Was in des Dammes tiefer Grube

die Hand mit Feuers Hilfe baut,

hoch auf des Turmes Glockenstube,

da wird es von uns zeugen laut.

Noch dauern wird’s in späten Tagen

und rühren vieler Menschen Ohr,

und wird mit dem Betrübten klagen

und stimmen zu der Andacht Chor.

Was unten tief dem Erdensohne

das wechselnde Verhängnis bringt,

das schlägt an die metallne Krone,

die es erbaulich weiter klingt.

(Friedrich Schiller, aus »Das Lied von der Glocke«)

Loch in Erde,

Bronze rin,

Glocke fertig,

Bim, Bim, Bim.

(Volksmund)

cover

Impressum

Deutsche Originalausgabe

© CulturBooks Verlag 2014

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Jan Karsten

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Umsetzung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 3.2.2014

ISBN: 978-3-944818-33-7

Über das Buch

Eine Dorfjugend in den 70er Jahren und ein dunkles Geheimnis: Karg ist das Land im Koog an der Nordseeküste hinterm Deich. Die Bewohner reden nicht viel, und wenn, dann auf Platt. Auch Matthias’ Vater ist wortkarg und streng. Ganz im Gegensatz zu dem versponnenen 14-Jährigen, der zwar bei den Arbeiten auf dem Hof hilft, beim Dreschen und bei der Kohlernte, der sich aber mit der Enge des Alltags im Koog nicht abfinden kann. Als er in der Scheune des elterlichen Hofes eine rostige Glocke findet, kommt er einer lange vergrabenen, aber längst nicht vergessenen Geschichte auf die Spur. Und dann taucht auch noch die hübsche Sabine im Dorf auf. Matthias lernt ein weiteres Geheimnis kennen: das der ersten Liebe.

Der Hintergrund

Dieksanderkoog, Schauplatz der Erzählung, hat eine bewegte Geschichte: »Adolf-Hitler-Koog« hieß dieser 1935 eingeweihte Musterkoog der Nazis bis 1945. Die Siedler waren handverlesen und bis auf einen Mitglieder der NSDAP, viele von ihnen schon seit Jahren. Den Mittelpunkt des Koogs bildete die Neulandhalle, die statt der sonst üblichen Kirche gebaut worden war. Neben der Halle hing eine große, eiserne Glocke in einem hölzernen Glockenturm. Diese Glocke verschwand auf mysteriöse Weise in der Nachkriegszeit … – wurde sie zerstört oder gar von einigen Bauern des Dorfes versteckt? Thies Thiessen nimmt diese Geschichte als Blaupause für seine charmante und eigenwillige Erzählung, die zeigt, dass manche Dinge, die gut vergraben erscheinen, auch Jahrzehnte später nicht vergessen sind.

Über den Autor

Thies Thiessen wurde 1958 in Marne/Holstein als Bauernsohn geboren. Nach seinem Graphik-Design-Studium war er Art Director und Texter in Werbeagenturen, außerdem einige Jahre Dozent für Konzeption und Ideenfindung. Heute schreibt und zeichnet er freiberuflich.

Thies Thiessen

Die Glocke: Das alte Lied

Novelle

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

TEIL 1

1

Er wusste ja nicht, dass er schlechte Augen hatte. Alle ganz kleinen Kinder haben schlechte Augen. In den ersten Wochen ist die Mutter ein unscharfes, freundlich-weiches Gesicht, wie aus Watte, ohne störende oder gar Angst machende Kanten und Spitzen, Vaters Stimme brummt, aber es klingt gemütlich, man kuschelt sich gern zwischen die warmen Wölbungen aus beginnendem Doppelkinn und fleischiger Schulter, man weiß es nicht besser, man sieht schlecht. Und Matthias sah noch lange schlecht. So blieb er lieber in der Nähe von allem, was er kannte, als sich allzu weit hinaus zu trauen, wo, wie er schnell gelernt hatte, Gefahren drohten. Das konnte eine Zementfliese im Garten sein, die ein paar Millimeter über die anderen hinausragte, die unterste der Sprossen, über die er auf den Trecker hatte klettern wollen, die aus seiner Sicht eine entscheidende Winzigkeit niedriger hing als aus der akzeptierten, oder einer der Rollschuhe, die ihm seine Tante Lene geschenkt hatte, der genau da lag, wo er nicht liegen sollte, weil Matthias ihn eben da hatte liegen lassen. Dabei kam zum blutenden Knie immer mindestens »Pass doch auf, Hansguckindieluft!«, zum aufgeschlagenen Kinn ein nicht mal unfreundliches »Du Töffel!«, und den blöden Sturz über den blöden Rollschuh kommentierte Vater mit dem immer gern gemachten Scherz, bei Matthias’ Geburt wäre wohl aus Versehen das Kind weggeschmissen und die Nachgeburt aufgezogen worden. So lernte er früh, dass jedes Pech doppelt bestraft wird. Rollschuh oder richtig Trecker fahren sollte er nie lernen.

