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Hans-Ulrich Regius

T o b i a s

Das unerwünschte Buch

Wie Absprachen der Finanzelite der Bevölkerung schaden und warum Tobias sterben musste. – Hintergründe eines Insiders, erzählt in einem aktuellen Wirtschaftsroman.

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Copyright: © 2016 Cameo Verlag GmbH
Lektorat: Erik Kinting, D – Hamburg
Umschlag: Cameo Verlag GmbH
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-906287-24-9

Warum ist Tobias tot?

Sie trafen sich bei seiner Beerdigung. Waren wirklich alle gekommen? Nein, einige fehlten, doch sie wurden nicht sonderlich vermisst.

Da standen sie nun auf dem Friedhof, in dem kleinen Dorf Goldhausen – teils in kleinen Gruppen, teils alleine; wartend. Die Beisetzung war für 14 Uhr angesetzt.

»Mitten im Tag!«, meinte Hanspeter Tummerman zu den Kollegen. »Da verlieren wir fast einen ganzen Arbeitstag. Es wäre sicher nicht nötig gewesen, der ganzen Belegschaft die Möglichkeit zur Teilnahme zu geben.«

Der Friedhof war viel zu klein für die vielen Trauergäste. Die meisten trugen dunkle Kleidung, einige hatten maßgeschneiderte Anzüge und alle ernste Mienen. Sie erzählten sich gegenseitig, wie besonders es doch gewesen war, mit Tobias zusammen zuarbeiten. Fassungslosigkeit und Unverständnis über seinen Tod mischten sich unter die Trauer. Die Leute verspürten einen Großen Verlust, eine Leere – sie rangen nach Antworten. Warum hatte Tobias die Firma verlassen und warum war er jetzt tot?

Die Kirchenglocken läuteten und immer mehr Menschen strömten herbei. Einer, der unauffällig etwas abseitsstand, beobachtete die Szene aufmerksam; es war Inspektor Zürcher von der Abteilung Wirtschaftskriminalität. Vor wenigen Tagen hatte er einen vertraulichen Hinweis bekommen, dass bei mehreren Geschäftsabschlüssen der Firma Care-Insurance, bei der Tobias eine lange Zeit CEO war, regelmäßig und über viele Jahre Große Beträge umgebucht wurden, um die Ergebnisse zu manipulieren. Eigentlich wollte er Tobias in dieser Sache im Rahmen einer Voruntersuchung befragen, aber dann war er plötzlich gestorben. Erstaunlicherweise konnten ihm auch die früheren Mitarbeiter von Tobias keine aufschlussreichen Informationen geben, vielmehr erhielt er von diesen immer den Hinweis, dass eben nur Tobias über die finanziellen Zusammenhänge wirklich Bescheid gewusst hatte.

Es waren auch viele bekannte Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik zur Trauerfeier gekommen. Sie alle hielten es für angebracht, von so einer speziellen Persönlichkeit, wie es Tobias war, Abschied zu nehmen. Aus dem persönlichen Umfeld waren seine erwachsenen Kinder, seine ehemalige Frau, sein Bruder Martin und seine Schwestern anwesend, ebenso Yvonne, Gabi, Katrin, Esther, Sandra und Nicole. Aber es fehlten Lucia und Denise – alles langjährige Freundinnen. Aber auch Urs und vor allem Mario fehlten.

Yvonne und Nicole kannten Tobias besonders gut. Beide waren ihm eng verbunden, wussten aber nichts voneinander. Yvonne war seit über fünfundzwanzig Jahren eine enge Vertraute von Tobias. Sie war einst, als er noch eine kleine Firma leitete, seine Assistentin. Es gab damals viele Gerüchte bezüglich einer angeblichen Liebesbeziehung. Nicole, die einige Jahre später mit ihm befreundet war, hatte nach wie vor eine enge, emotionale Beziehung zu Tobias gehabt. Aber seit einigen Monaten war sie die Freundin von Martin, dem Bruder von Tobias, und deshalb hatten sie in letzter Zeit kaum noch Kontakt.

