Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Monsters Don’t Cry erschien 2015 im Verlag Deadite Press.

Copyright © 2015 by Shane McKenzie

1. Auflage August 2016

Copyright © dieser Ausgabe 2016 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: BenBaldwin.co.uk

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-427-0

www.Festa-Verlag.de

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9

»Da ist es«, verkündete Elli und zeigte zu der Hütte vor ihnen. Es brannten keine Lichter, doch sie wusste, dass sich der alte Mann darin aufhalten würde. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er einen anderen Ort hatte, an den er gehen konnte. »Halt! Nicht näher!«

»Ich will mit ihm reden«, ergriff Dirk das Wort. »Vertrau mir. Bevor du ›verrückter alter Furz‹ aussprechen kannst, hab ich den Kerl so weit, dass er einen Joint raucht und unsere Collegefarben trägt.«

So dringend Elli aus dem Auto rauswollte, sie hielt es für denkbar unklug, an Genes Tür zu klopfen. Der Mann wirkte zwar recht harmlos, aber selbst das Gesetz könnte ihm nichts anlasten, wenn er auf einen SUV voller betrunkener widerrechtlicher Eindringlinge schösse.

Mack machte abwechselnd mit Kandy und Bella rum. Seine Erektion zeichnete sich zwischen seinem Oberschenkel und seiner Jeans wie ein rohrförmiger Tumor ab. Die Mädchen massierten sich gegenseitig die Busen, während ihre Zungen eng umschlungen miteinander tanzten. Die beiden anderen Kerle, die Elli noch nie zuvor gesehen hatte, die aber austauschbar gegen jeden anderen Verbindungsstudenten waren, flüsterten Aurora und Gisela zu, bemühten sich nach Kräften, die zwei Flittchen zu überreden, mit ihnen zu vögeln. Die Mädchen weigerten sich zwar, kicherten aber dabei, fuhren unübersehbar auf die Aufmerksamkeit ab. Die Prognose für die Nacht: wunde Eier.

Bruno, der immer noch auf dem Boden zwischen all dem Geflüster und Gekicher kauerte, konnte nicht stillhalten. Immer wieder spähte er prüfend durch die Heckscheibe hinaus. Dabei zitterte er so heftig, dass seine Schuhe gegen das Bodenblech klapperten. Wenngleich er sich umgezogen hatte, klebte immer noch Blut in seinem Gesicht und an seinen Händen, und als Elli genauer hinsah, erkannte sie Schnittwunden an seiner Wange und Nase, außerdem Kratzer, die kreuz und quer über seine Arme verliefen. Elli wollte sich zu ihm auf den Boden hocken und versuchen, ihn zu beruhigen oder vielleicht dazu zu bringen, ein wenig genauer zu erklären, was sich zugetragen hatte, aber sie war sich immer noch nicht ganz sicher, wie sie den Burschen einschätzen sollte. Und dennoch, selbst wenn er sich als verrückt oder als unter Halluzinationen leidend erwiese, wäre er ihr noch lieber als die anderen Anwesenden.

Allerdings glaubte sie nicht, dass Bruno verrückt war. Was immer ihm solche Angst eingejagt hatte, es war real. Oder zumindest war er restlos davon überzeugt, dass es real war.

Dirk ließ den Wagen wieder anrollen und Elli sprang vom Sitz hoch, um ihm gegen den Arm zu schlagen. Mit einem Ruck kam das Fahrzeug zum Stehen. Alle japsten und stützten sich an den Armlehnen oder an den Sitzen vor ihnen ab.

Bruno wurde vom Boden geschleudert, ruderte dabei mit den Armen wie Propeller. Sein Gesicht traf so perfekt mitten auf Ellis Hintern, dass seine Nase beinah ihren Hintereingang penetrierte. Seine Stirn krachte gegen ihr Steißbein und entlockte ihr einen spitzen Aufschrei.