Spätestens das machte seinen armen Eltern Sorgen. Er war so gar kein Bauer. Im Schweinestall hatte er Angst, weil er vor allem das aufgeregte Schreien und Quieken hörte, eher die Scheiße und die Hitze roch, als dass er die niedlichen Ferkel hätte niedlich finden können. Die Kühe waren riesig und konnten, wer weiß, auch Bullen sein. Der freie Blick über die weiten, wogenden Getreidefelder, der erst durch die in der Ferne liegenden Deiche aufgehalten wurde, bedeutete ihm nichts – wie hätte er lieben sollen, was er nicht kannte. Wenn seine Eltern ihn mitnahmen auf ihre sonntäglichen Ausflüge mit dem Auto, dann meinten sie, ihm eine große Freude zu machen – wenn es hoch kam, war es eben genau die eine, dass man auch wieder irgendwo anhielt, um ein Eis zu essen. Der Weg dorthin war ihm bestenfalls egal. Es war furchtbar für ihn, mit anzuhören, wenn Mutter vorn nach rechts auf einen Hof zeigte und fragte, wie es denn demunddem ginge, sie hätte so lange nichts gehört. Es war kaum zu ertragen, wenn Vater auf ein Feld wies und meinte, der Weizen sähe gut aus, Hauptsache das Wetter bliebe so. Es war todlangweilig, bis sie durch die Stöpe nach Dieksanderkoog hineinfuhren, wo seine Großeltern ihren Hof hatten – und wo es im Café der Neulandhalle den tollsten Windbeutel der Welt gab.

In unregelmäßigen und immer viel zu großen Abständen schlug Mutter vor, an diesem Sonntag doch mal nicht zum Hof zu fahren, sondern in der Neulandhalle bei den Söths Kaffe zu trinken, sie hätte heute keine Lust auf die ganze große Familie. Und dann murrte Vater ein wenig und Mutter meinte, er sei doch nur deshalb so muffig, weil Skat und Bier mit den Brüdern an diesem Nachmittag ausfielen. Und Mutter jammerte während der Fahrt, wie sehr sie sich auf diesen Nachmittag gefreut hätte und dann hielt Vater auf dem Grünstreifen vor der Neulandhalle und jetzt freute sich auch Matthias. Auf die Schlagsahne, die so fett war, dass er heimlich und ganz zart mit dem Daumennagel die Butter vom Gaumen strich, auf die rote Brause, die er sonst nie trinken durfte, die mit dem Eselchen, der einen Karren voller Obst an einer großen Sonne vorbeizog, aber am allermeisten darauf, aufstehen zu dürfen und durch die Neulandhalle zu spazieren. Denn hier gab es so vieles aus der Nähe zu sehen, wenn er erst – nach der Brause und dem Kuchen – gefragt hatte: »Darf ich aufstehen?«