Der Tod von Tobias hatte sie alle überrascht und sehr betroffen gemacht. Die meisten Kolleginnen und Freundinnen von Tobias kannten sich bisher nicht, wussten aber teilweise durch die Erzählungen von Tobias voneinander. Man spürte die Ohnmacht und den Verlust, sie hatten alle zu Tobias eine besondere Beziehung gehabt. Ganz anders als die vielen anwesenden Geschäftsleute und das zahlreich erschienene Personal der Firmen Care-Insurance und Sonopharm. Nach seiner Zeit als CEO bei Care-Insurance hatte Tobias sich selbstständig gemacht und verschiedene Mandate im Gesundheitswesen und im Finanzbereich übernommen. Bei Sonopharm war er bis vor Kurzem Verwaltungsratspräsident und hatte eine konsequente Neuorientierung dieses Pharmaunternehmens eingeleitet. Die engen Mitarbeiter von Tobias kannten seine konsequente Erfolgsorientierung, seine sensiblen Seiten, aber auch seinen unheimlichen Drang, sich für das einzusetzen, was ihm wichtig erschien. Und nun sollte Tobias tot sein? Einfach so auf einer normalen Bergtour abgestürzt? Sie konnten es nicht fassen.

Im Anschluss an die kirchliche Abdankungsfeier trafen sie sich im Dorfrestaurant Löwen. Yvonne brach als Erste das durch die Trauer belastete Schweigen: »Es ist schon ungeheuerlich. Da arbeitet Tobias mehr als Fünfunddreißig Jahre wie ein Verrückter, setzt sich für die Firma und die Mitarbeiter ein, und kaum beendet er seine Karriere, stürzt er auf einer einfachen Bergtour ab. Und jetzt wird auch noch über ihn spekuliert, dass er in Transaktionen verwickelt sei, die ihn zum Selbstmord getrieben hätten. Ausgerechnet er, dem Geld und Status nie viel bedeutet haben. Ich kann das einfach nicht glauben.«

»Verrückt, wie sich die Medien auf diese Story stürzten und Unterstellungen in Umlauf bringen«, warf Nicole ein.

Diese Statements lösten in der Runde eine intensive emotionale Diskussion aus. Nur Gabi differenzierte und hielt es durchaus für möglich, dass hinter dieser Geschichte etwas Wahres stecken könnte: »Tobias war doch so geschickt in allem, dass er vielleicht auch sie alle getäuscht haben könnte. Ich habe mich zeitweise auch über seine kritische Haltung gewundert, er war schließlich ein Teil dieses egozentrischen Wirtschaftssystems und hat davon ebenso profitiert wie die, die er kritisiert hat.«

Aber niemand der eng zusammensitzenden Frauen wollte auf diese These näher eingehen. Zu zeitnah und überraschend war der Tod von Tobias.

Bei der Trauerfeier waren auch Vertreter der Medien anwesend. Niemand war überrascht, dass auch Romano Spiller, der bekannte Boulevard-Journalist, da war; er hatte wiederholt über Tobias berichtet. Immer, wenn es eine Story gab, war er am Ball. Er rief Tobias zu jeder Tages- und Nachtzeit auf seinem Handy an. Manchmal war es zu dessen Vorteil, manchmal schadete es Tobias enorm. Spiller hatte vor Kurzem einen kritischen Artikel über die Bilanzkünste der Großen Banken und Versicherungen der Schweiz geschrieben. Dabei wurde auch Tobias massiv kritisiert, weil er offenbar viel Geld in der Bilanz der Firma Care-Insurance kaschierte, um, so der Vorwurf, höhere Preise im Markt realisieren zu können. Weil offenbar die Mehrzahl der Versicherer die gleiche Methode anwenden, hatte die Wettbewerbskommission eine Voruntersuchung eingeleitet. Als dies bekannt wurde, sind die Spekulationen erst recht und dynamisch gewachsen.