Als er zurückfederte und mit gerötetem Gesicht und blutiger Nase auf dem Rücken landete, stieß er hervor: »Oh Scheiße. Entschuldige. Tut mir leid.« Er wischte sich mit der Hand das Blut von der Nase und rieb es in seine saubere Jeanshose. Dabei vermittelte er den Eindruck, als schäme er sich dafür, zu bluten.

Was immer diesen Burschen erschreckt hatte, es hatte ihm eine Heidenangst eingejagt und ihn dem Aussehen nach übel zugerichtet. Und selbst nach all dem war es ihm peinlich, mit dem Gesicht gegen Ellis Hintern geprallt zu sein. Das fand sie unwillkürlich irgendwie süß.

»War nicht deine Schuld«, beruhigte sie ihn und rieb sich den schmerzenden Steiß. »Dieses Arschloch hinter dem Lenkrad kann einfach nicht hören.«

»Bitte im Augenblick keine Anspielungen auf Arschlöcher«, murmelte Bruno.

»Ich kann einfach nicht hören? Willst du mich jetzt in mein Zimmer schicken? Oder muss ich mich in die Ecke stellen?« Dirk starrte immer noch mit finsterer Miene durch die Windschutzscheibe zu der Hütte.

»Im Ernst, wir müssen weg hier. Sieh dir nur die Gegend hier an. Wir können unsere Party feiern, wo immer wir wollen. Warum willst du dich mit Gene anlegen?«

»Gene?«, meldete sich Mack von hinten zu Wort, ehe er sich wieder dem Knutschen widmete, ohne auf eine Antwort zu warten.

»Ellis Sugardaddy.« Aurora stieß ihren Verehrer von sich, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. Ein breites Grinsen zog ihre Augen zu Schlitzen zusammen. »Ihr hättet sie mal sehen sollen. Ich dachte, sie lutscht ihm jeden Moment gleich hier im Wald seine alte, schlaffe Nudel.«

»Ich wette, dem hängen die Eier bis zu den Knöcheln runter.« Gisela hatte ihrem Verehrer irgendwann nachgegeben, weshalb ihr Lippenstift quer über ihr Gesicht verschmiert war. »Seine Haut ist ganz lasch und fleckig und überall von weißen Haarbüscheln bedeckt.«

Dirk lachte und schlug auf das Lenkrad. Trotz des Blödsinns, der aus den Mündern der Vertreterinnen des Clubs der dummen Schlampen drang, war Elli erleichtert, als Dirk den Rückwärtsgang einlegte. Er war sogar schlau genug, die Scheinwerfer ausgeschaltet zu lassen, als er langsam von der Hütte zurücksetzte. Sie waren zwar nicht allzu nahe rangefahren, aber Elli fand, wenn sie die Hütte sehen konnte, war das bereits zu nah, zumal sie wusste, dass Gene eine Schusswaffe hatte und nicht auf dralle Busen ansprach.

»Ich war nicht diejenige, die ihre Glocken hat rauswippen lassen. Und gebracht hat es rein gar nichts, ebenso gut hättest du dem einsamen alten Einsiedler ein paar Föhrenzapfen zeigen können.«

»Kann ich doch nichts für, wenn der alte Knacker mehr auf Schwänze steht.« Aurora lehnte sich zurück und ließ zu, dass ihr Typ dicht an sie heranrutschte und den Arm um sie legte. Dem Alten haben meine Titten nicht gefallen? Tja, der Kerl hier steht auf sie! »Hockt die ganze Zeit hier draußen umgeben von harten, strammen Bäumen, da ist’s kein Wunder, dass er schwul geworden ist. Vielleicht sollten wir Hunter S. Thompson hier antanzen und mit den Eiern wackeln lassen, mal sehen, ob das funktionieren würde.«

Grölendes Gelächter brandete durch das Auto. Mack, Kandy und Bella legten eine Pause dabei ein, Speichel zwischen sich herumzureichen, kicherten und glotzten Bruno mit jenem Blick an, den sie so sehr liebten und der unverkennbar besagte: Du bist ein verfickter Loser und ich bin haushoch besser als du.

