Als die Kinder aus den Krautköpfen kamen

Bettina Gartner

Als die Kinder aus den Krautköpfen kamen

Damals in Südtirol

Ich danke allen Lesern, die sich mit diesem Buch
auf die Reise durch die Südtiroler Vergangenheit machen!

Herzlich, Bettina Gartner

Inhalt
oder: Wahre Begebenheiten

Zu Beginn ein Gedanke

Aller Anfang ist schwer
oder: Wie mein Leben begann

Früh übt sich …
oder: Was ich als Kind zu tun hatte

Das verschollene Osterei
oder: Wie wir satt wurden

Allmächtiger!
oder: Wie die Kirche unser Leben bestimmte

Die Sache mit dem Sex
oder: Wie ich aufgeklärt wurde

Hoffart kommt vor dem Fall
oder: Wie wir unsere Schönheit pflegten

Wer schwanger wird, landet auf dem Misthaufen!
oder: Wie wir unter die Haube kamen

Nur nicht nachstehen!
oder: Was uns zur Arbeit trieb

Von Krämern und der krummen Loise
oder: Wie Neuigkeiten zu uns kamen

Tiefgefroren für die Ewigkeit
oder: Wie wir mit dem Tod umgingen

Eine Geschichte zum Schluss &
ein Gedanke danach

Zu Beginn ein Gedanke

Die Geschichte ist ein Strom. Ein Strom aus Erfahrungen und Formen, aus Gefühlen und Gedanken, aus Worten und Weisheit. Erst drei, vier Generationen ist es her, dass in Südtirol Leichen auf dem Dachboden tiefgefroren und Kinder verschenkt wurden. Diese Vergangenheit wird in diesem Buch erzählt.

„Hannah“ steht dabei stellvertretend für diejenigen, die diese Geschichten erlebt haben. Denn alles, was erzählt wird, hat sich wirklich zugetragen.

Das Leben ist ein Strom, der sich verändert. Mitunter verlässt er sein Bett, ufert aus, verzweigt sich in Kanäle und windet sich durch die Landschaft. Auch wir Menschen gehen nicht immer den geraden Weg durchs Leben. Wir umschiffen Verantwortung, schlagen Schleichwege und vermeintliche Abkürzungen ein, die sich später oft als Irrwege entpuppen, schweifen aus, aus Angst, auf die Wahrheit zu treffen, und lassen uns von Ego und Eitelkeit gern auf falsche Fährten locken. Haben wir wieder auf den rechten Pfad zurückgefunden, kommt uns unsere Vergangenheit oft bizarr vor. Doch sie ist es nicht. Denn in unserem Werdegang hat alles seinen Platz. Alles entsteht aus seiner Zeit und alles ist in seiner Zeit. Wer es dort lässt, braucht es nicht zu bewerten und nicht zu gewichten, nicht zu vergöttern und nicht schlechtzumachen. Auf diese Weise werden die Ereignisse der Vergangenheit zu den guten, tiefen und starken Wurzeln, aus denen wir erwachsen und die uns helfen, standfest zu sein.

Aller Anfang ist schwer
oder: Wie mein Leben begann

Manche Menschen sind Glückskinder. Sie sind unter einem guten Stern geboren, pflegte meine Tante Trude zu sagen. Ich gehöre nicht dazu. Man muss sich fragen, warum ich überhaupt geboren wurde. Ich glaube, Pfarrer Ferdinand war maßgeblich daran beteiligt. Wäre er nicht gewesen, gäbe es mich vermutlich nicht.

Im Grunde war unser Dorfpfarrer Ferdinand ein netter Mensch. Etwas gedrungen in der Gestalt und mit teuflisch wenig Temperament gesegnet, doch soll man von einem Hirten auch nicht allzu viel erwarten. Dass Pfarrer Ferdinand unser Hirte war, wiederholte er gern. Dabei waren seine Worte ein gleichmäßiger Singsang, der wie ruhiges Wasser dahinplätscherte. Es war leicht, ihm zuzuhören, doch schwierig, ihm zu folgen.

Dass Pfarrer Ferdinand unser Hirte war, sagte er so oft, dass es bei aller Eintönigkeit auffiel. Er war der Hirte, wir waren die Schafe. Und wie jeder gute Hirte sorgte sich Pfarrer Ferdinand sehr um seine Herde.