An den Stirnwänden der etwa vier Meter hohen Haupthalle begrüßte Matthias den großen, wunderschön farbig gemalten Bauern, der seine Saat über einen unendlich langen und breiten Acker warf. Daneben staunte er wieder einmal über die zwei riesig schweren Pferde vor dem altertümlichen Pflug, dann zählte er die Getreidegarben im Arm eines anderen Bauern – vielleicht des Bruders, so ähnlich waren sie sich. Alles war ganz still und wie angehalten für die Ewigkeit, ohne die laute Stimme des Vaters, ohne den Gestank von Kuh- und Schweinestall, den Staub und Lärm von Mähdrescher und Strohpresse. So konnte Matthias sich gut vorstellen, Bauer zu sein. In die Mitte der Wand war ein tiefer und Matthias unheimlich groß erscheinender Kamin eingelassen, auf dem stand ein gemalter Bauarbeiter, der wohl ebenfalls mit den beiden Bauern verwandt war. Schräg darunter wieder einer dieser blonden, kräftigen Männer, der dem anderen eine Bohle hinaufreichte. Dann kam die Tür in die Küche der Neulandhalle und daneben schließlich noch ein weiteres Familienmitglied, ein Fischer auf einem kleinen Boot, der ein gefülltes Netz aus dem wogenden Wasser zog. Matthias überlegte, ob wohl alle Fische Platz finden würden und dass nicht mal sein eigener Vater so stark wäre. Und der war stark.

Dann drehte Matthias sich um, durchquerte den Raum und ging zu der gegenüberliegenden Wand. Hier war ein ihm unendlich groß erscheinendes Bücherregal aus Eichenholz in die Wand eingelassen. In seiner Mitte, ungefähr auf Augenhöhe der großen, ragte ein kleines Podest, auf dem meist eine große Blumenvase stand, und irgendwie nicht dahinpasste. All das interessierte ihn auch eigentlich nicht, aber es bereitete ihm jedes Mal einen kleinen, angenehm spannungslosen Moment vor dem eigentlichen Höhepunkt der Haupthalle: Ausgestopfte Tiere waren im linken, neben dem Eingang liegenden Karree aufgestellt. Da war ein leicht staubiggrauer Storch, ein kleines Kaninchen mümmelte, ein zweites war im Hoppeln eingefroren und eine kleine Igelfamilie machte sich immer noch auf den Weg zum Kamin. Ein Fuchs und eine Wildkatze verfolgten wütend ein Tier, das vielleicht doch noch hatte fliehen können, denn wo sie hineilten, war nur die Wand. Und dann stand da ein großer, ausgewachsener Rehbock so nah an dem groben Tau, das als Absperrung diente, dass Matthias es hätte berühren können. Einmal hatte er es getan: Kratzig war das Fell, hart und kalt die Nase, die Augen waren wie aus Glas – seitdem gruselte ihn vor dem kleinen starren Streichelzoo, der ihn doch immer aufs Neue verzauberte.

Danach rannte er zurück zum Tisch der Eltern und fragte, ob er rausgehen dürfte. Und sein Vater bezahlte, nahm ihn bei der Hand, ging mit ihm durch den Haupteingang hinaus, bog nach links ab zur Seitenfront der Neulandhalle – und da stand der Glockenturm. Vier grob entrindete Eichenstämme standen hoch aufgerichtet auf dem tatsächlich höchsten Punkt der Wurt und trugen einen massigen, hölzernen Querbalken, an dem die schwere, düster-rostfarbene Glocke hing. Und hing. Vater wies hinauf und sagte, diese Glocke würde immer bei großen Sturmfluten läuten, um die Menschen im Koog zu warnen, »damit sie die Stöpen dicht machen, damit sie mithelfen bei der Deichsicherung, und damit sie die Papiere und die Sitzgarnituren auf den Boden bringen«. Dann schaute Mutter halb vorwurfsvoll, halb betrübt und sagte zum Vater, dass Matthias das doch gar nicht verstünde und zu Matthias, dass da nämlich manchmal ganz viel Wasser am Deich wäre, viel mehr als sonst, bei Sturm nämlich. Vor einem Jahr wäre es auch wieder so gewesen, eine furchtbare Sturmflut und welche Angst sie da gehabt hätten und Gott sei Dank wäre der Deich nicht gebrochen. Und Matthias schaute weiter auf das so weit oben hängende Stück Eisen und war doch erst fünf und verstand es wirklich nicht.