Bruno wirkte beinah beleidigt, dann jedoch schaute er abermals prüfend durch die Heckscheibe. Er wischte sich einen weiteren Blutstropfen ab, der an seiner Nasenspitze hing.

»He«, sagte Elli, als sich der Rest der Anwesenden im Auto wieder dem Grapschen und Schmusen zugewandt hatte. »Nimm du den Sitz. Wer weiß, wo deine Nase als Nächstes landet, wenn du auf dem Boden bleibst.«

»Nein, ist schon gut. Entschuldige noch mal, dass ich ...«

»Hör auf, dich zu entschuldigen. Und jetzt komm her und setz dich.«

»Das ist dein Platz. Ich kann dich nicht auf dem Boden sitzen lassen.«

Er schien nicht zu begreifen, was sie meinte, verharrte halb kauernd, halb stehend wie eine Art Höhlentroll.

»Du setzt dich auf den Sitz. Ich setz mich auf deinen Schoß.«

»Wenn du einen Ständer kriegst, lass ich ihn dir von unserem alten Kumpel Gene abbeißen«, warf Dirk ein und schüttelte sich vor Lachen. Der Beifahrersitz war abmontiert worden, um Platz für das Fass zu schaffen, das grau und frostig neben Dirk stand. Er tätschelte es, als wäre es sein einziger wahrer Freund auf der Welt.

Bruno setzte sich auf den Sitz, strich den Schritt seiner Jeans glatt und lächelte zu Elli hoch wie ein Teenager, der gleich seinen ersten Lapdance erlebt. Elli schüttelte schnaubend den Kopf, als sie Platz nahm, dann zog sie den Sitzgurt weiter heraus, damit er über sie beide passte.

»Wohin?«, fragte Dirk.

»Je tiefer in den Wald, desto besser«, erwiderte Bruno. »Ich weiß auch nicht, ich hab dieses merkwürdige Gefühl, Mann. Als würden meine Hände und Füße ständig einschlafen. Kennst du dieses Kribbeln?«

»Das passiert dann, wenn das gesamte Blut aus dem Körper in den Schwanz schießt.« Dirk schaute in den Innenspiegel, um zu sehen, ob irgendjemand lachte, doch er erzielte keine Reaktion.

»Kribbeln?«, ergriff Elli das Wort.

»Ich kann’s nicht besser erklären. Jedenfalls hab ich das Gefühl, dass wir noch nicht in Sicherheit sind. Wir müssen tiefer in den Wald.«

»Ich werd dir gleich tiefer geben«, raunte Mack zwischen zwei feuchten Küssen.

»Wovor bist du überhaupt davongerannt? Wer hat das mit deinem Gesicht gemacht?« Elli entspannte sich ein wenig, um die Schmerzen in ihrem Kreuz zu lindern. Dabei spürte sie den Druck einer leichten Wölbung von unten am Hintern, beschloss jedoch, keine große Sache daraus zu machen.

Bruno starrte aus dem Fenster, schien gar nicht mehr zu bemerken, dass Elli auf seinem Schoß saß, und flüsterte: »Monster.«

Mittlerweile wusste er nicht mehr, wovor er größere Angst hatte. Vor Matilda und den Überresten ihrer Armee männlicher Huren oder vor der Peitschen schwingenden Mutantendomina.

Hätte jemand Bruno vor ein paar Wochen nach seinem schlimmsten Albtraum gefragt, er hätte vermutlich so etwas geantwortet wie: die Nacht mit einer Party im verfluchten Wald mitten im Nirgendwo mit johlenden Verbindungsjungs und hohlköpfigen, Push-up-BHs tragenden Verbindungsflittchen zu verbringen, nachdem er seinen letzten Kurs verbockt hatte und ein weiteres Semester am College festsaß. Im Augenblick jedoch kam ihm das wie ein gottverdammter Vergnügungsausflug nach Disney World vor, bei dem Micky Maus den Bus fuhr.