Es war ein großer Zufall, dass sich Inspektor Zürcher und Romano Spiller auf dem Friedhof begegneten. Zürcher kannte Spiller zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie standen aufgrund der begrenzten Platzverhältnisse nahe beieinander am Rande des Friedhofs und beobachteten die eintreffenden Besucher. Romano Spiller murmelte vor sich hin, wie auffällig gut doch dieser Anlass besucht sei und trotzdem doch irgendetwas nicht stimme. Ja, es lag etwas Sonderbares, nicht zu Definierendes in der Luft. Der Leichnam von Tobias war erst vor zwei Tagen von den Behörden zur Beerdigung freigegeben worden. Vorher versuchten die Spezialisten, die Todesursache herauszufinden. Das Ergebnis wurde aber noch nicht bekannt gegeben. Es blieb damit viel Raum für Spekulationen. War es wirklich ein Bergunfall oder hatte sich Tobias umgebracht? Die einen glaubten zu wissen, dass Tobias schwer krank war, andere berichteten darüber, dass sie ihn noch vor Kurzem quicklebendig auf einer Bergtour beobachten konnten. Er galt als vorsichtiger und erfahrener Alpinist und deshalb war es nicht nachvollziehbar, dass er auf einem normalen Bergweg ausgerutscht sein und sich dabei tödlich verletzt haben soll.

Romano Spiller, der immer etwas provozierte, um Aussagen zu entlocken, brachte es auf den Punkt: »Da ist doch offensichtlich etwas faul, das stinkt ja zum Himmel.«

Diesen Steilpass musste Inspektor Zürcher, der nur zwei Meter entfernt stand, aufnehmen: »Wie meinen Sie das?«

»Der Tobias ist doch nicht einfach so gestorben, da wurde sicher nachgeholfen«, entgegnete Spiller.

»Das ist wohl nicht der geeignete Zeitpunkt, darüber zu diskutieren, aber kommen Sie doch nachher zu einem Kaffee mit, auch ich bin daran interessiert, mehr zu erfahren«. entgegnete Zürcher.

So trafen sie sich nach der Beerdigung im Café Birdie. Da auch viele andere Besucher der Beerdigung dorthin gingen, weil sie im Dorfrestaurant Löwen keinen Platz mehr fanden, ergab es sich, dass sie bunt gemischt zu sechst an einem Tisch saßen und über Tobias sprachen.

»Ja, der Tobias war schon ein außergewöhnlicher Geschäftsmann«, sagte der eine.

Ein anderer beklagte sich, dass Tobias immer nur forderte und ein verbissener Unternehmer war. Zahlreiche Episoden aus der Geschäftswelt wurden erzählt. Auffallend waren die vielen besonderen Momente, bei denen es immer um Auseinandersetzungen auf höchster Ebene, meistens um Grundsatzfragen wirtschaftlicher oder politischer Natur, ging.

»Ja, er war wirklich ein außergewöhnlicher Mensch, aber einfach war es nicht, mit ihm zu arbeiten.«

»Was war denn so besonders schwierig mit ihm?«, fragte Romano Spiller in die Runde.

»Er hatte eine dezidierte Meinung, und wer diese nicht teilte, bekam Schwierigkeiten«, berichtete ein langjähriger Mitarbeiter. »Nein, so war das doch nicht«, entgegnete Peter Straubhaar, ein angesehener Kadermann, der bisher unauffällig und schweigend in dieser Männerrunde saß. »Tobias wagte es als einer der wenigen, auf höchster Ebene zu widersprechen. Ob bei Medien, Politik oder Wirtschaft. Selbst mit den Aufsichtsbehörden legte er sich regelmäßig an. Er argumentierte stets im Interesse der Nachhaltigkeit, der Kunden und zur Erhaltung von Arbeitsplätzen. Tobias hinterfragte und brachte gute, stichhaltige Argumente ein, denen viele nicht gewachsen waren. Tobias galt deshalb als unbequem, ja teilweise sogar als stur.«

Dem widersprach niemand der Anwesenden. Sie waren sich darin einig, dass unterschiedliche Auffassungen über Strategie und Interessensvertretung letztlich bei Care-Insurance und auch bei Sonopharm zur Trennung geführt haben mussten, obwohl dies nie offiziell so kommuniziert wurde.