Noch im gleichen Jahr war es anders. Sie waren wieder einige Sonntage bei den Großeltern gewesen, als Mutter wieder einmal vorschlug, man sollte »heute doch mal nicht zum Hof, sondern schön ein bisschen rumfahren und danach zur Neulandhalle«. Wie groß die Glocke war, als sie nun mit einem Mal am Boden lag. »Den Turm mussten sie abreißen, die eine Eiche war faul.« Aha. Matthias war enttäuscht, aber auch beeindruckt. So riesig hatte er sich die Glocke wirklich nicht vorgestellt, sie war fast zwei Mal so hoch wie er. Eine Schriftzeile stand darauf in erhabenen, eigenartig wie zerbrochen zuckenden Buchstaben, die er so ähnlich aus dem alten Max-und-Moritz-Buch seiner Großeltern kannte. Mit den Fingern zeichnete er auch das Kreuz mit den Zacken nach, das deutlich größer und noch viel erhabener über der Schrift stand. Und gerade, als ein älterer Herr ihn dabei fotografierte, sagte Vater knapp, nun wolle man aber los.

Ein Jahr später war die Glocke ganz verschwunden. Kein Turm mehr da. Keine Glocke. Und irgendwann auch keine Erinnerung mehr daran. Nachdem das Café in der Neulandhalle zugemacht hatte und auch die nachfolgende Jugendherberge nicht genügend Gäste finden konnte, stand der vierkantige Bau auf der Wurt schon viele Jahre leer. Inzwischen hatte der Vater den elterlichen Hof übernommen. Die Familie wohnte nun selbst im Dieksanderkoog. Matthias hatte seine erste Brille bekommen. Und er überlegte hin und wieder, ob er denn die Glocke tatsächlich damals gesehen hatte, ob sie überhaupt je da gewesen war, und er fragte sich, woher der ständig wiederkehrende Traum kam mit dem Bild eines unendlich hohen, hölzernen Turms, an dessen Spitze sich ein dunkler Kreis wölbte, mit einem ungewöhnlichen Kreuz in der Mitte, für das er zwar mittlerweile den richtigen Namen wusste, aber nicht, ob es auch in seiner Wirklichkeit einmal existiert hatte. Schließlich durfte er seinen Augen nicht trauen.

Und je mehr er das lernte, desto mehr faszinierte ihn die Idee, dass vielleicht alles, was er sah, nur für ihn da war. Also spielte er oft damit, die Brille abzunehmen, durchs Dorf und über die Felder zu spazieren und sich von einer Wirklichkeit überraschen zu lassen, die ganz und gar ihm gehörte. Regelmäßig begrüßte er den kalbsgroßen braunen Hund, der immer gleich starr an der baumlosen Straße unterm Deich stand und er wusste doch ganz genau, dass es nur ein hölzernes Zaungatter für die Schafe war, die hier von Frühling bis Winter grasten. Bei Vollmond freute er sich, dass ihm die Männer in den Bäumen vor seinem Fenster zuwinkten, und jedes Mal war er neu enttäuscht, wenn ein schönes, watteweich konturiertes Gesicht sich aus der Nähe als eines der vielen zeigte, die so schön und leer und freundlich dann auch niemals waren. Seine Eltern fanden, er wäre ein zu weiches Kind. Und Matthias war klug genug, ihnen nicht zu verraten, wie er sie sah, seit er sie sah.

2

Er glaubte gern, dass die Eltern nur sein Bestes wollten: In seinem ersten Jahr auf dem Gymnasium war er plötzlich nicht mehr Klassenbester und sie hatten gleich gewusst, dass er wohl eine Brille bräuchte. Stolz erinnerten sie ihren Sohn an die anfänglichen Sensationen, als er sie zum ersten Mal getragen hatte. Matthias hatte hinten auf dem Rücksitz gesessen und nach oben aus dem seitlichen Fensterdreieck geschaut: Die hohen Masten am Straßenrand waren jetzt durch hauchdünne Drähte verbunden, statt grüner Wolken trugen die Bäume Unmengen von Blättern, die an dünnen Zweigen hingen und die wieder an dickeren Ästen und so fort bis zum Stamm. Der Horizont war eine scharfe, wie aus farbigem Papier geschnittene Grenze von hellem Grün zu hellem Blau. Schade war, dass die Wolken nun nur noch Wolken waren, und das hatte er ihnen auch nicht erzählt – vielleicht spürte er, dass seine Eltern ein weiteres Mal von ihm enttäuscht gewesen wären. Immerhin würde er von nun an wohl wieder besser in der Schule, da ihm alles klarer, wenn auch nicht schöner werden sollte.