Ein neuer Gedanke nistete sich in seinem Kopf ein, etwas, worüber nachzugrübeln er bisher noch keine Zeit gehabt hatte. In seiner Badewanne befand sich ein toter Bulle. Und nicht nur ein toter Bulle, sondern ein in Stücke gehackter Bulle, der in seinem eigenen Blut trieb. Fügte man dem zwei weitere Tote in Form von eingeölten Muskelprotzen hinzu, war er vermutlich ziemlich im Arsch, ganz gleich, aus welcher Perspektive man es betrachtete.

Bruno redete sich ein, dass es nicht seine Schuld gewesen war. Dass er sich an die Polizei gewandt hätte, wenn er der Polizei hätte vertrauen können. Aber der letzte Cop, den er lebend gesehen hatte, hatte vornübergebeugt auf seinem Wohnzimmerboden gekniet und auf einem Gummiball gekaut, während ihm Matilda das Arschloch gedehnt hatte.

Vorerst muss ich mich darauf konzentrieren, am Leben zu bleiben. Der Knast ist völlig belanglos, wenn ich zu tot bin, um meine Strafe abzusitzen.

Der Gedanke trug wenig zu seiner Beruhigung bei. Durch sein Gehirn blitzten immer wieder Bilder von der gewaltigen, in Leder gekleideten Frau mit dem Porzellanpuppengesicht und davon, wie sie diese Männer aufgebrochen hatte wie Piñatas. Wie sie ihm davor zugewimmert hatte. Als hätte sie ihn um Erlaubnis dafür gebeten, die Männer in Stücke zu reißen.

»Seht euch das an.« Dirk trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und wippte mit dem Kopf auf und ab, obwohl keine Musik spielte. Er bog ab und verlangsamte die Fahrt. Die Scheinwerfer waren immer noch ausgeschaltet, doch Bruno konnte vor ihnen irgendetwas funkeln sehen. Wie ein Stück zerknitterter Alufolie im Mondschein.

»Was ist? Ich möcht dann jetzt langsam raus aus der Karre.« Mack zog den Reißverschluss seiner Hose zu und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Kandy und Bella rückten ihre BHs zurecht, strichen ihre Blusen glatt und räusperten sich, als wäre ihnen plötzlich klar geworden, dass sie sich eigentlich schämen sollten.

Mit dem Mittelfinger klopfte Dirk einen Trommelwirbel auf das Lenkrad. Dann schaltete er die Scheinwerfer ein. »Ta-da!«

Sie standen auf einer kleinen Lichtung. Der See lag unmittelbar vor ihnen. Zwar fiel das Ufer steil ab, statt flach ins Wasser zu verlaufen, trotzdem war es ein ziemlich beeindruckender Anblick. Die Bäume rings um sie erwiesen sich als hoch und dicht, was Bruno ein Gefühl von Sicherheit vermittelte. Zumindest so sicher, wie er sich im Augenblick zu fühlen hoffen durfte.

Das Kribbeln kam und ging, und als Dirk den Parkgang einlegte und den Motor abstellte, setzte es wieder ein. Wie eine Million Ameisen, die ihn mit Federn statt Zangen bissen.

Wie zu erwarten, johlte Mack ausgiebig, als wäre das sein Paarungsruf. Er rollte sich über den Hintersitz und klappte den Kofferraumdeckel auf. Kandy und Bella, die beide mit ihm johlten und freudig quiekten, hetzten hinter ihm her, als er auf den Abgrund zurannte.

»Ihr zwei Penner helft mir mit dem Fass«, befahl Dirk den beiden Typen, die bereits allein in der mittleren Sitzreihe saßen.