»Tobias war doch bekannt dafür, dass er sich für die Interessen der Kunden und Mitarbeiter einsetzte, und er soll in der Bilanz Gelder versteckt und damit die Ergebnisse manipuliert haben? Nein, das kann nicht sein, das ist doch wieder einmal eine inszenierte Story der Medien, die solche Geschichten so gerne verbreiten, um gegen Wirtschaftsführer Stimmung zu machen«, warf der Marketingchef der Care-Insurance ein und setzte nach: »Aber was steckt konkret hinter dieser Kampagne? Wer hat ein Interesse daran, dass der gute Ruf von Tobias belastet wird? Dies ist doch die zentrale Frage!«

»Welche Transaktionen werden denn Tobias konkret vorgeworfen?«, fragte Inspektor Zürcher nach.

»Es handelt sich um über hundert Millionen Franken, die offenbar im Soll statt im Haben verbucht wurden und das Ergebnis somit verschlechtert haben«, antwortete ein junger Controller, der in der Gruppe saß. »Solche Abschlussbuchungen sind aber in der Branche üblich und ich staune nur, welche Fantasien der Tod von Tobias ausgelöst hat. Täglich werden neue Gerüchte in Umlauf gebracht, um das Interesse an dieser Story hochzuhalten. Das ist doch sehr simpel, jetzt, wo der Beschuldigte nicht mehr reagieren kann. Und ihr werdet sehen, die Erfahrung mit der Boulevardpresse ist immer die gleiche: Sobald eine neue interessante Geschichte auftaucht, wird die alte, und damit auch diese, fallen gelassen.«

Die anderen nickten ihm zu, denn Tobias hatte bei ihnen einen guten Ruf und niemand konnte sich wirklich vorstellen, dass irgendetwas an den Gerüchten wahr sein sollte.

Die Runde begann sich aufzulösen und jeder ging seiner Wege. Die meisten hatten ja einen langen Heimweg vor sich, und die Arbeit und Sorgen des Alltags standen ihnen näher als die Hintergründe, die angeblich mit dem Tod von Tobias zu tun hatten.

Als etwas später Spiller das Café zusammen mit Zürcher verließ, verabschiedete er ihn mit den Worten: »Es ist schon sehr interessant zu erfahren, dass auch ein Inspektor für Wirtschaftskriminalität die Beerdigung besucht hat.« Er habe sicher seine guten Gründe und deshalb bleibe auch er bei dieser Geschichte am Ball.

Am nächsten Tag war dann auch in der Boulevardzeitung zu lesen: Untersuchungsrichter bei Tobias Gronos Beerdigung – mit süffisantem, spekulativem Zusatzkommentar.

An diesem Morgen musste Inspektor Zürcher bei seinem Vorgesetzten zum Rapport: »Was ist an der Beerdigung von Tobias Grono konkret vorgefallen? Weshalb hat man Sie erkannt und welche Fakten liegen nun in dieser Angelegenheit vor?«

Mit stoischer Ruhe schilderte Zürcher seinem Chef den Stand der Ermittlungen:»Fest steht bisher nur, dass die Bilanzen der Firma Care-Insurance in den letzten Jahren wiederholt Abschlussbuchungen aufwiesen, welche die Ergebnisse laufend verschlechtert haben. Hier laufen die Abklärungen mit der Finanzmarktaufsicht. Das ist das eine. Unklar ist nach wie vor, weshalb Tobias Grono gestorben ist – war es ein Unfall, ein Selbstmord oder gar eine Fremdeinwirkung?« Er erwarte vom gerichtsmedizinischen Institut in den nächsten drei Tagen den Abschlussbericht. Jetzt, wo Tobias tot sei, müssten eben die Ermittlungen zu den Finanzfragen ohne diesen Kronzeugen fortgesetzt werden. Er beantrage deshalb, dass seine Abteilung, welche für Wirtschaftskriminalität zuständig ist, sich einzig um die Abklärung der Finanztransaktionen kümmere und die Fragen rund um das Ableben von Tobias vom zuständigen Untersuchungsrichter Meierhans weiterverfolgt werden sollten.

Der zuständige Staatsanwalt genehmigte den Vorgehensvorschlag und Zürcher führte seine Ermittlungen weiter.