Gegen Ende des Jahres 1950 war er so besorgt, dass er meine Eltern aufsuchte und sie fragte, ob alles in Ordnung sei – alles in Ordnung mit den ehelichen Pflichten. Zwei Jahre war ihr jüngstes Kind Theresa nun schon alt und meine Mutter war in dieser Zeit nicht wieder schwanger geworden. Ehen wurden geschlossen, um Kinder in die Welt zu setzen. Es wollte sich doch niemand vergnügen, ohne die Folgen zu tragen? Oder, noch schlimmer: Sie würde doch nicht verweigern, was er wollte?

Es war alles in Ordnung. Meine Mutter war eine pflichtbewusste Person. Als Pfarrer Ferdinand kam, um nach dem Rechten zu sehen, hatten meine Eltern bereits sechs Kinder. Ihr Bauernhof warf nicht genügend ab, um noch mehr Mäuler zu stopfen. Meine Eltern hatten meistens nur drei Kühe, ein Schwein und ein Pferd. Wer mehr Kinder im Haus als Vieh im Stall hatte, tat gut daran, sein Fortpflanzungsverhalten zu überdenken.

Außerdem hatte sich in den letzten Jahren eine Enttäuschung nach der anderen eingestellt: Ein Mädchen nach dem anderen war geboren worden. Es war wie verhext, es war zum Verzweifeln.

Dabei hatte alles so gut begonnen. Gleich im ersten Anlauf hatten meine Eltern einen Sohn gekriegt. Mein Vater war aufgeblüht vor Stolz, meine Mutter war erleichtert. Die ehelichen Pflichten zu erfüllen – damit konnte sie dienen. Gleich mit dem erwünschten Ergebnis aufzuwarten – das war ein Geschenk des Himmels. Der Herr hatte meinen Eltern Karl beschert. Karl war ein prächtiger Kerl. Drei Monate nach seiner Geburt war meine Mutter, beschwingt und pflichtbewusst, wieder schwanger. Doch nach Karl kamen nur noch Mädchen: das erste, das wie fast alle erstgeborenen Mädchen Maria hieß, dann Rosina, Herta, Hilde, Theresa. Dazwischen zwei Fehlgeburten. Meinen Eltern gingen die Mädchennamen aus, meiner Mutter die Kräfte. Acht Schwangerschaften in elf Jahren, dazu die Feldarbeit und der Haushalt, Waschen ohne Waschmaschine, Putzen ohne Staubsauger, Kochen ohne Fertigprodukte, jeder Knödel handgemacht.

Doch dann kam Pfarrer Ferdinand und erinnerte an die ehelichen Pflichten, als gäbe es sonst nicht genug zu tun.

Kein Wunder, dass manche Bäuerin froh um eine schöne Dirne war, und zwar nicht nur, weil sie im Haushalt anpackte. Eine schöne Dirne half mitunter auch bei den ehelichen Pflichten – wenn auch nicht immer freiwillig. Mancher Bauer nahm sich einfach, was er wollte. Ein Bett im Kornfeld. Dann hatte die Bäuerin ihre Ruhe, ab und an zumindest, und war froh darüber.

Wir hatten keine Dirne. Es fehlte am Geld. Abgesehen davon hatten sich meine Eltern ehrlich lieb. Vielleicht wollten sie auch deshalb kein Kind mehr. Vielleicht wollte mein Vater meine Mutter nicht verlieren. Mit jeder Geburt war sie schwächer geworden. Eine Woche Bettruhe und eine Schüssel Hühnersuppe – einer alten, ausgezehrten Henne abgepresst – brachten sie längst nicht mehr zu Kräften.

Als meine jüngste Schwester Theresa geboren wurde, war meine Mutter 38 Jahre alt. Zu jung zum Sterben. Mein Vater hatte die Lust an Kindern verloren. Und dass womöglich noch ein Mädchen dazukam, wollte er ohnehin nicht riskieren.