Ihre Herzensdamen hatten sie in dem Moment verlassen, als Dirk den Wagen geparkt hatte. Zusammen, die Arme eingehakt, schlenderten sie auf die Klippe zu. Noch im Gehen zogen sie sich ihre T-Shirts über die Köpfe. Darunter kamen Bikinioberteile zum Vorschein.

Bruno streckte die Hand aus, um seine Tür zu öffnen, nach wie vor mit Elli auf dem Schoß. Bisher hatte sie keine Anstalten gemacht, aufzustehen oder auszusteigen, daher dachte er, sie wartete vielleicht darauf, dass er es tat. Als er die Finger um den Türgriff legte, streckte sie den Arm aus, legte die Hand über seine und schüttelte den Kopf. Erst da wurde ihm bewusst, wie blutig seine Haut immer noch war.

Elli beobachtete, wie Dirk und die beiden Typen das Fass zur Klippe hievten. Sie wartete immer noch, als die jungen Männer zurückkamen, um den Mülleimer voll Eis sowie die Becher zu holen.

»Fast fertig«, verkündete Dirk, der den Kopf hinten in den Wagen steckte. Dann streckte er die Zunge heraus. »Ich lass euch zwei Turteltäubchen mal allein.«

»Beeil dich besser. Ein kräftiger Windstoß könnte deine Schlampen geradewegs von der Klippe wehen – die haben leider gar nichts in den Köpfen, was sie beschweren könnte.« Elli zog eine Augenbraue hoch. Sie sah dabei verdammt sexy aus.

»Netter Spruch. Also, ich verlange von euch beiden, dass ihr ein wenig Spaß habt.« Damit schloss Dirk die Tür und ging davon.

Bruno kicherte und verlagerte die Haltung, als er spürte, wie sein Schwanz anzuschwellen begann. »Dein Bruder ist ...«

»Grundsätzlich in Ordnung«, beendete Elli den Satz für ihn. Kaum befanden sich ihr Bruder und die anderen weit genug entfernt, streckte sie die Hand aus und löste den Gurt, hopste von seinem Schoß und nahm stattdessen auf einem der nunmehr freien Sitze Platz. »Also, was zum Teufel ist los mit dir? Du bist mit irgendwas zugedröhnt, richtig? Ich weiß, dass du Zeug vertickst, also versuch gar nicht erst, es zu leugnen. Hast du was eingeworfen? Du warst deprimiert wegen deiner versauten Abschlussprüfung, also hast du dir irgendwelche Scheiße reingezogen, um die Anspannung abzubauen, stimmt’s? Bitte sag mir, dass es das ist.«

Bruno zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, aber nein. Ich bin von nichts high. Und auch nicht verrückt.«

»Und würde ein Verrückter zugeben, dass er verrückt ist?«

»Oh. Das hab ich bis jetzt noch nie gehört.«

»Na schön. Ich kauf dir ab, dass du nicht meschugge bist. Dass du auf Drogen bist, glaube ich trotzdem noch immer, aber wenn du’s lieber leugnen willst, auch gut. Sagen wir, du bist wirklich nicht stoned. Wieso um alles in der Welt bist du dann über und über voll Blut aus dem Wald gerannt gekommen? Du bist völlig zerschnitten und zerkratzt. Und was soll das von wegen Monstern?«

»Woher weißt du, dass ich meine Abschlussprüfung versemmelt habe?«

»Scheiß auf deine Abschlussprüfung. Das Thema sind Monster.« Kaum hatte sie es ausgesprochen, zog sie ein Gesicht, als hätte sie nie damit gerechnet, dass diese Worte je aus ihrem Mund kommen könnten. »Wenn du Monster sagst, meinst du böse Kerle, richtig? Okay. Ich glaube, jetzt hab ich’s. Du hast deinen Drogendealerkapo verarscht. Ja, ich seh’s dir am Gesicht an, dass ich richtigliege.«

»Das ist das Gesicht, das ich mache, wenn jemand ›Drogendealerkapo‹ sagt.«

»Ach, halt die Klappe. Aber ich habe recht, oder?«

»Ich glaube wirklich nicht, dass du das wissen willst. Und so einfach ist es auch nicht.«

»Was denn, denkst du etwa, ich will lieber mit denen da abhängen?« Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter.