Er hatte allmählich begriffen, dass er nur Dingen vertrauen konnte. Dinge waren einfach. Sie waren da und duldeten, dass man sich die Zeit nahm, sie kennenzulernen. Sie bestraften ihn nicht, wenn er sie nicht mochte oder sich nicht für sie interessierte. Er konnte sie in die Hand nehmen und betasten, er konnte sie drücken oder kneifen oder streicheln oder liegenlassen, es gab nichts, was er mit ihnen falsch machen konnte. Dinge liebten nicht und wollten keine Liebe. Matthias war ihnen vollkommen gleichgültig. Wenn er sich an ihnen verletzte – wie vor Jahren an dem offen herumliegenden Rasiermesser bei Papas Frisör – wusste er, dass sie es nicht persönlich meinten. Und weil sie nichts fühlten, tat es auch ihm nicht weh, wenn er sie zerbrach. Schon bei Tieren war das anders. (Abgesehen vielleicht von Hühnern, Kühen und Schweinen. Die waren für ihn so etwas wie Dinge, da nur fürs Verkaufen und Kaufen, fürs Eierlegen, Melken, Schlachten, Aufessen vorgesehen. Wer hatte schon eine Kuh gern, ein Huhn oder ein Schwein.)

Matthias hatte sich nur ein einziges Mal ein eigenes Tier gewünscht. Das war noch auf dem alten Hof gewesen, und Matthias musste noch sehr klein gewesen sein, denn an ihren Rändern verschmolz die Erinnerung an den kleinen Igel immer wieder mit der an den Streichelzoo in der Neulandhalle. Es musste irgendwann im Sommer gewesen sein. Die Ställe waren leer, das Vieh draußen, einer dieser faden Vormittage, wenn die Nachbarstochter im Kindergarten war. Mutter hatte mal wieder gesagt, er würde noch zum Stubenhocker, also stromerte Matthias über den Hof, vorbei an den leeren, schwarz gestrichenen Koben und der Ferkelbox mit den staubig grauen Rotlichtlampen, vorbei an dem stinkenden, blaubräunlich spiegelnden Jaucheteich, der im Herbst und Winter Misthaufen war und durch die hintere Tür in den Rinderstall, wo er gelangweilt die eine oder andere Tränke drückte, bis sie überlief. Ja, es musste ein Vormittag gewesen sein, denn er konnte sich auch erinnern, dass der Staub im Stall leuchtete, überall da, wo das Sonnenlicht seinen Weg durch die kleinen, dreckigen Fenster gefunden hatte. Dann stöberte er noch ein bisschen in der Scheune herum, vielleicht wollte er gerade noch hoch auf den Dachboden, da sah er den kleinen Igel im Dunkeln kauern, kleiner als eines von Mutters Wollknäueln, am Fuß eines der Balken, die das Dach hielten. Genau, es war am Tag vor seinem Geburtstag, seinem fünften vielleicht, oder seinem sechsten. Denn er fragte seine Mutter immer wieder »Kann ich den Igel zum Geburtstag behalten?« und sie sagte »erst mal sehen, ob wir ihn durchkriegen, er ist ja noch so klein« und »so klein und kann schon piksen« und »wo wohl seine Mutter ist« und »hoffentlich hat er keine Läuse. Die haben immer Läuse.«

Am nächsten Tag lebte der Igel immer noch. Und nachdem Matthias ihn seinen Geburtstagsgästen gezeigt hatte, wurde Verstecken gespielt. Matthias sollte als Erster suchen.

»Einzweidreivier Eckstein, alles muss versteckt sein, hinter mir und vorder mir«, sang er gerade, als Frauke aus dem hinteren Teil des Stalls rief, sie hätte auch einen Igel gefunden. Die Mutter! Sie lag in dem ungefähr achtzig Zentimeter tiefen Betongeviert, aus dem die Tiere im Winter mit vergorenen Kraut gefüttert wurden. Auf dem Rücken und mit blutiger Nase, aber immerhin, sie lebte. Vorsichtig reichte Frauke das verletzte Tier nach oben, und wie in Zeitlupe trug Matthias es in die Waschküche, zu ihrem Baby.