Endlich in seinem Büro, vertiefte sich Zürcher in die Akten: Alle Jahresergebnisse wurden von der Revisionsgesellschaft ohne Einschränkungen abgesegnet. Auch die Finanzmarktaufsichtsbehörde FINMA schritt bisher nicht ein. Aber es war ja gerade diese Behörde, die vor wenigen Wochen ein Abklärungsverfahren eingeleitet hatte. Warum wohl? Inspektor Zürcher hatte deshalb einen Besprechungstermin verlangt.

Da klingelte das Telefon. Ein Beamter der FINMA bestätigte ihm bereits für den nächsten Tag den gewünschten Termin. Aha, dachte Zürcher, so schnell geht das plötzlich. Da ist etwas im Busch.

Romano Spiller hatte aufgrund seiner Beobachtungen und Gespräche, die er anlässlich der Beerdigung geführt hatte, am nächsten Tag für die Boulevardzeitung die Fortsetzungsstory geschrieben: Manipulierte Ergebnisse für höhere Preise? Er zitierte den jungen Controller aus dem Café und suggerierte in seinem Artikel, dass es branchenüblich sei, zusätzliche Rückstellungen zu bilden, um damit die Ergebnisse schlechter darzustellen. Spiller hatte einen heiklen Verdacht: Je grösser der Finanzbedarf nach Außen ausgewiesen werden konnte, umso besser ließen sich die politisch festgelegten Preise beeinflussen und damit der Gewinn der Unternehmen absichern. Dies alles zulasten der Konsumenten, welche diese Preise zwangsläufig bezahlen mussten. Wusste Tobias Grono zu viel und musste deshalb sterben – oder war er gar der Drahtzieher? Das war nun seine Story an der er dran bleiben wollte. Damit stand plötzlich nicht mehr die Frage nach der Todesursache von Tobias Grono im Zentrum des Interesses, sondern das Geschäftsgebaren einer ganzen Branche, die Rolle der Aufsichtsbehörden und der zuständigen politischen Instanzen. Romano Spiller war überzeugt, einen Skandal aufzudecken.

Zürcher fuhr an diesem Tag im Zug nach Bern – zur Besprechung mit der FINMA. Im Zugsabteil gegenüber saß ein Geschäftsmann und las die Boulevardzeitung. Zürcher konnte sehen, dass auf dem Titelbild ein Porträt von Tobias Grono abgebildet war, konnte aber vorerst den Titel Manipulierte Ergebnisse für höher Preise nicht damit in Zusammenhang bringen. Ungeduldig wartete er deshalb ab, bis der Mitreisende die Lektüre dieser Zeitung beendet hatte, um ihn zu bitten, auch einen Blick hineinwerfen zu dürfen. Was hat dieser Spiller nun wirklich herausgefunden oder sind es wie so oft nur Thesen, um eine Story zu basteln?, schoss es ihm durch den Kopf.

Aufgewühlt durch den Artikel, traf er bald darauf im Büro der FINMA ein. Er wurde in ein Großes Sitzungszimmer gebeten, wo gleich acht Leute der Aufsichtsbehörde am Großen Tisch saßen, um sich seinen Fragen zu stellen. Alles sei in bester Ordnung mit den Jahresabschlüssen der Firma Care-Insurance, wurde ihm versichert. Die von der Boulevardzeitung kritisierten fragwürdigen Jahresabschlusstransaktionen seien selbst in dieser Größenordnung übliche Abgrenzungsbuchungen, um die Risiken realistisch in der Bilanz abzubilden. Hierzu würden anerkannte Berechnungsmethoden angewandt und von der Aufsicht regelmäßig validiert. Ziel sei es, mit diesen Abgrenzungen die finanzielle Sicherheit der Unternehmen und die künftigen Versicherungsansprüche der Kunden zu sichern.

»Waren die Rückstellungen denn wirklich nötig oder einfach wünschenswert, um andere Bedürfnisse zu befriedigen? Könnte es sein, dass Banken und Versicherungen Methoden anwenden, die in erster Linie ihre Geschäftsrisiken absichern? Und ist die Schlussfolgerung nicht naheliegend, dass solche Branchenmethoden zu überhöhten Preisen führen, was indirekt ja eine unzulässige Absprache unter den Anbietern darstellen würde?«

Niemand im Raum wollte auf diese Fragen eingehen: Zürcher erhielt gebetsmühlenartig immer die gleichen Statements: »Wir prüfen sorgfältig, ob alle Bedingungen des Gesetzes erfüllt und die Solvabilität des Unternehmens gesichert ist. Dies ist bei Care-Insurance immer der Fall gewesen.« Mehr gebe es dazu nicht zu sagen.