Pfarrer Ferdinand sah das anders. Er war gleich nach der Sonntagsmesse aufgetaucht, beschwingt vom Blut des Herrn, den Weihrauch im Gewand. Meine Mutter stellte ihm einen Teller mit Tirtlan vor. Pfarrer Ferdinand neigte den Kopf zur Seite und schaute auf seine gefalteten Hände. Meine Mutter saß ihm gegenüber, mein Vater zu seiner Linken. Der Bauernofen, der meiner Mutter im Rücken stand, strahlte Wärme aus. Doch nicht diese trieb ihr die Röte ins Gesicht. Es waren Pfarrer Ferdinands Worte. Und sein Blick, der Bände sprach. Beiläufig erzählte er vom Weib, das er bei der Beichte nicht hatte von seinen Sünden lossprechen können, weil es nur zwei Kinder hatte. Meine Mutter wäre am liebsten im Boden versunken. Mein Vater fühlte sich in seiner Ehre gepackt. Es war einer der schmachvollsten Momente im Leben meiner Eltern.

Noch schmachvoller war nur das Malheur mit der Männerfahne. Die Männerfahne war größer als alle anderen Fahnen und wurde zu besonderen Anlässen durchs Dorf getragen. Einer dieser Anlässe war der Kirchtag. Unsere Kirche war dem Heiligen Ägidius geweiht. Am ersten September war der Gute gestorben und am Sonntag darauf feierten wir – ein großes, lustiges, buntes Fest. Schon am Samstag stellten die Männer den Kirchtag-Michl auf dem Dorfplatz auf einen 30 Meter hohen Stamm. Wäre der Michl nicht aus Stroh gewesen, ihm wäre sicher übel geworden. Ich konnte nicht einmal vom Dachboden hinunterschauen, ohne dass mir flau im Magen wurde. Peter Sigmair, der in Stein gemeißelt neben dem Michl stand, wirkte mit einem Mal richtig klein, obwohl er sonst unser alles überragender Held war. Er hatte mit Andreas Hofer gegen die Bayern und die Franzosen gekämpft und war am Ende von ihnen erschossen worden. Beim Kirchtag aber stand der Michl im Mittelpunkt. Er wurde von den Burschen des Dorfes bewacht, damit die Burschen der Nachbardörfer ihn nicht stahlen. Fiel er ihnen in die Hände, konnten sie Lösegeld verlangen oder ihn an ihrem Kirchtagsfest kopfüber neben ihren Michl hängen. Das hätte selbst eine Strohfigur nicht verkraftet.

Während die Burschen den Michl bewachten, brachten die Mitglieder der Musikkapelle ihre Instrumente auf Vordermann und übten Polka, Walzer und Boarischen. Sie richteten die Festkarren her und schmückten sie mit luftgefüllten Krapfen und Früchten der Saison. Praktischerweise hatte der Heilige Ägidius zu einer Zeit das Zeitliche gesegnet, in der die Felder voll standen, und die Auswahl groß war. Der Dorfschuster, der nicht nur mit Geschick, sondern auch mit Geduld gesegnet war, drapierte die Samen und Körner zu wunderschönen Altarbildern, jedes Jahr zu einem anderen. Ich war immer sehr beeindruckt. Am besten gefielen mir die Heilige Maria, die ihre Base Elisabeth hinterm Berg besuchte, und der Heilige Georg, der mit seiner Lanze den Drachen besiegte. All diese Szenen waren aus gelbem Weizen, roten Hagebutten, schwarzem Buchweizen und blauen Weintrauben gemacht.

Am Kirchtag selbst gab es gegrillte Würste und halbe Hähnchen und Strauben, deren Duft hinauf bis in Michls Nase zog. Es gab Wein und Bier und Schnaps und den Weiten Kegel, wobei das eine dem anderen eher abträglich war. Der Beste beim Weiten Kegel war mein Onkel Walter – trotz des Weins, den er genauso liebte. Er gewann den Weiten Kegel fast jedes Jahr. Als Hauptpreis gab es ein Schaf, das mein Onkel Walter in seinen Stall zu den anderen Viechern stellte.

Die liebste Beschäftigung am Kirchtag aber war das Tanzen. Jeder tanzte, auch die Männer. Die Zeiten, in denen die Frauen ob Männermangels oft gemeinsam tanzen müssen, waren noch längst nicht angebrochen. Vor der Tanzfläche stauten sich die Paare und das, obwohl man Eintritt zahlen musste: 50 Lire für drei Tänze. Polka, Walzer, Boarischen. Danach kamen die nächsten Tänzer an die Reihe. Das ging so weiter, bis die Lichter ausgingen oder die Schuhsohlen durchgetanzt waren.