Später, Frauke, Michael und Gesche waren schon wieder nach Haus, Matthias hatte seinen Schlafanzug an, da ging er noch einmal nach den beiden Tieren gucken. Die Mutter war schon steif, hart und kalt ihre Nase, ihre Augen stumpf. Matthias nahm das Kleine und ging ins Wohnzimmer zu seinem Eltern: »Jetzt müssen wir ihn aber behalten!« Und wieder sagte seine Mutter: »Ja, wenn wir ihn durchkriegen.«

Am nächsten Morgen war die Igelmutter weg, als wäre sie nie da gewesen. Bestimmt hatte sein Vater das Tier beerdigt, sagte sich Matthias und er war froh, dass da jetzt im Sommer kein Misthaufen hinterm Haus lag. Gleichzeitig sorgte er sich um das Kleine: Für den Nachmittag und Abend war die Familie eingeladen, und wer sollte sich da um sein Igeljunges kümmern. Mutter rief Tante Lene an. Die lebte mit ihrem Mann nur drei Höfe weiter, also bestimmt zwei Kilometer, und versprach, nachmittags mal reinzuschauen und dem Kleinen einen Teller Milch hinzustellen. Erst spät am Abend kam die Familie wieder nach Haus, Matthias, schlafend auf den Armen seines Vaters, wurde sofort ins Bett gelegt, ohne dabei zu erwachen. Am Morgen darauf war auch der kleine Igel weg. Einfach nicht mehr da, wie die niedrige Obstkiste und das alte Sofakissen, wie die Untertasse mit der Milchlache und den Apfelschnitzeln. Papa erklärte ihm, dass das Leben nun mal so wäre und es tat weh. Es sei doch nur ein Igel, sagte Papa. Mama sagte zu Papa, er solle doch bitte mal den Mund halten. Und es tat noch lange weh, selbst Jahre später, wenn er daran zurückdachte, schmeckte er das Salz der Träne, die ihm damals über die Pausbacke in den Mund gelaufen war. Ein Igel war kein Ding, und selbst ein toter, steifer Igel war etwas ganz anderes als ein ausgestopfter.

Nein, er wollte kein Tier mehr haben, wenn Mutter auch noch so schwärmte von dem Dackel, der in die Ehe mitgekommen war, und den Matthias nicht mehr kennengelernt hatte.

Den nächsten hatte er bereits erlebt, aber der kam nicht wieder, nachdem der Nachbar ihn in seinem Hühnerstall erwischt hatte. Danach war Hundepause.

Erst als sie auf Großvaters Hof wohnten, gab es wieder einen, denn Vater machte seinen Jagdschein, und ein Jäger brauchte einen richtigen Jagdhund, weshalb Waidmann kam. Freundlich sabbernd, mit kurzem rauen und immer struppigen Fell wurde er von allen gleich ins Herz geschlossen, auch Vater sprach immer wieder davon, was das doch für ein gutmütiger, fröhlicher Hund wäre. Natürlich musste erzogen werden, denn wenn er erst mal hinter einem angeschossenen Hasen über die Felder rannte, hielt ihn kein noch so lautes Rufen auf. Zum Glück gab es Teletack. Das bestand aus einem kleinen Empfänger mit einer kräftigen Batterie, der dem Hund ans Halsband gegürtet wurde, und aus einem Sender, der auf Knopfdruck einen Impuls schickte, worauf der Hund einen kurzen, heftigen Stromschlag bekam. So lernte Waidmann, dass es eine unsichtbar strafende, auch mit der feinsten Nase nicht zu ahnende Macht gab, die dem Vater von Matthias zur Seite stand. Matthias war verwundert, dass Vater trotzdem glaubhaft sagen konnte, er würde diesen Hund lieben. Nun ja, seine Liebe war streng. Er schoss streunende Katzen aus dem Geäst, weil er die Singvögel in den Mirabellenbäumen schützen wollte. Eben deshalb auch fing er Elstern in einer Falle, drehte dem Lockvogel den Hals um und brachte die Falle zu einem anderen Bauern, wo die gerade gefangene Elster ihrem Schicksal als Köder nicht entkam. Weil er Angst um seinen Sohn gehabt hatte, als der, kaum vier Jahre alt, schreiend hinter den wegfahrenden Eltern her auf die Straße lief, verprügelte er ihn mit dem Brett einer Gemüsekiste. Ja, Vaters Liebe war streng, gerecht fand Matthias sie nicht.