Die Jungs draußen hielten Aurora an den Beinen, als sie im Handstand aus dem Fass trank. Dabei feuerten sie das Mädchen entschieden zu laut an.

»Durch diese verfluchten Idioten werden wir noch umgebracht«, murrte Bruno und setzte erneut dazu an, auszusteigen, um die anderen aufzufordern, verdammt noch mal die Klappe zu halten.

Elli packte ihn am Knie und hielt ihn zurück. Er blickte auf ihre Hand an seinem Bein, dann in ihr Gesicht, das sich leicht rosa verfärbte, bevor sie die Hand jäh entfernte.

»Wir sind nicht fertig. Da ist noch etwas. Du erwähnst andauernd, dass wir sterben werden.«

»Das ist es doch, was Monster tun, oder? Sie bringen herumhurende Collegestudenten um.«

»Mir wurde immer gesagt, Monster kriegen einen bloß.«

»Und was denkst du, was mit kriegen gemeint ist? Fangen spielen?«

»Egal. Du wirst mir jetzt alles erzählen. Nicht weil du musst, sondern weil es mich interessiert. Weißt du was? Du musst doch. Du musst, weil ich’s nicht mag, wenn mir jemand sagt, dass mich Monster kriegen werden, und es dann nicht erklärt.«

»Töten. Nicht kriegen. Schon vergessen?«

»Das ist jetzt echt kein Scherz, Mann.«

Bruno seufzte, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und nickte. Dann erzählte er ihr alles. Er fing mit seiner Mutter und dem Grund dafür an, dass er tat, was er nun mal tat, und endete mit dem Moment, als er aus dem Wald auf sie zugelaufen war, blutig und kurz davor, den verdammten Verstand zu verlieren.

Als er fertig war, stellte er überrascht fest, außer Atem zu sein. Das Kribbeln in seinen Händen und Füßen setzte wieder ein, diesmal stärker. Er schüttelte sie, was jedoch nicht dabei half, das Gefühl zu vertreiben. Elli saß mit den Ellbogen auf den Knien da und starrte ausdruckslos auf den Boden.

»Heilige Scheiße.« Ihr Blick wurde konzentriert und sie setzte sich aufrechter hin. Starrte Bruno direkt in die Augen. Es war jene Art von langem, intensivem Blick, mit dem man jemanden bedenkt, bevor man ihn küsst. Und einen flüchtigen Moment lang dachte Bruno, genau das würde geschehen. Dann jedoch knautschte sich ihre Stirn zu einem Stapel von Runzeln zusammen und ihre Brauen senkten sich, bedeckten ein Viertel jener strahlenden Augen. »Du meinst das verdammt noch mal ernst. Verfickte Drogendealer versuchen, dich umzubringen, und du bist hier, um mit uns abzuhängen, während sich diese Idioten da draußen besaufen. Bist du blöd oder so?«

»Muss ich das wirklich beantworten?«

»Nein. Nein, musst du nicht. Weil’s offensichtlich ist, oder? Sogar die Leute in China wissen, wie blöde du dich gerade verhältst.«

»China?«

»Du weißt schon, was ich meine!« Schnaubend schüttelte sie den Kopf. Ihr Mund stand offen, während ihr die Gedanken wie Rennpferde durch den Kopf rasten. »Diese große ... Lady. Mit der Puppengesichtsmaske. Scheiße, mir ist schon unheimlich, das nur laut auszusprechen.«