Doch vor das Vergnügen haben die Götter bekanntlich den Schweiß gesetzt. Für uns bedeutete das: Wir mussten zur Prozession gehen.

Die Prozession fand am Vormittag nach der Messe statt. Betend und singend zogen wir durch die Felder ums Dorf, Pfarrer Ferdinand mittendrin. Als weithin sichtbares Zeichen überragte die Männerfahne das Geschehen. Mein Vater durfte sie tragen. Er war Fraktionsvorsteher und Feuerwehrkommandant und kräftig dazu. Der richtige Mann für diese ehrenvolle Aufgabe. Alljährlich fieberte er ihr entgegen, und schon wenn er sich nach der Messe die breite Lederhalterung um Hüften und Schultern schnallte, merkte man ihm die Aufregung an. Der Heiland dürfte an seinem Kreuz nicht minder schwer getragen haben als mein Vater an seiner Fahne. Wie der Herr hatte auch mein Vater einen Helfer: Dieser ging vor der Fahne her und hielt sie mit starken Bändern im Gleichgewicht.

Jahrelang ging alles gut. Bis 1959 das Malheur passierte. Kurz vor der Kirche, wo der Weg einen Bogen macht, schlug uns bei der Prozession plötzlich ein heftiger Windstoß entgegen. Wie ein Segel bauschte er die Fahne auf. Mein Vater hatte keine Chance. Er taumelte. Er ging in die Knie. Die Fahne kippte – und riss den Stolz meines Vaters mit in die Tiefe. Mein Vater hat nie davon gesprochen, aber ich glaube, er hat es nie verkraftet.

Bis zum Malheur mit der Männerfahne war der Besuch von Pfarrer Ferdinand die größte Schmach im Leben meiner Eltern gewesen. Zu Pfarrer Ferdinands Verteidigung sei gesagt, dass er nicht als einziger Hirte derart bemüht um seine Herde war. Weil ihr Bett offiziell kalt blieb, steckte die Geistlichkeit ihre Nase nur zu gern in fremde Federn.

Einmal im Jahr trafen sich die Pfarrer des oberen Pustertales in unserem Dorf beim Bruggenwirt. Was sie zu besprechen hatten, weiß Gott allein. Auf jeden Fall kamen sie ungeheuer wichtig daher. So viel geballte Gottesvertretung war wahrlich beeindruckend. Die Pfarrer gingen weit hinein in die Gaststube, vorbei am Ofen, neben dem eine Wiege stand. Jedes Jahr lag das neue Baby der Bruggenwirte darin. Eingewickelt wie eine Mumie nahm das Neugeborene ein Kreuzzeichen nach dem anderen entgegen.

Die Herren Hochwürden waren zufrieden – bis die Wiege eines Jahres fehlte. Das Schlimmste ahnend, stürmte einer der Pfarrer in die Küche, wo die Bruggenwirtin gerade einen riesigen Topf voller Gerstelsuppe wärmte.

„Habt ihr denn heuer kein Kind?“, brach es so entrüstet aus dem Pfarrer hervor, als hätte ihm ein Ministrant vor der Wandlung zu wenig Wein in den Kelch getan.

Die Bruggenwirtin brauchte ein paar Augenblicke, um zu begreifen, worauf er hinauswollte. Ihre Augen weiteten sich. Sie streckte den Arm aus und zielte mit dem Zeigefinger zur Tür, die ins Hinterzimmer führte: „Heuer liegt’s im Hinterzimmer – und jetzt hinaus aus meiner Küche!“

Die Bruggenwirte waren dem Wunsch des Pfarrers zuvorgekommen. Meine Eltern beeilten sich, ihm nachzukommen. Der Sonntag war der richtige Tag dafür. Neun Monate nach Pfarrer Ferdinands Besuch wurde ich geboren.

Bei meiner Geburt war mein Vater nicht zu Hause. Es war Anfang September und auf den Feldern gab es viel zu tun. Der Weizen wurde geschnitten, die Kartoffeln aufgeklaubt, der Pofel gemäht.

Anders als heutzutage hoben Schwangerschaft und Geburt die Welt damals nicht aus den Angeln. Sie drehte sich weiter und mit ihr alles, was zu tun war. Meine Oma Jule erzählte gern, wie sie am Tag von Onkel Walters Geburt am Vormittag auf dem Feld gewesen, zu Mittag niedergekommen und am Nachmittag wieder zur Arbeit gegangen war.