»Warum ist dann ein Abklärungsverfahren von Ihnen in die Wege geleitet worden?«, wollte Inspektor Zürcher weiter wissen.

Dies sei ein normales Vorgehen, wenn von interessierten Kreisen ein begründetes Begehren eingereicht werde. In diesem Fall sei es eine übliche Abklärung der kantonalen Steuerbehörde gewesen, um die steuerbaren Erträge für Care-Insurance festlegen zu können.

Zürcher hatte nun endlich eine plausible Erklärung erhalten. Aber auch für ihn waren die aufgekommenen Spekulationen bezüglich fingierter Abschlüsse interessant. Als Bürger und Konsument hatte er sich noch nie solche Gedanken gemacht, aber die Argumente der FINMA waren für ihn stichhaltig – schließlich waren das ja die Experten. Es war letztlich ja auch nicht seine Aufgabe zu prüfen, ob die diesbezüglichen Regelwerke für Banken und Versicherungen sowie deren Auswirkungen sinnvoll waren oder zu Missbräuchen führten. Wenn dem nicht so wäre, hätte bestimmt der Preisüberwacher interveniert, und die Wettbewerbskommission wäre durch den öffentlichen Druck gezwungen worden, entsprechende Abklärungen vorzunehmen.

Um seinen Bericht aber vervollständigen zu können und allfällige Fragen des Untersuchungsrichters, der ja die Todesursache von Tobias zu klären hatte, beantworten zu können, fragte er die Beamten, ob es auf der Beziehungsebene zwischen der Aufsichtsbehörde und Tobias größere Konflikte gegeben habe. Er legte dabei offen, dass er von einem angesehenen Kadermann erfuhr, dass Tobias die Regelwerke der FINMA sehr kritisch bezüglich Interessensvertretung hinterfragt habe und deshalb sicher ein sehr unbequemer Gesprächspartner gewesen sei. Er wolle deshalb wissen, ob es zwischen Tobias Grono und der FINMA auch nach seinen Rücktritten von den verschiedenen Posten bei Versicherungs- und Finanzinstituten noch offene Punkte gegeben habe oder gar ein Verfahren am Laufen sei.

Die Antwort war abschließend: »Die Aufsicht hat mit der Firma Care-Insurance und den von Tobias Grono vertretenen weiteren Firmen immer alle Fragen einvernehmlich gelöst. Es gibt keine offenen Fragen und Verfahren.«

Zürcher verließ das FINMA-Büro.
Er schrieb seinen Abschlussbericht zur Akte Care-Insurance: Alle Abklärungen der Voruntersuchung haben ergeben, dass die finanziellen Transaktionen und Jahresabschlussbuchungen im Rahmen der branchenüblichen Standards erfolgten und deshalb keine fehlbaren Handlungen der Verantwortlichkeiten festgestellt wurden. Es gibt deshalb keine Indizien für wirtschaftskriminelle Handlungen und folglich auch diesbezüglich keine Motive, die im Zusammenhang mit dem Tod von Tobias Grono weiter abzuklären sind.