»Kann ich nachvollziehen.«

»Woher weißt du, dass sie nicht für diese Matilda arbeitet?«

»Hab ich dir doch gesagt. Sie hat Matildas Leute vor meinen Augen umgebracht. Und wenn ich sage, dass diese Kerle groß waren, dann rede ich von ›groß‹ wie Schurken in Comicbüchern. Sie hat sie auseinandergenommen, als hätten sie aus Legosteinen bestanden. Ich konnte ihnen an den Gesichtern anmerken, dass sie die Frau noch nie zuvor gesehen hatten.«

»Wer um alles in der Welt ist sie dann?«

»Keine Ahnung. Sie ist einfach aus dem Nichts erschienen. Zuerst war ich froh, sie zu sehen. Ich meine, immerhin haben mich diese Typen aufgemischt. Von da stammt auch das Blut. Na ja, davon und von dem toten Cop, dessen Blut über meinen Badezimmerboden verteilt ist. Sie haben gesagt, sie würden mich zu Matilda bringen, damit sie mich foltern kann. Sich Zeit mit mir lassen. Ohne die zerlumpte Domina würde ich also wahrscheinlich in diesem Augenblick die Heimversion von Hostel mit Matilda spielen.«

»Vielleicht solltest du gar keine Angst vor ihr haben.«

»Echt jetzt? Die war wie ein weiblicher Hulk ganz in Leder. Ich habe mit angesehen, wie sie einen Mann an einem Baum in zwei Hälften gebrochen hat. Ich musste umherfliegenden Organen ausweichen, die sie sich über die Schulter geworfen hat wie verfluchten Obstkuchen am Weihnachtsmorgen.«

»Okay. Sie hat also zwei Männer umgebracht. Aber die waren Monster, oder?«

»Als ich ›Monster‹ sagte, habe ich damit die wörtliche Definition gemeint. Keiner dieser Männer war ein echtes Monster, okay?«

»Egal. Sie waren verfickte Gangster, die dich fertigmachen und verschleppen wollten, und danach wärst du gefoltert und ermordet worden. Richtig?«

»Na ja ... schon.«

»Klingt für mich, als hätte sie versucht, dich zu retten.«

Bruno dachte darüber nach, wie ihm die puppengesichtige Frau zugemurmelt hatte. Als hätte sie versucht, zu reden, aber nie gelernt, wie es ging. Und er hatte nur auf die Männer zeigen und ihr sagen müssen, dass sie ihn töten wollten. Mehr war nicht nötig gewesen. Danach hatte sie die Gangster auseinandergenommen.

»Ich habe eher in der Richtung gedacht, dass sie diese Typen zuerst erledigt hat und ich der Nächste gewesen wäre.«

»Wie kommst du darauf?«

»Ich bin verdammt noch mal weggerannt!«

»Genau. Du bist weggerannt, bevor du herausgefunden hast, worin ihre Absicht wirklich besteht.«

Bruno schüttelte den Kopf und lachte. »Hör dir doch mal selbst zu, was du da redest. Ist leicht für dich, das im Nachhinein zu sagen, während du hier sitzt und mit mir plauderst. Hätte ich etwa dort stehen bleiben und warten sollen, um herauszufinden, ob sie mich verstümmeln wollte oder nicht? Habe ich erwähnt, dass sie einen der Männer mit bloßen Händen ausgeweidet hat?«

»Pass auf. Du kannst nicht zur Polizei gehen. Du kannst nicht in deine Bude. Und vertrau mir, du kannst dich auch nicht auf meinen Bruder oder irgendeinen seiner Verbindungsfreunde verlassen. Was für Möglichkeiten bleiben dir dann noch?«

Darauf hatte Bruno keine Antwort parat.

