesen, die entweder noch keinen oder prinzipiell keinen Personenstatus besitzen, aber aufgrund anderer Eigenschaften moralisch schützenswert sind. Darauf ist zurückzukommen.

Da nun jede Moral Verhaltensspielräume einengt, ist sie per se untersagend, d.h. restriktiv. Dies impliziert nicht, daß eine Moral repressiv sein muß, wenn man Repression als unbegründete Einschränkung von Handlungsspielräumen versteht. Die damit investierte Unterscheidung zwischen der notwendigen Restriktivität jeder Moral und ihrer möglichen Repressivität besagt, daß jede Repression auch eine Restriktion ist, daß aber das Umgekehrte nicht gilt. Wo die Grenze zwischen Restriktion und Repression verläuft, ist strittig. Wir halten diese Beziehung zwischen Restriktivität und Repressivität als eine, wie ich sagen möchte, offene deontische Relation fest, die auf Begründungsfragen verweist.21 Ein Ideal der Ethik wäre eine Moral ohne Repression, eine Moral, die den freien Willen zwar bindet, ohne ihn jedoch zu beugen (so Jürgen Habermas). Eine Moral ohne Repression wäre eine einsichtige und autonome Moral (Autonomie = Selbstgesetzgebung). Eine autonome Person wäre eine solche, die zugleich Urheber, Beurteiler und Befolger einer begründeten und daher einsichtigen Moral ist.

Es fragt sich, ob und wenn ja, wie sich die vielen Moralen kritisch auf ihre Richtigkeit (Gültigkeit, Anerkennungswürdigkeit), also auf ihre Moralität hin beurteilen lassen. Der Ausdruck »Moralität« wird im folgenden im Sinne der ethischen Idee der einen »richtigen« oder »vernünftigen« Moral (im Singular) verwendet, deren Bestimmungen (idealiter) für alle einsichtigen Personen anerkennungswürdig sind. Moral wäre demnach eo ipso eine autonome Moral. Diesen Begriff der Moralität einzuführen heißt, ethische Begründungsprobleme aufzuwerfen. Wie könnte bspw. der Kern von Moralität inhaltlich bestimmt und in seiner Bestimmtheit begründet werden? Eine Konzeption von Moralität zu begründen meint, eine Reihe von grundlegenden, aber unterschiedlichen Sollgeltungsansprüchen argumentativ einzulösen.22

Die Moralität ist das nicht empirisch vorfindliche, sondern das allererst zu »findende« Korrelat der Ethik. Dieses Korrelat ist nicht im Sinne eines Objektes zu denken, das sich beobachten ließe. Die Beziehung zwischen Moralität und normativer Ethik ist komplizierter als die zwischen den Moralen und der deskriptiven Moralforschung. Wir bewegen uns in einer vierstelligen Relation. Man sollte sich diese Beziehung so vorstellen, daß die deskriptive Ethik beobachtend über den Moralen steht, während die normative Ethik als Medium von Reflexion und Begründung zwischen den Moralen und der gesuchten Moralität steht.

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Man kann die normative Ethik insofern als eine solidarische Kritik der vielen Moralen verstehen, die sich dem Anliegen (dem Worum-Willen), aber nicht auch den einzelnen Inhalten der Moralen verbunden weiß und die sich an der regulativen Idee von Moralität ausrichtet. Das Ziel der normativen Ethik ist somit Moralität. Die Ethik ist kein Selbstzweck, aber auch nicht einfach Mittel zu einem ihr äußerlichen Zweck, sondern ein wesentlich sprachlich verfaßtes Medium der Orientierung auf einen immanenten Zweck. Moralität ist der immanente Zweck normativer Ethik. Die Zwischenstellung der normativen Ethik drückt aus, daß die Ethik auf die vorfindlichen Moralen angewiesen ist. Sie kann die gesuchte Moralität nicht aus dem Nichts neu erfinden.

Wir können nunmehr sagen, daß es zwei Ziele der Ethik gibt: eine Konzeption von Moralität als allgemeingültig zu begründen und dieser Konzeption Geltung in der Welt zu verschaffen. Dadurch unterscheiden sich theoretische und anwendungsorientierte normative Ethik. Ohne den Bezug zur (wie immer geschichtlich vermittelten) praktischen Umsetzung kann keine Konzeption von Moralität sinnvoll vertreten werden; in diesem Sinne ist normative Ethik notwendig anwendungsorientiert. Theoretisch entscheidend sind die jeweils vorgelegten Begründungsleistungen. In diesem Buch geht es nur am Rande um »angewandte Ethik«. Im Zentrum steht die Frage nach der ethischen Begründbarkeit eines Kerns von Moralität.