Untersuchungsrichter Meierhans nahm das Ergebnis der Abklärungen von Inspektor Zürcher mit Genugtuung zur Kenntnis. Er hatte wiederholt erlebt, wie Medien Spekulationen in Umlauf gesetzt hatten, die sich bald in Luft auflösten. Es blieb für ihn somit nur noch die Frage der Todesursache von Tobias Grono. Der gerichtsmedizinische Bericht hielt fest, dass Tobias Grono durch den Sturz in die Schlucht schwere Prellungen am ganzen Körper erlitt und der Tod durch einen verhängnisvollen Schlag am Kopf, höchstwahrscheinlich aufgetreten durch den Aufschlag auf einen Felsen, eingetreten sei. Wie kam es aber zu dem Sturz? War es ein simpler Bergunfall, wie er eben vorkommt, oder war es Selbstmord? Für den Untersuchungsrichter gab es nach den Abklärungen von Inspektor Zürcher keinen Grund, die These des Selbstmordes weiterzuverfolgen – er schloss die Untersuchung deshalb mit dem Fazit ab: Tod durch Sturz anlässlich einer Bergtour. Er ließ darum folgende kurze Medienmitteilung versenden: Alle Abklärungen haben ergeben, dass als Ursache für den Tod von Tobias Grono weder eine Fremdeinwirkung noch Motive für einen Freitod festgestellt werden konnten. Die Todesursache ist klar auf den Sturz während seiner Bergtour zurückzuführen. Im internen Bericht, der an den Staatsanwalt ging, hielt er weiter fest: Die Abklärungen haben ergeben, dass weder anhängige Rechtsverfahren noch Vorbehalte der Aufsichtsbehörden bezüglich der in der Öffentlichkeit durch einzelne Medien kritisierten Finanztransaktionen vorliegen. Es gebe deshalb keine Gründe zur Annahme eines wirtschaftlich motivierten Selbstmordes. Auch gebe es weder Fakten noch Indizien, dass der Tod von Tobias Grono in einem wirtschaftlichen Zusammenhang erfolgt sei. Vielmehr weise alles auf einen zwar unglücklichen aber immer wieder zu beklagenden Bergunfall hin. Er beantrage deshalb, den Fall als geklärt zu betrachten und die Untersuchung einzustellen.

Auch die Boulevardpresse ließ kurz darauf diese Geschichte fallen. In einer Randnotiz berichtete sie noch über die Einstellung des Verfahrens. Längst hatte eine neue Story die alte abgelöst. Wie so oft gerieten die von Spiller vermeintlich aufgedeckten Finanzmanipulationen in Vergessenheit. Aber waren seine zwar voreiligen aber doch bedeutungsvollen Schlussfolgerungen nicht wenigstens teilweise berechtigt? Oder hatte da jemand eingegriffen, damit etwas, das für viele Menschen und ganze Branchen unbequem ist, nicht länger verfolgt wird? Es wäre nicht das erste Mal, dass ein wirklicher Skandal zwar durch die Medien aufgedeckt und eine kurze Zeit weiterverfolgt wird, dann ohne Großes Aufsehen aus der Themenliste verschwindet. Dies war ein großer Fehler, wie sich später herausstellen wird.

Die ungeklärten Fragen

Martin, der Bruder von Tobias, war mit Nicole auf Bali in den Ferien. Sie saßen in einer gediegenen Lounge des Luxushotels Royale-Bali und tranken Champagner. Die Gläser glitzerten in der einzigartigen Sonnenuntergangsstimmung. Anmutende, schlanke, mit farbigen Tüchern zu eng anliegenden Kostümen gekleidete Damen servierten einheimische Köstlichkeiten zum Aperitif.

»So lässt es sich leben«, meinte Nicole zu Martin, der gedankenversunken vor sich hin sinnierte.

»Ja, Nicole, wir sind privilegiert, aber wir müssen uns bewusst sein, dass sich das morgen schon ändern kann.«

»Wie meinst du das?«

»Wenn ich an meine Zeit in Afrika denke, wo wir Ärzte mit einfachsten Mitteln versuchten, Menschen zu helfen, und gleichzeitig an anderen Orten der Welt die Wirtschaft mit allen Mitteln versuchte, den Konsum noch weiter anzukurbeln, dann macht mir dieses dynamisch wachsende Ungleichgewicht doch große Sorgen.«

»Jetzt redest du schon wie dein Bruder. Auch Tobias glaubt, mit seiner Wertorientierung irgendetwas verändern zu können und ist letztlich gescheitert. Die Wirtschaft funktioniert nun mal rein materiell, und wer diese Gesetzmäßigkeiten nicht akzeptiert, verliert. Diese Diskussionen habe ich mit Tobias immer wieder und sehr intensiv geführt – aber er wollte es einfach nicht einsehen und letztlich hat er sogar seinen tollen Job verloren.«

»Wie war das denn genau?«, wollte Martin nun wissen.