Zäh waren damals alle Frauen, doch nicht jede hatte Glück. Die Tragödie der Einzelnen ging im Trott des Alltags unter. Einen Arzt sahen die Frauen während der Schwangerschaft kein einziges Mal. Zur Geburt wurde die Hebamme geholt – und die kam manchmal zu spät. Den Fronl-Hof, der am Fuße des Einsers lag, erreichte sie erst, als die Fronl- Bäuerin schon tot war. Das Baby hatte überlebt. Es war ihr siebtes Kind.

Als mein Vater vom Feld nach Hause kam, lag ich frisch entschlüpft in Mutters Armen. In der Haustür kreuzte mein Vater die Hebamme, schüttelte ihr die Hand und fragte, ob sie nächstes Jahr wieder behilflich sei.

Die Holzdielen knarrten, als mein Vater die Stube durchquerte, um in das dahinterliegende Schlafzimmer zu gelangen. Das Herz meiner Mutter, die erschöpfter denn je im Bett lag, schlug schwach. Mein Vater steckte den Kopf durch die Tür.

„Und?“, fragte er.

„Ein Mädchen“, antwortete meine Mutter.

Ohne ein Wort zu sagen, schloss mein Vater die Tür. Er hatte das Zimmer nicht einmal betreten.

Meine Schwester Herta schob fleißig Holz in den Herd. Dabei wärmt doch vor allem die Liebe. Keiner spürte das deutlicher als ich. Manchen kranken Kindern gab man Mus und Schmalz, damit sie wieder zu Kräften kamen. Das war gut gemeint, endete aber nicht selten tödlich. Diese Rosskur blieb mir Gott sei Dank erspart. Doch auch ohne Mus und Schmalz ging es weiter bergab mit mir. Mit drei Monaten bekam ich Bronchitis. Mein Atem rasselte. Mein Gesicht war blau. Bedenklich blau. Die Hoffnung aufs Überleben schwand von Tag zu Tag. Irgendwann schien mein Schicksal besiegelt. Jede Minute rechnete man mit meinem Heimgang. Mein Vater ging zur Abendmesse, um für das Heil der Menschheit zu beten. Meines sparte er aus. Als er wieder nach Hause kam, lag ich noch immer röchelnd in meinem Körbchen. Mein Vater war überrascht: „Ist sie denn noch immer nicht tot?“

Nein, der Herrgott wollte mich einfach nicht zu sich nehmen. Vielleicht hatte er gerade genug Engelchen vorrätig. Vielleicht wollte auch er kein Mädchen. Das Tauziehen zwischen Himmel und Erde endete bodenständig: Ich überlebte.

Doch so einfach sollte ich nicht davonkommen. Beim nächsten Versuch, mich loszuwerden, war ich zwei Jahre alt. Meine Eltern beschlossen, mich zu verschenken. An Onkel Walter, der selber keine Kinder hatte. Onkel Walter, der Bruder meines Vaters, hatte den elterlichen Hof geerbt. Er hatte viel Vieh und jede Menge Land. Ein Junge als Erbe wäre besser gewesen. Doch zur Not, und die Not war groß, durfte es auch ein Mädchen sein. Onkel Walter war ein herzensguter Mensch und hatte eine Frau, die zusammenhielt, was übrigblieb von dem, was er in seiner Gutmütigkeit verlieh, verschenkte und durch Bürgschaften verlor. Finanziell wäre es mir bei ihnen sicherlich besser gegangen als bei meinen Eltern mit den drei Kühen und den sieben Kindern. Doch ich machte mir nichts aus Geld. Weinend stand ich an Onkel Walters Gartenzaun und rief nach meiner Schwester Herta. Der Rotz rann mir übers Gesicht und verklebte meine blonden Engelslocken. Ich wollte nichts essen, ich wollte nichts trinken, ich wollte nicht schlafen, ich wollte nichts erben, ich wollte nur zurück nach Hause. In der ersten bewussten Erinnerung meines Lebens heulte ich gegen mein Schicksal an. Drei Tage lang. Ich setzte mich durch. Man gab mich zurück. Mein Leben konnte von neuem beginnen.