Hinter methodischen Erwägungen, wie in der Ethik vorzugehen sei, steht die sachliche Frage, ob Moralität in den vorhandenen Moralen entdeckt werden kann oder eher außerhalb neu erfunden werden muß. Michael Walzer unterscheidet drei Pfade der Moralphilosophie: den Pfad der Erfindung, den Pfad der Entdeckung und den Pfad der Interpretation.23 Die mögliche ethische Begründung von Moralität muß nicht deren Erfindung aus dem Nichts oder aus einem moralfrei vorgestellten Ausgangszustand bedeuten. Der Pfad der Interpretation, den Walzer selbst vertritt, orientiert sich an den vorhandenen Moralen. Diese sind für ihn etwas, in das vielfältige sittliche Erfahrungen eingegangen sind. Sie sind gleichsam das Produkt von »trial and error« über viele Generationen hinweg. Dies ist eine Position, die der Sittlichkeitslehre Hegels recht nahekommt und die den Moralen große Autorität einräumt.

Der Pfad der Entdeckung entspricht der kantischen Konzeption der Moralbegründung, in der wir uns unsere Intuitionen und Überzeugungen in begrifflicher Form verdeutlichen und kritisch reflektieren. In der von Kant geprägten Tradition wird davon ausgegangen, daß in der »gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis« (Kant) bereits ein Wissen um Moralität angelegt ist, so daß der Ethik nur die Aufgabe zukommt, dieses Wissen »sokratisch zu katechisieren« (Kant). Dies besagt, daß die Moralität in den Moralen entdeckt wird, ohne daß die vorhandenen Moralen unkritisch akzeptiert werden müßten. Der Unterschied zwischen dem Weg der Interpretation und dem der Entdeckung wird um so geringer, je unmißverständlicher ein Vertreter des Wegs der Interpretation die Kritikbedürftigkeit vorhandener Moralen einräumt.

Man muß erläutern, warum man es für sinnvoll hält, an der maßgeblich von Kant geprägten und von Tugendhat und Habermas erneuerten Idee von Moralität mitsamt der darin involvierten Aussicht auf die »Einsichtigkeit einer modernen Moral«24 und auf eine »inklusive und universale Welt wohlgeordneter interpersonaler Beziehungen«25 festzuhalten. Einwände gegen diesen Ansatz besagen, daß die Aussicht auf eine Moralität bestenfalls eine ehrenwerte Illusion und schlimmstenfalls ein gefährliches Hirngespinst sei. Mit Nietzsche und Marx könnte man geltend machen, in dieser Idee der Moralität spreize sich die christliche Sklavenmoral oder die westliche Bourgeoisie zum universalen Maßstab auf. Mit Luhmann könnte man sagen, daß sich die aufgezeigten Gefahren moralischer Kommunikation in dieser Suche nach der einen Moralität potenzieren könnten. Man kann nicht in abstracto, sondern muß in der Durchführung eines bestimmten Begründungsprogramms zeigen, daß diese Einwände und Befürchtungen gegenstandslos sind.

2. Ebenen (Dimensionen) der Ethik und begriffliche Klärungen

Wenn Ethik die Moral beobachtet, spricht man, wie gesagt, von deskriptiver Ethik. Wenn Ethik auf Moral und auf die Semantik, Grammatik oder Pragmatik der Moralsprache reflektiert, so spricht man von Metaethik. Ist es der Ethik darum zu tun, Inhalte der Moralität zu begründen (Prinzipien, Moralgebote, Menschenrechte usw.), so geht es um normative Ethik. Soll Ethik in unterschiedlichen Praxiskontexten (Medizin, Wissenschaft, Wirtschaft, Umwelt usw.) normative Orientierung bieten, ist von anwendungsorientierter Ethik oder etwas verkürzt von angewandter Ethik (applied ethics) die Rede.26

Es geht in diesem Kapitel darum, anhand einer Unterscheidungspraxis die Punkte zu markieren, an denen sich wesentliche Begründungsfragen stellen. Das folgende Ebenenschema dient zur Unterscheidung. Es handelt sich nicht um eine hierarchisch-deduktive Systematik, sondern eher um eine Art von Gebäude, dessen einzelne Etagen man begangen haben sollte, wenn man in der Ethik »bewandert« sein möchte.

Ebenen (Dimensionen) der Ethik

1. Deskriptive Ethik

a. Entstehung und Sinn der Moral (evolutionäre Ethik, Anthropologie)

b. Moralhistorie und -soziologie

c. Moralentwicklung und Theorie der Moderne

2. Normenlogik

3. Metaethik (Bedeutungstheorie der Moralsprache)

4. Normative Ethiktheorien

a. Moralprinzipien (und ggf. Grundmodell)

b. Grundnormen (negative und positive Pflichten)

c. Menschen- und Bürgerrechte

d. Extension der »moral community«

5. Angewandte Ethik (Umwelt, Wirtschaft, Technik, Medizin usw.)

a. Praxisnormen (Grundsätze »mittlerer Reichweite«)

b. Argumentationsräume (Bereichstopologien)

6. Querschnittsfragen anwendungsorientierter Ethik

a. Verantwortungszuschreibungen

b. Risikobeurteilungen

c. Abwägungskonzepte

d. Wert- und Normenkonflikte

7. Konzeptionen des guten Lebens (eudämonistische Ethik)

8. Urteile betreffs Maßnahmen, Einzelfällen, Themen usw.