»Mir scheint, deine persönliche Monsterleibwächterin ist eigentlich voll der Wahnsinn.«

»Jetzt bist du es, die sich verrückt anhört.« Wieder schaute er aus den Fenstern und bemühte sich, das Kribbeln zu ignorieren. »Ich denke, für heute Nacht sind wir hier in Sicherheit. Schon klar, das ist nicht viel, aber mehr habe ich im Augenblick nicht. Morgen muss ich mir etwas einfallen lassen.«

»Wir.«

»Was?«

»Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Ich kenne sonst niemanden an dem verfluchten College und mein Bruder ist demnächst weg. Dieses Semester bin ich in jedem gottverdammten Kurs durchgerasselt. Und jetzt habe ich plötzlich die Möglichkeit, vielleicht einem waschechten Monster zu begegnen. So einfach wirst du mich nicht mehr los.«

»Hast du vergessen, dass ich nicht mal zurück in meine Wohnung kann? Ich weiß nicht, ob es so schlau wäre, sich für Kurse im nächsten Semester einzutragen. Und irgendwie ist mir ziemlich unheimlich, wie gut du das alles aufnimmst.«

»Wie du meinst. So oder so, wir kriegen das schon hin. Gemeinsam. Ich will dir helfen.«

Bruno nickte und lächelte. Trotz allem, was vor sich ging, trotz allem, was sich bisher in dieser Nacht abgespielt hatte, vermittelte ihm irgendetwas an Elli das Gefühl, dass letzten Ende alles gut werden könnte. Als würde ihnen vielleicht wirklich zusammen etwas einfallen. Und unwillkürlich fragte er sich, was die Zukunft für sie beide bereithalten mochte, sobald die Gefahr erst gebannt wäre. Bruno wusste, dass er damit hoffnungslos zu weit vorgriff, doch das kümmerte ihn nicht. Der Gedanke sorgte dafür, dass er sich besser fühlte, und entfachte einen zarten Hoffnungsschimmer in ihm.

»Und was jetzt?«, fragte er, bevor er durch das Fenster in Richtung der Klippe deutete. »Meinst du, ich sollte ihnen davon erzählen?«

Die Jungs standen einschließlich Dirk Seite an Seite am Rand der Klippe und pinkelten über den Abhang. Die Mädchen hopsten um das Fass wie Indianerinnen, die einen Regentanz vollführten.

»Herrgott noch mal. Sieh sie dir bloß an. Und das sind diejenigen, die das College abschließen, während wir Versager in der Ecke hocken und uns über Gangster und Monster unterhalten.«

»Ich bin bei einem Kurs durchgefallen. Bei einem.«

»Sag ihnen besser nichts. Wir wissen beide, wie sie reagieren würden. Höchstwahrscheinlich würden sie bloß noch lauter und unausstehlicher werden.«

»Was, wenn irgendetwas passiert? Was, wenn jemand aufkreuzt?«

»Dann werden sie keine andere Wahl haben, als es zu akzeptieren, richtig? Vorerst sind sie ahnungslos und in Sicherheit. Das muss im Moment reichen. Zumindest bis uns etwas Besseres einfällt.«

»Was zum Beispiel?«

Elli kaute auf dem Daumennagel und runzelte die Stirn, als dächte sie angestrengt nach. Dann ergriff sie seine Hand und führte ihn aus dem Auto in Richtung des Waldes. »Komm mit.«

»Warte ... Wo zum Geier willst du hin?«

Die Gruppe musste gesehen haben, wie Elli ihn mit sich schleifte, denn alle fingen zu johlen an und riefen anfeuernd ihre Namen. Dirk merkte irgendetwas darüber an, dass sie das Baby nach ihm benennen sollten.

»Verdammte Schwachköpfe«, murmelte Elli bei sich. Ihr Griff verstärkte sich um Brunos Hand und sie beschleunigte die Schritte, als sie sich den Weg zwischen den Bäumen hindurch bahnte.

»Im Ernst jetzt, wo bringst du mich hin?«

»Ich kenne jemanden, der uns vielleicht helfen kann.«